Kapitel 58

Das Gefühl, über Wolken zu gleiten, war beklemmend. Asko hielt die Augen inzwischen die meiste Zeit geschlossen. Es gab ohnehin nichts zu sehen. Nebelschwaden. Zuerst hatte er angenommen, dass die unterschiedlichen Weißtöne die Ankunft eines anderen Wesens ankündigten. Inzwischen hatte er diese Hoffnung aufgegeben.

So es überhaupt Hoffnung war und nicht Angst. Er befand sich in einem unfassbaren Reich der Fey, und wer immer hier ankommen mochte, wäre vermutlich kein Mensch und würde ihm auch nicht zur Flucht verhelfen.

Er hatte versucht aufzustehen. Doch es war unmöglich ohne Hilfe, ohne Krücken und ohne Boden. Der Gedanke, über Wolken zu gehen, war beängstigend. So machte es vielleicht keinen Unterschied, ob er stehen konnte oder nicht. Gekrochen war er, hatte sich zu dem Ort geschleppt, an dem die beiden „Damen“ seiner Erinnerung nach verschwunden waren. Doch da war nichts, keine Öffnung, keine Tür. Nur mehr weißes Nichts.

Wie lange er schon an diesem Ort war, wusste er nicht. Er hatte Hunger. Doch der Hungertod war seine geringste Sorge. Er wurde immer schwächer. Die Frauen hatten gesagt, dass er hier sterben würde. Er zweifelte nicht an ihren Worten, hätte sie aber zu gern Lügen gestraft, aus lauter Widerborstigkeit. Er war ihnen nichts als ein unbedeutendes Menschlein. Etwas mit der Lebenserwartung einer Eintagsfliege. Töten sollte nicht so willkürlich nonchalant vonstattengehen, nicht so beliebig.

Doch in Königgrätz hatte er auch auf einem Schlachtfeld gelegen und gefühlt, wie sein Leben aus ihm floss. Die Preußen mochten zackiger beim Töten sein, doch der Effekt war immerhin derselbe.

Seine Gedanken kreisten wieder um Charly. Was würde sie tun, wenn er nicht zurückkam? Hatte sie inzwischen bei den Lybrattes vorgesprochen? Hatte sie gemerkt, was für eine Kreatur die Gattin des bedeutendsten Physikers des Königreiches war? Sie besaß kein Schutzamulett. Sie würde vermutlich nicht mal eins tragen wollen, wenn sie eins hätte. Sie hielt die Sí verdammt noch mal für nett. Vielleicht würde sie sogar die übergroße Karikatur eines Kerls mögen, die Frau Lybratte ihm als mögliche Erscheinungsform gezeigt hatte. Um ihn zu ärgern? Oder um mehr als nur das zu tun? Diese Kreaturen kannten keinen Respekt.

Verflucht sollten sie sein.

Sie würden sie anlügen. Vielleicht würden Sie sie manipulieren. Dann konnte es sein, dass sie es bemerkte. Das Talent hatte sie. Sie sprach nie darüber, weil sie wusste, dass es ihn irritierte. Es gab so viele Dinge, die sie sich versagte, weil sie ihn kränkten. Sie hätte gut daran getan, ihn öfter zu irritieren. Um ihretwillen. Sie tat immer zu viel nur um seinetwillen.

So hoffte er, sie würde nicht merken, was für Wesen Lybrattes Gemahlin und deren Freundin waren. Das wäre weniger gefährlich für sie. Sie würde einfach nur denken, er sei tot, vielleicht das Opfer eines Raubmordes geworden, der nie ans Licht gekommen war. Sie kannte ihn zu gut, um zu glauben, er hätte sie ohne ein Wort verlassen. Das würde sie niemals denken – oder doch? Das sollte sie nicht. Sie sollte wissen, dass er sie liebte, auch wenn er es ihr niemals mehr gesagt hatte, seit er kein ganzer Mann mehr war.

Sie war jung. Sie würde trauern und ihn dann vergessen. Sie würde eine attraktive Witwe sein, reich, gescheit, kultiviert, redegewandt. Arme Erfinder würden Schlange stehen. München war voll von brillanten Denkern. Junge Männer, die sie so lieben konnten, wie er es nicht vermochte.

