Kapitel 45
Sutton grinste ihn an, als er zurück in die Loge kam. Ian hatte einen langen Spaziergang gebraucht, um seinen Kopf wieder freizubekommen, seine Fassung zurückzugewinnen und die Bierdämpfe aus seinem Hirn zu verscheuchen, die sein klares Denken vernebelten. Bruder Sutton hatte ihn losmarschieren lassen, ohne ihn zu hindern. Vielleicht hatte er ja verstanden, dass er Ian bis an die Grenze der Belastbarkeit gedrängt hatte.
In der Tat wusste Sutton viel zu viel. Ian begriff nicht ganz, wie der Mann plötzlich Schlüsse über Angelegenheiten gezogen hatte, die Ian sorgfältig unerwähnt gelassen hatte. Sutton würde vermutlich nicht mehr lange Adept sein. Seine Wahrnehmung und sein Verstand waren meisterlich.
Ian nahm das Buch wieder auf, das er vorm Mittagessen gelesen hatte, und ließ sich in einer Ecke der Bibliothek nieder. Für einen quadratischen Raum verfügte die Bibliothek über erstaunlich viele versteckte Winkel und Nischen, in die man sich ungestört mit einem Buch zurückziehen konnte.
Er wollte nicht gesehen werden. Er wollte noch nicht einmal hier sein, nicht gerade jetzt. Es war nicht so, dass ihn etwa Zweifel ob seiner Berufswahl plagten; es war die richtige Wahl gewesen, zumal er eine andere auch gar nicht gehabt hatte. Doch er wünschte sich, sein Onkel wäre hier. Irgendjemand, der ihn verstand.
Vielleicht sogar Graf Arpad. Es hatte so viel Kraft und Gewissheit in dessen Berührung gelegen. Ian hatte sich in die Hände des dunklen Mannes begeben, und die waren zärtlich und verständnisvoll gewesen. Der Biss selbst hatte kaum geschmerzt. Gerade nur so viel, dass man dankbar war für das Vergehen dieses kleinen Schmerzes in einer Flut von Leidenschaft und Hingabe. Seine Zweifel, sein Argwohn, seine Unruhe und selbst sein anerzogener Sinn für Sittsamkeit waren in einer Woge wilder Emotionen auf und davon gespült worden. Für kurze Zeit war der Sí ein Anker gewesen, ein Heim, jemand, an dem man sich im Sturm festhalten konnte. Er allein kannte den Teil von Ians Seele, der eine andere Wirklichkeit erfahren hatte und der ihn so qualvoll weit von jedem anderen Menschen entfernte. Ein bisschen Blut schien eine geringe Gegenleistung dafür zu sein, dass man sich für einen kurze Zeit nah und geborgen fühlen konnte.
Seltsamerweise konnte sich Ian an die Einzelheiten des Abends nicht sehr genau erinnern. Dafür war er dankbar, denn er war sich nicht sicher, ob es ihm sonst heute gelungen wäre, seine Fassung zu behalten. Vielleicht hätte er nur über die Unsittlichkeit der Begegnung gegrübelt und sich Sorgen gemacht. Doch sein Gedächtnis war wie übermalt, schön und glatt gezogen, und alles, woran er sich erinnern konnte, war die intensive Freude und der Wunsch zu geben.
Zweimal hatte der Dunkle ihn gebissen und sein Blut getrunken, einmal in den Hals, einmal an einer ... anderen Stelle. Ian erinnerte sich nur an das Gefühl vollkommener aufopfernder Hingabe. Dennoch war es kein Opfer im Sinne von Selbstaufgabe, obgleich es das sehr wohl hätte sein können. Vielmehr schien es sein freier Wunsch zu sein zu geben, zu teilen, sein Blut darzubringen. Ian hatte den leidenschaftlichen Hunger des Anderen gespürt und sich darüber gefreut. Ein Zauberbann war es, nichts als Gleisnerei; der Mann wusste seine Opfer so zu manipulieren, dass sie das, was er ihnen antat, mochten, dass sie ihr Vertrauen, ihr ganzes Leben in die Hände von jemandem legten, der – objektiv gesehen – ein lebensgefährliches Ungeheuer war. Nichts anderes stand zwischen Leben und Tod als die hauchdünne Selbstkontrolle des Feyons.
