Kapitel 44

Die Welt hatte aufgehört zu surren und sich zu drehen und erstreckte sich nun in erschreckender Weite über ihr. Eine riesige, beängstigende Welt. Alles war zwanzigmal zu groß, und sie war doch nur ein Mädchen. Eine Katze. Außerdem hatte es wehgetan.

Ihr Kopf hatte die Wand nicht mit voller Wucht getroffen, doch der Aufschlag war ihr dennoch durch Mark und Bein gegangen. Es war nicht mal der Schmerz. Der war nicht so schlimm. Es waren die Scham und die Erkenntnis, dass sie etwas Unglaubliches getan hatte.

Sie fühlte sich schwach, und ihr war übel. Das hätte er niemals tun dürfen. Er hätte nicht mit dieser Dirne in sein Zimmer verschwinden und sie aussperren dürfen. Er gehört doch ihr, war Teil ihres Reviers, war ihr Zuhause. Er war außerdem ein viel zu netter junger Mann, um nicht zu sehen, wie unwürdig diese Frau war, wie niederträchtig, widerwärtig und gewöhnlich. Sie verkaufte ihren nackten Körper für Geld. Das war skandalös. Außerdem war sie ohnehin viel zu alt für ihn, und auch nicht hübsch genug. Was sah er bloß in ihr?

Die Tür zu öffnen war leicht gewesen. Das hatte sie inzwischen gelernt, und abgeschlossen hatte er nicht. Er hatte nicht damit gerechnet, von ihr gestört zu werden, und sie hätte ihn wohl auch nicht stören dürfen. Gewiss hätte sie das nicht tun sollen.

Was sie erwartet hatte, wusste sie nicht so sicher. Sie wusste zu wenig vom Ablauf eines Liebesspiels. Eine Umarmung vielleicht. Ein intensiver Kuss? Sie hatte noch nicht einmal über die Möglichkeit nachgedacht, ihn nackt zu sehen, obgleich das eine logische Erwartung gewesen wäre, wenn sie nur überlegt hätte. Doch sie war nur ihrem Instinkt gefolgt, ohne zu denken. Jemand brach in ihr Revier ein, jemand verwandelte ihren Beschützer von einem freundlichen jungen Mann in einen lüsternen Liebhaber. Aber diese Frau sollte er nicht lieb haben. Wirklich nicht.

Dennoch, die Szene, die sie angetroffen hatte, hatte sie nicht erwartet. Sein Körper war fast vollständig entkleidet, muskulös, exquisit. Seine Männlichkeit war hervorstechend, sein Gesicht eine Mischung aus Leiden und Leidenschaft. Furchteinflößend und wunderschön. Diese schreckliche Person kniete vor ihm, bereit ihn zu beißen. Ihr Mund war geöffnet, ihre Zähne lauerten schon an der richtigen Stelle, und er wehrte sich nicht einmal.

Jedenfalls rannte er nicht weg, war wie mesmerisiert. Nur einen Bruchteil einer Sekunde sah sie, was die Frau tat, und kein vernünftiger Gedanke ging ihr durch den Kopf, nur die Gewissheit, dass sie es verhindern musste.

Sie sprang, die Krallen ausgefahren, Zähne gebleckt, Entrüstung im Herzen. Er gehörte ihr, niemand sonst durfte ihn beißen.

Fast im gleichen Moment begriff sie, dass die Frau das gar nicht vorhatte. Zu spät. Ihre Krallen fuhren über Haut, und es gelang ihr sogar, ein kleines bisschen zuzubeißen, ehe eine Hand sie packte und sie durch den Raum geschleudert wurde. Seine Hand oder ihre? Sie wusste es nicht.

Der Aufschlag dröhnte ihr durch ihr ganzes Sein. Man brachte ungewollte Kätzchen um, indem man sie gegen die Wand schlug. Das wusste sie. Sie hatte nicht überlegt, in welcher Gefahr sie war. Sie hatte ja nicht einmal überlegt, dass sie eine kleine Katze war. Ihre Empörung war durchaus menschlich. Nur ihre Klauen und Zähne waren die einer Katze, und vielleicht ihre Entschlossenheit, ihr Mangel an Zurückhaltung und Scheu in einer solchen kompromittierenden Situation.