Asko fletschte die Zähne.

Da war dann auch noch der Vampir. Der würde sicher auch gleich zur Stelle sein und seine Dienste anbieten. Er würde das zu Ende bringen, was er damals in der gottverdammten Höhle angefangen und was Asko unterbrochen und unterbunden hatte.

„Verdammt soll er sein, dieser Vampir!“, fauchte er.

„Ich hoffe sehr, Sie meinen nicht mich“, antwortete eine kühle Stimme. Asko riss seine Augen auf. Der dunkle Mann, den er so sehr hasste, stand neben ihm. Wie immer sah er aus wie aus dem Ei gepellt. Eine Rubinnadel in seiner Krawatte war der einzige Farbtupfer in einer eleganten Symphonie aus Schwarz, Grau und Weiß. Weiches, dunkles Haar verbarg die Ohren des Mannes. Sein Anthrazitblick war auf Asko gerichtet. Schlanke, blasse Hände waren ordentlich gefaltet und verbargen die schmalen Fingernägel.

„Sie! Ich hätte wissen müssen, dass Sie an der Sache beteiligt sind! Haben Sie denn keine weniger umständliche Art und Weise gefunden, mich aus dem Weg zu räumen?“

Der Mann setzte sich neben ihn in die Wolken und hob die Hände in einer Geste der Machtlosigkeit.

„Ihre Haltung schmerzt mich. Ich bin hier genauso gefangen wie Sie.“

„Unsinn.“ Asko spuckte das Wort geradezu aus.

„Kein Unsinn. Frau Lybratte ist eine formidable Gegnerin. Wir nennen … sie … die Macht. Ich weiß nicht, was sie in München zu suchen hat. Aber was immer es ist, sie hat keine Lust, sich dabei stören zu lassen. Sie haben sie gestört – so scheint’s. Ich wohl auch. Die Dame fand das nicht lustig. Jedenfalls nicht sehr. Ihr Amüsement ist allerdings gerade so gefährlich wie ihr Zorn.“

Der Blick des Feyon ging über die endlosen Wolken hin.

„Sie lässt Lybratte glauben, er hätte eine Zeitmaschine gebaut“, sagte Asko schließlich und presste dabei die Worte zwischen den Zähnen hindurch. „Grotesk. Nichts dergleichen hat er getan.“

„Natürlich nicht. Zeit ist kein Gegenstand, den man in einem Gerät verarbeiten kann.“

„Zeit ist gegenständlich genug, dass man ihre Dauer messen kann.“

„Herr von Orven, ich hoffe doch, Sie wollen jetzt keine philosophische Debatte mit mir anfangen. Auch wenn wir vermutlich die Zeit dazu hätten – gemessen oder ungemessen, und die Umgebung kann auch kaum philosophischer werden als sie ist.“

Der Dunkle kämmte sich mit den Fingern das halblange Haar zurück, und man konnte nun seine leicht spitzen Ohren sehen.

„Wo sind wir denn?“, fragte von Orven widerwillig.

„Im Reich der oder des Mächtigen. Vielleicht sind Sie tatsächlich der erste Mensch, der hier Einlass erhalten hat. Allerdings – vielleicht auch nicht, wenn man bedenkt, wie viele Tausende von Jahren es Ihre Rasse schon gibt.“

„Wo ist dieses Reich? Lord Edmond sagte, die Welt sei ein Karussell, und wir stünden hier außerhalb und könnten ihr dabei zusehen, wie sie sich dreht. Nur sehe ich keine Drehung. Ich sehe gar nichts. Außer Ihnen. Also, wo sind wir?“

„Das kann ich nicht beantworten. Selbst wenn ich es wüsste, was nicht der Fall ist. Ich bin auch noch nie hierher eingeladen worden. Die Erde ist ein physisch existenter Ort, und ich bin ein körperlich orientierter Mann. Doch dieser Ort ist metaphysisch, nicht weniger existent deshalb, aber dennoch physisch nicht greifbar. ‚Außerhalb des Karussells beschreibt ihn so gut wie jedes andere Bild. Bevor die Welt in den Köpfen der Menschen rund war, war dies, was sich am Rand der Seekarten als Warnung befand. ‚Drachen und Ungeheuer.“

