Kapitel 15

„Hallo, Thorolf. Es ist schön, dich zu sehen, mein Junge. Du siehst gut aus. Willst du mich nicht einlassen?“

Sophie Treynstern stand immer noch auf der Schwelle und lächelte ihren Sohn an. Thorolf merkte, dass er vermutlich wenig begeistert aussah.

„Mama, ich würde dich wirklich gerne einlassen, aber im Moment bin ich beschäftigt. Vielleicht können wir ja einen besseren Zeitpunkt …“

„Mein Junge, du wirst mich doch nicht im Treppenhaus stehen lassen wollen? Wir müssen reden, und nachdem Herr von Orven dir ja schon eröffnet hat, dass ich auf dem Weg hierher war, hast du mich gewiss schon erwartet, nicht wahr? Es ist also kein Überraschungsbesuch. Du wusstest, dass ich kommen würde.“ Ihre warme Stimme klang nicht, als ob sie schelten würde, und doch fühlte er sich bereits entnervt.

„Sicher. Ich dachte nur …“

„Willst du mich nicht doch besser hineinbitten?“ Ihre grauen Augen glitzerten, und er brauchte einen Moment, um festzustellen, dass sie amüsiert war und nicht verärgert.

„Mutter …“

Sie trat ein, und er machte ihr automatisch Platz, als ihr weiter Krinolinenrock raschelnd an ihm vorbeizog. Irgendwas hatten Mütter an sich, das einen vom selbständigen Mann zum halbwüchsigen Idioten machte.

„Mama, es ist einfach ein sehr inopportuner Augenblick …“ Er schloss hastig die Wohnungstür und eilte ihr hinterher, doch sie hatte das Wohnzimmer bereits erreicht. Sie trat ein und blieb dann wie angewurzelt stehen, als sie die nackte Lena auf dem Sofa erblickte. Die beiden Frauen starrten einander mit großen Augen an.

„Ich sehe, du hast Besuch“, sagte sie schließlich und ignorierte vollständig die mangelnde Kleidung der anderen Frau.

„Lena sitzt mir Modell. Es tut mir leid …“

„Es muss dir doch nicht leid tun, Thorolf. Ich hatte immer einen Sinn für Kunst. Hast du sie gemalt?“

„Ich habe Skizzen angefertigt.“

„Darf ich sie sehen?“

„Sie sind nichts geworden.“

Die nackte Frau erhob sich auf wenig sittsame Art und Weise, und Thorolf wurde rot. Die beiden Damen nicht.

„Es tut mir leid, dass ich dich bei deiner Arbeit unterbrochen habe, Thorolf. Ich dachte, du würdest an der Akademie arbeiten?“

„Meist, aber nicht immer.“

„Dann will ich dich nicht unterbrechen. Mach einfach weiter. Ich setze mich ganz still in eine Ecke und schaue dir zu.“ Sie zog sich sorgfältig die Ziegenlederhandschuhe aus, und er beeilte sich, ihr die Pelerine abzunehmen.

„Gewiss nicht. Wir waren ohnehin fast fertig für heute. Lena, Sie können sich wieder anziehen. Ich werde Sie gleich bezahlen.“

Die Berufsschönheit klaubte ihre Sachen auf und verschwand hinter der spanischen Wand.

„Bitte nimm doch Platz. Ich hole solange das Geld für Lena.“

Seine Mutter setzte sich auf einen Stuhl und hielt ihre Handschuhe noch in der Hand.

Er ging ins Schlafzimmer, nahm sein Portemonnaie aus einem Schubfach, zählte das Geld ab, gab ein Trinkgeld dazu – für die Extrapause, die er sich versagt hatte. Er überlegte, weitere Besuche abzusagen, aber dann tat er es nicht.