Als Mädchen hätte sie diese Tür nie geöffnet, und sie wäre keinesfalls dazwischengegangen.

Als Katze hatte sie solche Hemmungen nicht. Dies war ihr Revier. Allerdings hätte Catty, die Katze, sich kaum so sehr über das Fehlverhalten des Mannes aufgeregt. Es gab einfach keinen Grund, sich deshalb derart zu echauffieren. Die Tatsache, dass sie kein Mittagessen bekommen hatte, war da weitaus ärgerlicher.

Jetzt würde er sie rauswerfen. Zurück auf die Straße. Zurück in die Gefahr, zu den Hunden und den Riesenspinnen. Sie würde da draußen sterben. Sie hatte nicht das Katzenwissen, um zu überleben. Sie konnte keine Mäuse jagen, um sie roh zu essen. Sie wusste auch nicht, wie man sich in der Tierwelt verständigte oder zurechtkam. Ein paar Tage, und dann wäre sie tot.

Sie hörte, wie er mit der Frau sprach. Er gab ihr Geld. Vermutlich gab er ihr viel mehr Geld, als ihr zustand, und Künstler waren arm, oder nicht? Hatte sie ihn jetzt aller Barschaften beraubt? Würde er hungern müssen? Würde sie hungern müssen? Vielleicht ja nicht, der andere junge Mann würde sie ja möglicherweise füttern. Ob er seinen Freund auch mit durchfüttern würde?

Die Tür zum Treppenhaus schloss sich, und sie hörte, wie Thorolf zurückkam. Gleich würde er wieder in seinem Zimmer sein. Was dann? Was würde er ihr tun?

Seine Schritte waren leise, er war barfuß. Sie hörte ihn dennoch deutlich. Sie beobachtete ihn argwöhnisch, als er zurück ins Schlafzimmer kam und die Tür hinter sich schloss. Sein Gesicht war unwirsch und düster. Er war sehr wütend. Sie roch seine Frustration, seine Enttäuschung, seine Ablehnung – und er trug immer noch nur seine Hosen. Ihr Blick war wie festgezurrt auf seinen nackten Oberkörper, und sie wunderte sich wieder, dass Männer tatsächlich wie Kunstwerke gebaut waren. Sie hatte immer geglaubt, die Statuen wären übertrieben. Die Männer, die sie kannte, hatte sie immer nur angezogen gesehen. Doch auch angezogen sahen die zumeist nicht so beeindruckend aus.

Ihr wurde klar, dass sie ihn anstarrte. Sie stand immer noch neben der Wand, an der sie aufgeschlagen war, und sah den Mann an, den sie so wütend gemacht hatte. Besser wäre es, sich zu verstecken. Weglaufen wäre eine gute Idee. Oder irgendetwas machen, was ihr Tun erklären würde. Irgendetwas, wozu man nicht reden können musste.

„Du dreistes, vorwitziges, impertinentes …“ Ihm fehlten die Worte. „Zu viel Neugier bringt einen um. Hat dir das niemand beigebracht?“

Sie sah ihn mit großen Augen an. Er würde sie doch nicht umbringen? Sie gab einen kleinen Klagelaut von sich, konnte nicht sagen, dass es ihr leid tat. So richtig leid tat es ihr auch nicht. Er hätte nicht damit anfangen sollen. Nicht mit diesem Frauenzimmer und schon gar nicht in ihrem Revier. Doch jetzt war er natürlich wütend. Riesig und stark und mächtig und wütend. Ein Berg von einem Mann beugte sich über sie.

Lauf, versteck dich, sagte ihr Instinkt, doch sie kroch nur näher an die Wand und kauerte sich auf den Boden vor Angst. Du kannst nicht gegen ihn an. Er konnte ihr den Hals mit zwei Fingern brechen und sie in den Müll werfen. Dort endeten tote Katzen, und ihm war sie nur eine Katze.