„Vor Märchengestalten habe ich keine Angst, Graf!“

„Das freut mich. Das nehme ich doch gerne als Grundlage für eine wunderbare, wenngleich vermutlich kurze Freundschaft.“

Asko betrachtete den dunklen Mann, den Charly so sehr mochte. Ein höfliches Lächeln umspielte dessen Lippen. Sollte er Angst wegen seiner Gefangennahme haben, so zeigte er sie nicht. Seine Kleidung saß tadellos unzerknittert. Seine Augen versprühten sogar eine gewisse emotionale Wärme. Immer sah er harmlos und jung aus. Doch das war nichts als Blendwerk, denn er war weder das eine, noch das andere.

„Ich werde also hier sterben?“, fragte Asko schlicht.

Der Vampir zuckte die Achseln.

„Ich weiß nicht, was die Macht vorhat. Ich weiß nur, dass ich gestört habe, als ich Sie suchen kam.“

„Sie haben mich gesucht?“

„Sophie und Ihre Gemahlin haben mich gebeten, etwas über Ihren Verbleib herauszufinden. Ich wollte ihnen gefällig sein.“

„Sie haben Charly getroffen?“ Etwas in Asko verkrampfte sich.

„Ja. Die Arme ist sehr besorgt um Sie.“

„Ich verschwinde, und sie sucht Sie noch am gleichen Tag auf? Es ist doch wohl der gleiche Tag?“

„Nacht. Es ist die Nacht darauf, und Sie sind ein Tor. Sie waren immer ein Tor, und Ihre Invalidität hat Ihnen keine neuen Einsichten beschert.“

Asko antworte nicht.

„Was wird sie tun, wenn keiner von uns beiden zurückkehrt?“, fragte er schließlich, nachdem er sich alle anderen Kommentare verkniffen hatte. Er wollte dem Monster neben sich keine weiteren Einblicke in seine Eifersucht bieten.

„Ich hoffe, sie ist vernünftig genug, keine weiteren Schritte zu unternehmen. Aber vermutlich ist diese Hoffnung vergebens. Sie liebt Sie allzu sehr, auch wenn ich beileibe nicht einsehen kann warum. Ihr Charme kann es nicht sein, und offenbar ist es auch nicht Ihre Liebeskunst.“

Asko fauchte.

„Sie hat Ihnen gesagt …“

„Sie hat mir nichts gesagt, Sie aufgeblasener Idiot! Ich bin als Mann – ja als Mann – erfahren genug, um zu sehen, was los ist. Sie haben sie nie verdient. Sie ist zu mir gekommen, weil sie wusste, dass sie Ihnen nicht allein gegen Fey-Gegner beistehen konnte. Das immerhin war ihr klar. Sie würde Sie selbst hier herausholen, wenn sie könnte. Sie hat mir ihr eigenes Blut angeboten, damit ich Sie schneller retten kann. Sehr süßes Blut. Wenn ich als Bestechungsgabe ihre Ehre verlangt hätte, hätte sie auch diese drangegeben, nur um Ihnen zu helfen. Für Sie hätte sie das getan. Nicht für mich. Vielleicht hätte ich die Möglichkeit nutzen sollen. Wir werden nun wohl beide nichts mehr von ihr haben.“

Die alte Erinnerung daran, wie Charlotte nur halb bekleidet in den Armen des dunklen Mannes gelegen hatte, kam wieder in Asko hoch. Es hatte ihn damals vor Wut fast versteinert, und heute war es nicht anders.

„Sie verdammter, kaltblütiger, betrügerischer, frauenschändender Männerverschnitt! Sie lassen gefälligst meine Gattin in Ruhe, oder ich verspreche Ihnen, dass ich aus Ihren Reißzähnen eine Krawattennadel mache. Wagen Sie es nicht, meine Charlotte auch nur anzurühren! Bleiben Sie fort von ihr! Sie ist meine Frau, hören Sie? Sie ist eine ehrliche und anständige Frau, und ich lasse nicht zu, dass Sie ihr wehtun oder sie für Ihre Spielchen benutzen. Haben Sie das verstanden?“

Der Vampir lachte.