Seine Versuche, eine schöne Frau zu skizzieren, waren ganz erheblich danebengegangen, und die Begegnung mit seiner Mutter war zudem noch peinlich. Wenn man Lenas Freimütigkeit, was Information über andere Maler anging, bedachte, würde letztere ab morgen spätestens in der ganzen Stadt die Runde machen. Er konnte sich die Kommentare schon vorstellen, die er an der Akademie zu hören bekommen würde. Mütter waren schlichtweg …

Als er zurück ins Zimmer trat, hatte Lena sich angezogen, stand mitten im Raum und beantwortete die Fragen seiner Mutter. Keine der Damen schien dabei besonders peinlich berührt. Das brachte Thorolf fast aus der Fassung. Er hätte damit gerechnet, dass seine Mutter weitaus schockierter darüber sein würde, dass er in der eigenen Wohnung nackte Frauen malte. Richtigerweise sollte sie sich herzlich darüber aufregen. Nicht, dass er wollte, dass sie sich aufregte, gewiss nicht, doch er stellte fest, dass es ihn durchaus irritierte, dass sie es nicht tat. Stattdessen unterhielt sie sich mit seinem Modell auf freundlich neutrale Art.

Er bezahlte Lena, die kess knickste. Er brachte sie zu Tür und ließ sie hinaus.

„Sie haben eine wirklich nette Frau Mama“, flüsterte sie ihm noch zu, als sie ging, und er wusste einmal mehr nicht, was er davon halten sollte, dass wildfremde Leute dauernd seine Mutter lobten.

Als er zurück ins Zimmer trat, war sie dabei, sich seine Skizzen anzusehen. Sie wirkte alarmiert.

„Bitte leg sie wieder hin. Sie sind ganz furchtbar geworden.“

Sie legte sie auf den Tisch, das Spinnenbild zuoberst mit der Zeichnung nach oben.

„Sie sind vielmehr ziemlich gut. Du warst immer schon sehr begabt. Sag mir, siehst du Frauen als Beute an?“

„Was?“ Er war so bestürzt, dass er sich fast im Ton vergriffen hätte.

Sie nahm neben seinen Zeichnungen Platz und streckte die Hände aus.

„Willst du mich nicht noch einmal richtig begrüßen? Oder bist du immer noch böse auf mich, weil ich dich unterbrochen habe?“

Er trat vor, nahm ihre Hände in seine und küsste sie auf die Wange.

„Ich bin nicht böse auf dich, Mama. Ich bin vielmehr erstaunt, dass du vor moralischer Entrüstung nicht in Ohnmacht gefallen bist.“

„Hast du mich denn je vor moralischer Entrüstung in Ohnmacht fallen sehen?“

„Nein. Doch du hast auch noch nie eine nackte Frau in meinen Räumen vorgefunden.“

„Das Mädchen muss für sich und seine alte, kranke Mutter sorgen.“

„Woher weißt du das?“

„Sie hat es mir erzählt.“

„Es ist vielleicht nicht die Wahrheit, Mutter.“

„Vielleicht nicht. Aber so wie die Welt nun einmal ist, könnte es sehr wohl die Wahrheit sein.“ Sie nahm erneut seine Zeichnungen auf. „Sie war recht hübsch, aber das hast du nicht wirklich eingefangen.“

„Ich weiß. Es ist mir nicht geglückt. Ich weiß auch nicht, warum. Sie ist nicht die erste Frau, die ich gemalt habe. Aber ich hatte dich ja gewarnt, dass die Zeichnungen nichts geworden sind. Deshalb wollte ich sie dir auch gar nicht erst zeigen.“ Er klang ein wenig vorwurfsvoll.

„Ich will nicht sagen, dass sie nicht gut sind. Sie sind ausdrucksvoll – und recht beängstigend. Aber dennoch sind sie gut. Ich muss allerdings zu bedenken geben, dass es möglicherweise keinen Markt für Bilder sterbender Frauen gibt, die von riesigen Spinnen gefressen werden. Doch ich mag da natürlich völlig altmodisch sein.“

Er nahm sich einen der Stühle, setzte sich ihr gegenüber und blickte sie aufmerksam an.

„Liebe Mama, niemand könnte dich altmodisch nennen. Du siehst sehr stilvoll und elegant aus.“

„Du allerdings siehst schuldbewusst aus, mein lieber Thorolf.“

Er lächelte.