„Mau!“

Er war so schnell, dass sie ihn kaum kommen sah. Fast wirkte es, als glitte er auf seinem Zorn einher. Sie schrie auf. Einen Augenblick später hing sie hilflos in seinem Griff. Am Nacken hielt er sie, und sie konnte sich nicht bewegen.

„Weißt du, was du gemacht hast?“

Sie wusste es. Sie hatte verhindert, dass ein Mann sich mit einer Dirne abgab. Sie hatte ihn gerade sehr viel Geld gekostet und vielleicht sogar ein wenig männlichen Status. Er hatte sich zum Narren gemacht. Außerdem hatte sie jemanden verletzt, doch das war nebensächlich und tat ihr auch kein bisschen leid.

Sie hatte seine Leidenschaft unterbrochen und ihn seiner Befriedigung beraubt.

Er schüttelte sie, und ihre Gliedmaßen flogen durcheinander. Er hatte sie vollständig in seiner Macht, und ihr Leben hing an einem seidenen Faden. Zudem war es eine unbequeme Stellung und völlig würdelos.

„Wer hat schon je von einer eifersüchtigen Katze gehört, du dummes Tier!“

Er hob sie hoch, auf Augenhöhe, und sie blickte direkt in sein ärgerliches Gesicht. Sie konnte es nicht verhindern. Noch eine Träne lief ihr aus dem Auge und über das Fell. „Bitte bring mich nicht um. Bitte nicht. Ich mach’s nicht wieder. Bitte tu mir nichts, Thorolf. Du bist fast für mich gestorben. Du hast für mich ein Monster bekämpft. Du hast dich für mich geopfert, und jetzt willst du mich umbringen? Das ergibt keinen Sinn. Überhaupt keinen Sinn.“

Er drehte sich abrupt um und setzte sich auf das ungemachte, zerwühlte Bett, während er sie immer noch in der Hand hielt. Es war eine starke Hand, sehnig und muskulös und überhaupt nicht klein. Seine Faust war größer als ihr Kopf.

Dann setzte er sie ab, auf sein Knie, hielt sie mit einer Hand fest, als sie zu entkommen versuchte.

„Oh nein, du kommst mir nicht aus. Ich muss überlegen, was ich mit dir mache. Das war die peinlichste Szene meines ganzen Lebens, und ich habe schon einige erlebt. Glaubst du wirklich, ich brauche eine gottverdammte Katze, damit sie auf meine Tugend aufpasst?“

Er tat ihr weh, und sie jammerte.

Er ließ sie los, und sie sprang von seinem Knie und verschwand unter seinem Bett.

„Jetzt versteckst du dich. Du blödes Vieh, und der blöde Thorolf unterhält sich mit einer blöden Katze. Ich sollte mir den Kopf untersuchen lassen. Vermutlich würden sich die Phrenologen darum raufen, darüber eine wissenschaftliche Abhandlung zu schreiben – nachdem sie meinen Schädel saubergekratzt hätten. Dementia cattis. Oder dementia felidae?“

Sie war ganz nach hinten geflüchtet und sprungbereit. Noch hatte er sie nicht getötet. Es wäre ihm eine Leichtes gewesen. Doch er hatte es nicht getan.

Sie hörte, wie er sich auf dem Bett ausstreckte.