Dennoch hatte Ian es nicht nur ertragen, sondern genossen. Ein Grund dafür mochte das Gefühl sein, zu jemandem zu gehören. Er wusste, dass dies ein trügerischer Eindruck war. Der Feyon gehörte niemandem, und Ian mochte ein Freund sein, vielleicht aber auch nur Abendbrot und Zeitvertreib. Der dunkle Graf dinierte und liebte regelmäßig. Es mochte ihm kaum etwas bedeuten.
Er musste diese Gedanken dringend wieder in jene Ecken zurückverbannen, in denen sie gewesen waren. Zum einen war da die Verpflichtung, ein moralisch einwandfreies Leben zu führen. Zum anderen würde man selbst in einer Gemeinschaft von vergleichsweise weltoffenen Menschen die allzu leidenschaftliche Freundschaft zwischen zwei Männern kaum gutheißen, und sich einem blutsaugenden Feyon zum Abendessen darzubieten brachte einem mit Sicherheit auch keine Pluspunkte ein. Doch er brauchte ein Zuhause, und die Loge war eins. Was er war und was er getan hatte – und vielleicht gebeten würde, wieder zu tun – mochte ihn dieses Zuhauses berauben.
Vielleicht jedoch auch nicht. Es gab mindestens zwei Adepten, von denen Ian annahm, dass sie Männer Frauen vorzogen. Sicher war er sich nicht. Sexualität wurde in der Loge nicht besprochen – außer vielleicht als ein wenig wünschenswertes Konzentrationshindernis. Nirgends wurde darüber gesprochen, höchstens in jenen allzu freien Herrenclubs, in denen Ian nie gewesen war und in denen Gentlemen ihre silbergefassten Daguerreotypien von nackten Frauen verglichen und über deren freizügige Stellungen grinsten. Bevor sein Leben sich geändert hatte, war er zu jung gewesen, um solchen Freuden zu frönen, und nun schien es wiederum zu spät zu sein.
Unter gebildeten Menschen sprach man ohnehin nicht über derlei Themen. Dennoch sollte es durchaus ein Thema sein, worüber man reden konnte, denn es beeinflusste die Lebensentscheidungen der Menschen in so einem erstaunlich hohen Maße.
Da saß er nun und starrte in sein Buch. Forschen sollte er. Jeden anderen Gedanken sollte er aus seinem Hirn verbannen. An all das zu denken mochte ihn das Leben kosten. Doch die Erinnerung war stärker als seine Entschlusskraft oder sein Wille – dabei hielt er sich nicht für einen willensschwachen Menschen. Das mit dem Zölibat hatte in der Tat etwas für sich. Absolutes Zölibat in jeder Form. Reinheit des Geistes war schwer zu erlangen, wenn das Gedächtnis des Körpers sich nur um die Fragen drehte, was geschehen sein mochte oder nicht, was noch geschehen konnte oder nicht und ob das gut oder schlecht wäre. Zu spät, um das noch zu ändern.
„Wer ist das Mädchen?“, fragte eine Stimme hinter ihm. Er erkannte sie sofort und erschrak fast zu Tode. Valerios. Eine heiße Panikwelle erfasste ihn. Die Kommentare und die Fragen Meister Valerios’ waren so lebensbedrohlich wie ein Erschießungskommando. Daran hätte er denken sollen, bevor er sich in den Erinnerungen an leidenschaftliche Augenblicke und verbotene Früchte erging.
Er errötete und wandte sich um, während er versuchte, seine atemlose Angst zu verbergen.
„Sagen Sie mir nicht, dass Sie ausschließlich auf dieses Buch konzentriert waren“, fügte der Meister hinzu, und sein verkniffenes Gesicht wirkte noch strenger als sonst. „Ich bin nicht leicht zu täuschen. Sie kennen die Regeln.“
Ian lächelte den Mann reumütig an. Ein Mädchen. Valerios glaubte, da sei ein Mädchen. Das sollte er besser weiter glauben. Blond und blauäugig vielleicht? Mit runden Brüsten.