„Mama, du willst mich vermutlich dazu bringen, zurück zu Dr. Ralfberger zu gehen. Aber …“

„Thorolf. Ich will dich keineswegs dazu bringen, zurück zu Dr. Ralfberger zu gehen. Zum einen wird er dich jetzt, da du ihm sein lukratives Angebot vor die Füße geworfen hast, vermutlich nicht mehr wollen. Zum anderen will ich wirklich nicht, dass du unglücklich bist. Das war nie mein Ziel. Dennoch müssen wir miteinander reden.“

„Allerliebste Mama, Ich begreife durchaus, dass du vermutlich keinen Sohn möchtest, der ein elender, unmoralischer Maler ist …“

„Also bitte! Nun halte mich nicht für kleinlicher und geschmackloser, als ich bin. Ich habe sehr großen Respekt vor guten Künstlern.“

„Du glaubst nur nicht, dass ich gut bin“, warf er ihr vor.

„Ich habe nie daran gezweifelt. Ob du davon leben kannst, ist eine ganz andere Geschichte.“

„Du könntest zur Abwechslung mal an mein Können und mein Talent glauben“, gab er patzig zurück und fühlte sich nicht nur etwas beleidigt, sondern auch um einiges jünger, als er sich noch vor einer Viertelstunde gefühlt hatte.

„Liebling, ich wünsche mir, dass du ein sicheres und bequemes Leben führst. Es gibt eine Menge Argumente, die ein sicheres und bequemes Leben erstrebenswert machen. Was du dir ausgesucht hast ist weder das eine noch das andere.“

„Nur weil ich ein Aktmodell im Wohnzimmer habe …“

„Deine Aktmodelle sind mir gänzlich einerlei. Kunst ist immer progressiv, und ich verstehe, dass du ein Objekt brauchst, um dich in deiner Kunst zu üben. Vermutlich könntest du einiges an Geld sparen, wenn du Stilleben malen würdest, aber du bist ein junger Mann, und ich begreife voll und ganz, dass dich hübsche Frauen mehr reizen als Blumenvasen. Sie hatte einen sehr hübschen Körper, einladend und großzügig.“

„Mutter!“ Er war empört.

Sie lächelte, streckte ihm die Hand entgegen, ließ diese dann jedoch fallen, ohne ihn zu berühren.

„Thorolf, ich bin deine Mutter, und es ist mir klar, dass du ein bestimmtes Bild von mir hast, eine Vorstellung, wie ich bin. Aber hast du dir jemals überlegt, dass ich vielleicht ganz anders sein könnte? Ich war nicht mein ganzes Leben lang immer eine Mutter. Ich war auch nicht von Anfang an immer schon eine respektable Witwe. Ich war auch nicht von Jugend an alt.“

„Du bist nicht alt!“, protestierte er. „Du bist mit Sicherheit die schönste Mutter, die ein Mann haben kann, meine Liebe, und gar nicht alt.“

„Gehobenen Alters dann eben. Aber darum geht es nicht. Was ich dir zu sagen versuche ist, dass es eine Zeit in meinem Leben gab, in der ich jung und hübsch war.“

„Schön. Ich bin mir ganz sicher, dass du in deiner Jugend sehr schön warst.“

Sie seufzte lächelnd.

„Tatsächlich gab es Leute, die das so sahen. Weißt du, Ludwig I. wollte mich für seine Schönheitsgalerie. Er wollte mich von Stieler malen lassen, aber ich habe abgelehnt. Doch das wollte ich gar nicht erzählen. Jetzt hast du mich doch in meiner Eitelkeit bestärkt, mein Junge. Das solltest du wahrlich nicht. Es ist nichts so peinlich wie eine Frau über Fünfzig, die sich ihrer längst vergangenen Pracht und Herrlichkeit rühmt.“

Sie atmete tief ein, um fortzufahren, doch er unterbrach sie.