„Ich habe Sie schon verstanden. Ich freue mich zudem außerordentlich, dass Sie sich aufgesetzt haben, Ihr Gesicht etwas Farbe bekommen hat und Sie vor Wut zischen. All dieses matte Dahingesieche und Auf-den-Tod-warten passt so gar nicht zu Ihnen. Sie müssen das hier bekämpfen. Wenn Sie an diesem Ort Ihren Lebenswillen verlieren, dann werden Sie über kurz oder lang zu nichts als einem kleinen, dunklen Wölkchen. Auch wenn Sie selbst die Wolken wohl als weiß wahrnehmen. Wir sind noch nicht tot, mein Guter!“

Asko starrte den anderen sprachlos an. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schloss ihn dann jedoch mit Nachdruck wieder.

„Wir werden außerdem nie wieder Charlys Tugend diskutieren“, fügte Arpad nach einiger Zeit hinzu. „Sie werden diese Tugend dankbar als die unabänderliche Tatsache akzeptieren, die sie ist, und ich werde diese Tugend voller Bedauern als die unabänderliche Tatsache akzeptieren, die sie ist. Anstatt uns in Streitereien zu zerfleischen, sollten wir lieber zusammenhalten. Wir müssen unsere Gedanken und unsere ganze Stärke gegen die Leere dieser Realität einsetzen. Sonst wird das Nichts uns fressen. Das kann es nämlich, müssen Sie wissen.“

Asko atmete tief ein. Durch den Schleier seines Zornes konnte er doch den Argumenten des anderen Mannes nicht eine gewisse Logik absprechen.

„Wie kann es das?“

„Es wird uns im Vergessen vergehen lassen. Oder es wird mich dazu bringen, Sie auszusaugen, sobald ich hungrig werde und ehe Sie gänzlich verschwunden sind. Ich hasse Verschwendung.“

Asko starrte Arpad wütend an.

„Sie sind erstaunlich aufrichtig, Graf Arpad!“, sagte er eisig.

„Hätten Sie es lieber, ich würde Sie anlügen?“

„Nein. Seien Sie ehrlich. Was immer das hier ist, es ist auf alle Fälle das Ende falscher Hoffnungen.“ Asko lehnte sich zurück und zischte vor Schmerz. Das plötzliche Aufsetzen hatte die üblichen Beschwerden ausgelöst. „Ich fürchte, ich bin keine große Hilfe mehr bei einem Kampf“, flüsterte er reumütig. „Vermutlich bin ich nicht einmal mehr ein gutes Abendessen.“

Eine kühle Hand berührte seine Stirn, und der Schmerz nahm ab. Asko versagte sich den Impuls, die Hand sofort wegzustoßen.

„Das tue ich für Charly“, sagte der Vampir kühl. „Sie würde nicht wollen, dass Sie leiden.“

„Ich danke Ihnen. Wie ungemein nett.“ Asko zwang sein Gemüt dazu strammzustehen, anstatt um sich zu schlagen.

„Natürlich schmeckt Blut auch nicht gut, wenn allzu viel Schmerz im Spiel ist, und früher oder später werden Sie mir ein wenig davon geben müssen. Nur um mich bei Verstand und vor allem bei Laune zu halten.“

„Da hatte ich doch schon fast geglaubt, Sí könnten etwas aus purer Herzensgüte tun.“

Der Vampir lachte.

„Dabei haben wir ein Herz für so viele Dinge. Hat nicht ein Sí Augen? Hat nicht ein Sí Hände, Beine, Werkzeuge, Sinne, Neigungen, Leidenschaften? Wo wir gerade von Neigungen sprechen …“

„Ersparen Sie mir den Shakespeare, Sie Schürzenjäger. Sie werden nicht mit der gleichen Speise genährt, werden nicht mit den gleichen Waffen verletzt und sind nicht denselben Krankheiten unterworfen.“

„Es freut mich, dass Sie Shakespeare kennen. Er war ein großer Mann.“

„Ich wette, sein Blut hat auch süß geschmeckt.“

„Hat es. Ihres auch. So randvoll mit opferbereiter Intensität. Ich kann mich noch gut erinnern.“

„Darauf wette ich“, knurrte der Invalide säuerlich. „Darauf wette ich, verdammt noch mal.“