„Die Empfehlung der Loge ist mir geläufig. Ein Gesetz habe ich nicht gebrochen.“ Ganz ruhig sein. Der halbe Erfolg eines Meisters beruhte darauf, dass er in chaotischen Situationen nicht die Ruhe verlor. Allerdings war „ruhig“ ein schwieriges Wort, dessen Bedeutung sich Ian derzeit verschloss.
Dunkle Augen spießten ihn auf, und Ian schauderte, während er versuchte, seinen Geist freizumachen von jedem Überbleibsel an Sehnsucht und Verlangen, das ihm vielleicht noch anhaftete wie eine Zielscheibe.
„Kein Gesetz. Einen Rat. Sie sollten auf Ihre Meister hören! Wir sind die Menschen, die nie etwas ohne triftigen Grund tun. Erinnern Sie sich?“
Er erinnerte sich. Ein triftiger Grund für alles, was er je in seinem Leben tun würde – weniger verlangte man nicht von ihm und seinen Brüdern. Hatte er diese Regel gebrochen?
„Ich wollte nicht respektlos erscheinen, Meister Valerios.“
„Es ist Ihnen einfach so passiert?“ Die Stimme des Spaniers klang spöttisch.
Ian unterdrückte ein Lächeln und senkte den Blick, während er die Erinnerung an lockende schwarze Augen aus seinen Gedanken verbannte. Manches passierte einfach so.
„Ich wüsste nicht, was daran komisch ist!“
„Nichts, Meister.“
„Es ist unerhört, wie Sie sich in Gedanken im Vergnügen suhlen, während Ihre Brüder leiden.“
„Ja, Herr Professor. Es tut mir leid.“
„Wer ist sie nun?“
Ian errötete. Was nun?
„Meister, ich bin Primaner der Aroria-Loge. Nicht zuletzt deshalb bin ich auch ein Gentleman.“
„Als Primaner der Aroria-Loge sind Sie aber auch per Eid zum Gehorsam gegenüber Ihren Vorgesetzten verpflichtet.“
Ian fröstelte.
„Ja, Herr Professor. Doch ich hoffe, dass Sie in diesem besonderen Fall den Gehorsam nicht einfordern werden.“ Ausgerechnet Meister Valerios seine Abenteuer von letzter Nacht zu beichten war jenseits jeder Vorstellung. Umbringen würde es ihn zudem. Die Frage war nur, würde er vor einem Herztod an der schieren Peinlichkeit der Situation zugrunde gehen? Fast konnte er die Stimme des anderen Mannes schon hören: „Sie haben WAS getan?“
Lügen war keine Option. Einen Meister anzulügen war unmöglich. Halbwahrheiten waren also das Einzige, worauf er bauen konnte. Vielleicht gelang es ihm, den Mann an seinen eigenen Fehleinschätzungen entlangzuführen. Wenn dieser seine Befragung in einen direkten Befehl ummünzte, sofort alles zu verraten, dann war Ian verloren.
„Warum sollte ich das nicht tun?“, fragte Valerios.
„Ich würde mein Wort brechen müssen.“ Das war keine Lüge.
„Welches gegebene Wort möchten Sie nicht brechen – das, das Sie Ihrer Loge gegeben haben, oder das, das Sie Ihrer Poussage gegeben haben?“
Er versuchte, sich auf ein Mädchen zu konzentrieren. Wenn er sich nur eines vorstellen, es in seinen Gedanken verankern könnte, um es zu präsentieren. Was für ein Mädchen hätte er während seines kurzen Aufenthaltes in München treffen können, und welche junge Dame wäre auf den Charme eines ernsten und scheuen Fremdlings hereingefallen? Er hatte keine Mädchen getroffen. Er war kaum rausgekommen, und wenn dann nur, um Museen zu besuchen oder lange Spaziergänge zu machen. Außer lernen und gehorchen hatte er nichts getan. Keinerlei sittenlose Entgleisungen.
Zumindest bis gestern.