„Stieler hätte dich porträtiert, und du hast abgelehnt? Mama! Wie konntest du nur! Stell dir vor, da hätte man jetzt ein Bild von deiner … vergangenen Pracht und Herrlichkeit … das man noch Jahrhunderte später bewundern könnte, und du hast abgelehnt? Warum um Himmels willen hast du das getan?“

„Ich wollte nicht, dass man allzu sehr auf mich aufmerksam wird. Wenn man für die Galerie eines Königs ausgesucht wird, für eine Sammlung der Frauen, die er als besonders schön ansieht, so macht einen das doch ein wenig … offensichtlich. Ich wollte nicht weithin bekannt werden. Ich wollte nicht, dass jemand darüber nachdenkt, wer ich eigentlich bin. Ich komme auch gleich zum Grund dafür. Hör mir einfach nur zu …“

„Ich könnte jetzt in die königliche Galerie gehen – manchmal ist sie für die Öffentlichkeit zugänglich –, und dann könnte ich mir anschauen, wie meine Mutter als Mädchen ausgesehen hat. Du hättest dich malen lassen sollen.“

„Habe ich. Es gibt ein gutes Bild von mir, aber es ist in Privatbesitz.“

„Wem gehört es?“

„Dazu komme ich gleich. Lass mich einfach weitererzählen.“

„Ich würde es wirklich gerne sehen.“

„Ich auch. Als ich jung war, gab es noch keine Daguerreotypien oder photopraphischen Apparate. Dieses Bild ist der einzige Beleg darüber, wie ich einmal aussah. Doch ich werde es wohl nie wiedersehen.“

„Warum nicht? Wem gehört es? Vielleicht kann man es ja zurückkaufen!“

„Er wird sich nicht davon trennen wollen.“

„Wer?“

„Der Mann, der es in Auftrag gegeben hat. Er wollte es als Andenken.“

„O lala! Meine Mutter hatte einen Verehrer! Was hat denn Papa dazu gesagt?“

„Mein lieber Junge, ich habe deinen Papa geheiratet, da war ich schon dreißig. Es ist vermutlich schwierig für Kinder, sich vorzustellen, dass Eltern auch ein Leben hatten, bevor sie zu Eltern wurden, aber ich hatte ein Leben. Genau darüber will ich ja mit dir reden. Ich hoffe inständig, du hörst mir zu.“ Sie machte eine Pause und seufzte. „Leicht ist das freilich nicht für mich.“

Er starrte sie an, versuchte zu verstehen.

„Hat es mit McMullens wilder Geschichte darüber zu tun, dass du einem defizitär gekleideten Wassermann in einer Höhle begegnet bist?“

„Nein. Jedenfalls nicht direkt. Seine Durchlaucht, der Fürst des Wassers, der grünhaarige Herr, auf den du anspielst, hat keine wichtige Rolle in meinem Leben gespielt. Er ist nur jemand, den ich im Ausseer Land getroffen habe und – ganz ehrlich – lieber nicht getroffen hätte.“

Thorolf glotzte sie einen Augenblick lang an, wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte.

„Ich glaube, ihr habt euch alle verschworen, euch einen Jux mit mir zu machen! Hast du von Orven und McMullen überredet, mir Augen und Ohren mit Märchendunst zu vernebeln?“

„Das ist kein Märchendunst! Kannst du nicht einfach mal still dasitzen und zuhören? Sieh mich nicht so an! Was ich dir zu sagen habe, wird dir nicht gefallen, aber du musst versuchen, es zu glauben. Das ist wichtig. Es ist wichtig für dich und deine Sicherheit.“

„Wieso? Wollen mich irgendwelche grünhaarigen Höhlenkreaturen angreifen? Sind die auf Künstler spezialisiert, aber lassen Juristen außer Acht?“

„Du lieber Himmel, jetzt werde nicht sarkastisch. Ich bitte dich, sei ernst. Schau, als ich deinen Vater geheiratet habe …“ Sie verstummte. Es wurde still.

„Ja?“, fragte er nach einer Weile.