„Seltsamerweise kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass du mich verstehst. Nichts als Aberglaube vermutlich. Jedenfalls, nur für den Fall, dass du mich verstehst: Männer haben Bedürfnisse, du dummes Ding, und ich habe davon mehr als genug. Du magst ja noch ein jungfräuliches kleines Kätzchen sein, aber auch du musst doch wissen, was ein Paarungsinstinkt ist. Katzen paaren sich doch dauernd. Jedenfalls brannte ich darauf, dass sie mich befriedigte. Sie hätte es ja auch getan, und mit was für einer Kunstfertigkeit! Du, mein Fräulein von Katze, kannst mir nämlich nicht geben, was ich brauche, und verdammt noch mal, ich hab’s gebraucht! Ich hab’s wirklich gebraucht. Dabei war es einigermaßen egal, wer es mir machte, solange sie auch nur einigermaßen jung und willens war. Ich brauchte die Entspannung wirklich! Ich hab’s nötig! Die letzten paar Tage waren nicht eben nett zu mir.“

Sie wollte nicht zuhören, doch ihr blieb nichts anderes übrig. Sie konnte seine Stimme ebenso wenig ausblenden wie seine Aura von Frustration und Ärger und unerfüllter Begierde. Letztere war nun nicht mehr gar so sexuell, doch immer noch da, eine schwelende Sehnsucht, ein unglückliches Wollen. Hunger einer anderen Art.

Plötzlich begann er zu lachen.

„Ich habe vollständig den Verstand verloren. Da liege ich auf meinem Bett und versuche, meine männlichen Begierden meiner Katze zu erklären. Ich brauche Frauen. Ich brauche sie einfach. Ich liebe Frauen. Ich begehre sie, und ich will sie. Frauen. Keine Katzen. Nächstes Mal setze ich dich solange raus aufs Dach. Da kannst du dann draußen jammern und schreien, während ich meinen Spaß habe.“

Sie rührte sich nicht, hoffte nur, er würde aufhören, so etwas zu sagen. Wenn sie ein Mädchen wäre, würde er das nie tun. Sie wollte nichts über seine Bedürfnisse hören. Wenn es nach ihr ginge, brauchte er gar keine zu haben. Warum konnte er nicht einfach ein freundlicher junger Mann sein, der gerne Katzen streichelte – und fütterte? Überhaupt hatte sie immer noch kein Mittagessen bekommen. Er würde sie doch wohl nicht zu Strafe verhungern lassen?

„Da rede ich mit einer Katze über die intimsten Dinge meines Lebens. Vielleicht sollte ich ja wirklich dankbar dafür sein, dass du nichts verstehst.“

Das wäre auch besser, fand sie. Doch sie verstand. Die Leidenschaft in seinem Gesicht ergab nun einen Sinn. Was das Frauenzimmer da gemacht hatte, hatte ihm Freude bereitet. Genau das hatte er haben wollen. Das Weib hatte Kenntnisse und Fähigkeiten, die Catrin nicht hatte und auch nicht erlernen konnte. Es würde ihr nie gelingen, das Gesicht eines Mannes so zu ändern, sein ganzes Wesen und seine Konzentration so zu fesseln. Sie war nur eine Katze, und Katzen konnten so was bestenfalls mit anderen Katzen machen. Vermutlich. Herausfinden wollte sie es nicht.

Catty erinnerte sich an ihren Traum und das Sehnen, das sie gefühlt hatte, als der Weißhaarige sie liebkost hatte. Sie entsann sich der Leidenschaft, der Lust und des extremen Verlangens, das sie gespürt hatte. Doch das war nur ein Traum gewesen.

Dennoch hatte sie eine Ahnung, was sie da unterbrochen hatte. Sie fragte sich, ob sie selbst so etwas mit ihrem Traummann auch machen würde. Es hatte ziemlich eklig ausgesehen.

„Also, Katze, können wir uns auf etwas einigen? Ich werde dir nicht den kleinen, dürren Hals umdrehen, und du wirst dich nicht mehr in mein Liebesleben einmischen? Nie mehr?“

War das eine ernstgemeinte Frage?

„Jetzt komm da unter dem Bett vor. Wenn mir nichts weiter geblieben ist, als meine Katze zu kraulen, dann könnte ich wenigstens das tun. Blödes Vieh.“

Sie rannte los, sprang, landete weichpfotig neben ihm, die Krallen sorgsam eingezogen. Sie hob eine Tatze und tippte ihn vorsichtig an.

Der schöne junge Mann starrte sie verdattert an.

„Ich glaube es einfach nicht!“