„Aber Herr Professor!“, protestierte er, als sei er entsetzt über die unerkleckliche Bezeichnung. „Ich versichere Ihnen, das war alles ganz …“
„Harmlos? War es das, was Sie mir versichern wollten?“
Im Grunde nein, doch es würde reichen müssen. Harmlos war ein gutes Wort, an dem sollte er festhalten. Er neigte beschämt sein Haupt, obgleich er keinerlei Scham verspürte, sondern nur wusste, dass man das nun von ihm erwartete. Zu tun, was von einem erwartet wurde, war schließlich das, worauf es beim Akolythendasein ankam.
„Die Sí, so sagt man, lieben Vergnügungen“, schalt der Meister giftig. „Offenbar haben Sie diesen Charakterzug durch Ihr Erlebnis geerbt. Enttäuschend. Lieber wäre uns ein dezidierteres Wissen über die Kreaturen gewesen als eine Tendenz in Richtung ihres Paarungsverhaltens.“
Ian hielt es für besser, nichts zu erwidern. Es stimmte schon, sie liebten ihr Vergnügen, auch wenn Alb dieses Vergnügen nur je in den Träumen anderer gesucht hatte und die „drei Hohen Frauen“ – sofern sie überhaupt den Sí angehörten, was er im Grunde bezweifelte – so weit entfernt von fleischlichen Gelüsten zu sein schienen, dass einem allein der Gedanke schon wie ein Sakrileg erschien. Doch das musste nicht stimmen.
Der Wassermann allerdings war gänzlich von seinen Gelüsten getrieben gewesen, und Arpad … besser nicht an Arpad denken.
„Ich finde es schon noch heraus, junger Mann“, prophezeite der Meister, doch er fragte nicht weiter. „Konzentrieren Sie sich!“
Ian spürte, wie ein hauchzarter Zauber ihn streifte, ätherisch und leicht wie eine Spinnwebe. Andere mochten ihn gar nicht wahrnehmen, er schon. Das hieß nicht, dass er etwas dagegen tun konnte. Der Meister konnte Macht gerade so elegant ausüben wie Arpad. Was nun? Was würde geschehen? Würde er nun sprechen? Beichten? Würde er nun einfach lossprudeln und all die Details seines verworrenen Privatlebens ausplaudern und währenddessen sterben?
Doch er sagte nichts. Stattdessen spürte er, wie Kühle sich über sein Gemüt legte. Das latente Sehnen war dahin. Er sehnte sich nur noch nach einer Sache: das Buch durchzuarbeiten, das er begonnen hatte. Er musste forschen. Er hatte mit unnützen Grübeleien schon zu viel Zeit verloren.
Sein Blick traf auf den Meister Valerios’, und Ian verneigte sich, ohne aufzustehen, während die Augenbraue des Älteren sich nach oben zog als einzige Bewegung in einem sonst reglosen Gesicht. Ian begab sich wieder an die Arbeit. Aus dem Augenwinkel sah er Bruder Sutton in der Nähe stehen mit einem Buch in den Händen. Er hatte gelauscht, hatte dezent den Klang der privaten Konversation für sich verstärkt, ohne dass Meister Valerios es gemerkt hatte, sonst wäre dieser sicherlich lautstark dagegen eingeschritten. Erstaunlich. In der Tat, kaum glaubhaft, und einigermaßen unverschämt.
Während der Meister mit ernster Miene davonschritt, spürte Ian den intelligenten Blick seines amerikanischen Bruders auf sich. Er zweifelte nicht daran, dass Sutton mehr verstand als Valerios. Er wusste schließlich auch mehr, und auch er war der Loge durch Eid verbunden. Früher oder später würde all dies einen Band in der Bibliothek füllen. Die Geschichte eines ungewöhnlichen Primaners und seiner tiefsten Geheimnisse.
Er hoffte, dass diese Eintragung erst posthum erfolgen würde, vorzugsweise in circa sechzig Jahren. Vielleicht geschah es aber auch schon morgen oder noch heute.
In der Stille der Bibliothek hörte Ian sein eigenes Seufzen. Er war noch nicht außer Gefahr.