„Lieber Himmel, das ist noch schwieriger, als ich gefürchtet habe. Also. Um es klar zu sagen, auch bevor ich deinen Vater getroffen habe, gab es schon einen Bewunderer.“

„Mit Sicherheit. Vermutlich sogar viele, wenn ich dich so anschaue.“

„Es gab nur einen, der wichtig war. Er hat mir viel bedeutet, tut es noch. Wir sind immer noch Freunde. Wir schreiben uns Briefe.“

„Er besitzt dein Porträt?“

„Genau.“

„Aber geehelicht hat er dich nicht?“

„Nein.“

„Also hast du Vater geheiratet?“

„Richtig.“

„Hast du ihn geliebt?“

„Deinen Vater? Ich mochte ihn sehr und habe ihn geachtet. Er war ein guter Mensch, liebevoll und verlässlich. Ein guter Gatte und auch eine gute Partie. Er war so stolz auf dich! Er starb leider viel zu früh. Er hätte dich gerne heranwachsen sehen.“

Wieder verfiel sie in Schweigen. Sie stand auf, ging zum Fenster und drehte ihm den Rücken zu.

„Mama“, sagte er nach einiger Zeit. „Ich werde das Gefühl nicht los, dass du mir eine Jugendsünde beichten willst. Bitte tu es nicht. Ich muss das nicht wissen. Ich würde es lieber nicht wissen. Du hattest in deiner Jugend einen Bewunderer, hast aber dann einen anderen geheiratet. Das ist nicht wirklich ungewöhnlich. Tatsächlich ist es schon fast der Normalfall. Du hast natürlich recht, als dein Sohn habe ich mir nie Gedanken darum gemacht, was für eine überwältigende Schönheit du in deiner Jugend gewesen sein musst. Auch nicht darüber, dass dir vermutlich Dutzende von Verehrern nachgestiegen sind, dir Gedichte geschrieben und Blumensträuße geschickt haben. An so was denkt man in Zusammenhang mit seiner Mutter nicht. Besonders nicht, wenn ich mich an die Standpauken erinnere, die du mir wegen meines zu freien Umgangs mit dem anderen Geschlecht gehalten hast.“

„Jede einzelne davon hattest du redlich verdient. Selbst wenn deine Vorliebe für das andere Geschlecht und das Spiel der Liebe nicht unbedingt als Überraschung kam. Siehst du …“

Die Eingangstür öffnete sich, und Sophie verstummte. Einige Augenblicke später betrat Ian das Wohnzimmer, grinste und blickte sich neugierig um.

„Bin ich zu früh?“ Er zwinkerte und blieb stehen, als Sophie sich zu ihm umdrehte. „Oh, Sie sind es! Wie schön, Sie wiederzusehen! Ich hoffe, es geht Ihnen gut? Ich hatte Sie nicht hier erwartet. Das hätte ich vielleicht tun sollen … aber ich dachte …“ Er beendete den Satz nicht.

Sie lächelte und gab ihm ihre Hand.

„Sie dachten, Sie würden etwas früher kommen, um einen Blick auf Thorolfs Modell zu werfen?“

Ian lief rot an.

„Nein. Gewiss nicht, Frau Treynstern.“

Sie lachte.

„Ich habe sie getroffen“, sagte sie.

„Du lieber Himmel, wie unangenehm!“

„Eher für Thorolf als für mich. Er ist ein so sittenstrenger Mensch – gelegentlich.“

Thorolf grollte vor sich hin.

„McMullen, hast du dich mit meiner Mutter verbündet?“ Thorolf trat neben sie ans Fenster.

„Gewiss nicht.“

Thorolf fühlte sich zerrissen zwischen dem Gefühl, dass das frühe Eintreffen seines Quartiersgenossen ihn um eine Information gebracht hatte, die möglicherweise recht interessant geworden wäre, und der Erleichterung darüber, dass er sich nun die Beichte etwelcher Jugendsünden seiner Mutter nicht anhören musste. Besser, er wusste nichts. Sie sich als verhängnisvolle Schönheit vorzustellen, die den Männern die Herzen brach, bevor sie schließlich einen begüterten und respektierten Richter ehelichte, war nichts, was er zu tun wünschte. Er kannte sie zu gut, um zu glauben, dass sie wirklich etwas Böses getan hatte. Das mit Gewissheit nicht. Da war er sich sicher, und er verstand auch gar nicht, warum sie ihm nun unbedingt etwas erzählen wollte, das er gar nicht wissen mochte.

Er versuchte, die Situation zu entschärfen, indem er sie ins Spaßige zog.

„Du musst dir eins klar machen, wenn sie mich überredet, dass ich zurück nach Wien gehe und ein langweiliger Rechtsgelehrter werde, dann musst du dir eine neue Bleibe suchen.“

„Dann werde ich es zu meiner Aufgabe machen, dich dazu zu verleiten, überhaupt nicht auf sie zu hören.“ Ian verneigte sich vor Frau Treynstern. „Es tut mir unendlich leid, gnädige Frau. Doch ein Gentleman muss immer wissen, wo er steht.“

„Wie ungemein ernüchternd. Doch ich hatte mit Ihrem Beistand auch nicht gerechnet.“ Sie lächelte.

Sie schwiegen.

„Habe ich bei etwas Wichtigem gestört?“, fragte McMullen nach einer Weile. „Ich kann noch mal spazieren gehen. Es ist ein schöner Abend.“

„Es wird bald dunkel, und ich habe noch eine Verabredung“, sagte Thorolf. „Es tut mir sehr leid, Mama, aber wir müssen unser Gespräch verschieben.“

Sophie Treynstern wandte sich ernst ihrem Sohn zu.

„Aber wir müssen miteinander reden. Es ist wichtig. Bitte entzieh dich dem nicht, nur weil du keine Lust hast, dich von meinen … Geschichten langweilen zu lassen.“

„Ich entziehe mich nicht. Aber ich habe für heute schon Pläne, und ich gehe mal davon aus, dass du noch ein paar Tage in München sein wirst. Oder nicht? Heute ist ein Treffen des Künstlervereins, das ist ein Verein, der die Münchener Künstler in verschiedenen Dingen vertritt. Im Moment plant man eine große Ausstellung, und es ist eine große Ehre, dass man mich gebeten hat, dem Planungskomitee zu helfen. Vermutlich bin ich allerdings nicht zu der Ehre gekommen, weil ich so ein guter Künstler bin, sondern weil ich Jurist bin. Wie auch immer, ich habe angefangen, für das Komitee zu arbeiten, und ich darf sie nicht enttäuschen. Die berühmtesten Maler des Landes sind da versammelt, und von denen akzeptiert zu werden kann mir nur helfen.“

Sie lächelte sanft.

„Natürlich musst du hin, wenn du das versprochen hast. Ich freue mich, dass dein Juraabschluss für etwas gut ist. Es freut mich auch, dass du deine Karriere so sorgfältig und entschlossen planst, sorgfältiger und entschlossener, würde ich meinen, als dein Jurastudium. Wie steht’s mit morgen?“

„Morgen habe ich Unterricht an der Akademie. Ich bin noch nicht so lange dabei, und deshalb will ich nicht fehlen. Morgen Abend bin ich wieder bei Professor Lybratte eingeladen. Das ist auch eine große Ehre, und ich weiß nicht, wie ich dazu komme, außer dass Herr von Schwind mich unbedingt wieder mitnehmen will. Die Lybrattes halten Salon für Denker, Wissenschaftler und Künstler. Nur die Crème de la Crème wird eingeladen – und ich. Ich habe Herrn von Orven dort getroffen.“

„Ich weiß. Charlotte hat es mir erzählt. Er würde so einen Abend auch auf keinen Fall verpassen. Also, wie steht es mit übermorgen? Ich könnte dich hier wieder besuchen.“

„Wir sollten essen gehen. Dieses Quartier ist nicht dazu angetan, dich stilgerecht zu versorgen.“

„Danach vielleicht. Zunächst brauchen wir Zeit und Ruhe. Ungestört.“

„Himmel! Denkst du, wenn du damit fertig bist, mich zu schelten, wird mir der Appetit vergangen sein?“

„Ich werde dich gar nicht schelten, Thorolf, sofern du nicht in der Zwischenzeit etwas unendlich Dummes anstellst. Was ...“ Sie lächelte liebevoll. „ ... mich allerdings auch nicht verwundern würde.“

Sie wandte sich an Ian.

„Mr. McMullen, ich werde mich jetzt verabschieden. Wir werden uns sicher noch einmal sehen, solange ich in München bin. Ich hoffe, es geht Ihnen gut und Sie kommen mit Ihren Studien voran?“

Er verbeugte sich.

„Danke, Frau Treynstern. Das Leben ist interessant, wenn auch zurzeit etwas anstrengend.“

Ihre Blicke trafen sich, und Thorolf vermeinte, ein stilles Flehen in den Augen seiner Mutter wahrzunehmen. Fast sah sie ängstlich aus.

„Geben Sie gut aufeinander acht“, sagte sie. „Obgleich es natürlich wahrscheinlicher ist, dass zwei junge Herren sich gegenseitig in Schwierigkeiten bringen, als einander davon abzuhalten.“

Ian lächelte.

„Ich versuche, nicht in Schwierigkeiten zu geraten. Mein Beruf erfordert Integrität und Nüchternheit. Außerdem Geheimhaltung und Diskretion.“ Er machte eine kleine Pause. „Etwas anderes tolerieren meine Meister nicht.“

„Gut“, sagte Sophie und klang seltsamerweise ein wenig erleichtert, obgleich sich Thorolf nicht im Entferntesten vorstellen konnte, warum. Sie konnte nicht wirklich glauben, dass McMullen ihn davon abhalten würde, sich in schlechte Gesellschaft zu begeben, wenn er dazu Lust verspüren sollte. Ein Verdacht beschlich ihn, dass sein Wohnungsgenosse eventuell mehr über seine Mutter wusste, als er selbst. Der Gedanke gefiel ihm nicht. Er fühlte sich ausgegrenzt, als wäre er zu jung und dumm, um alles zu verstehen.

Er würde McMullen fragen. Oder vielleicht sollte er doch erst hören, was seine Mutter zu sagen hatte. Er konnte McMullen immer noch fragen, was er wusste, wenn die Information seiner Mutter nicht ausreichte. Langsam wurde er neugierig.

„Ich bringe dich hinunter und werde eine Droschke für dich holen. Von Orven wohnt ja nicht weit.“

„Stimmt. Man kann es gut laufen. Ich bin hierher zu Fuß gekommen, und ich kann auch wieder zu Fuß zurückgehen, mein Junge.“

„Es wird bald dunkel. Ich kann meiner lieben Mutter wirklich nicht zumuten, im Dunkeln durch die Straßen einer fremden Stadt zu laufen. Ich würde dich ja zu den von Orvens begleiten, aber ich muss mich für das Treffen fertigmachen.“

„Das ist schon in Ordnung. Die Nacht hat mir nie Angst gemacht. Sie ist ein Freund. Meine Gastgeber werden dich vermutlich an irgendeinem Abend zum Dîner einladen. Aber wenn du jetzt mit mir ankämst, würden sie glauben, sie müssten dich gleich hereinbitten. Herr von Orven ist ein so überkorrekter Mensch, und Charlotte hat schon gesagt, dass sie dich gerne kennenlernen möchte.“

„Ist sie hübsch?“

„Sie sieht annehmbar aus, ist intelligent und hat Charme.“

„Ah. Also nicht hübsch.“ Er grinste.

„Also wirklich, du bist allzu schlimm!“

Thorolf half ihr in die Pelerine. Auf einmal machte er sich Sorgen, weil er sie allein losschickte. Sie erschien ihm ein wenig verstört. Was immer in ihren Gedanken vorging, es schien sie recht mitzunehmen. Er blickte in ihre welken aber immer noch ebenmäßigen Züge und erkannte wie zum ersten Mal die außergewöhnliche klassische Schönheit darin. Er sollte sie malen.

Sein Blick flog zu seinen Zeichnungen, die immer noch mit dem Gesicht nach oben auf dem Tisch lagen. Vielleicht sollte er sie erst malen, wenn er herausgefunden hatte, warum die Phantasie derart mit ihm durchging.

Möglicherweise wäre er doch besser Jurist geblieben?