Kapitel 14

Catrin saß im Salon und übte Klavier. Sie hatte sich mit der Morgentoilette Zeit gelassen, wenngleich sie es recht ungemütlich fand, sich mit kaltem Wasser waschen zu müssen. Doch ihre Stiefmutter hatte nicht vergessen, welche Maßnahme sie versprochen hatte, um Catrins Gemüt abzukühlen.

Catrin hatte sich so nachhaltig gesäubert, als müsse sie Herz und Seele mit Seife und kaltem Wasser von Berührungen schlangenverbrämter Kelche reinigen, von Sternennächten, nackten Herren und Ungeheuern in ihrem Geist. Die Bilder, die gelegentlich durch ihre Erinnerung geisterten, versuchte sie dadurch zu verjagen, dass sie an etwas Lohnenswerteres dachte. Allerdings hatte sie die Suche danach noch nicht erfolgreich abgeschlossen.

Inzwischen war ihr der Traum unendlich peinlich, und sie versuchte wirklich, nicht daran zu denken. Es hatte auch niemand mehr nach der nächtlichen Störung gefragt, nicht einmal Miss Colpin, die ihr nur eröffnete, dass ihr Klavier in ein anderes Zimmer gebracht worden war, damit die Gäste ihres Vaters auf den Soireen Gelegenheit hatten, es zu spielen.

„Ich dachte, es kommen nur Wissenschaftler, die Vaters Projekte bereden?“, erkundigte sich Catrin.

„Nein, an den Jours fixes besuchen unterschiedliche Herren deinen Vater. Philosophen, Künstler, Musiker. Sogar Richard Wagner hat ihn schon einmal mit seiner Anwesenheit beehrt.“

„Oh! Den möchte ich kennenlernen! Oh, bitte, Miss Colpin! Darf ich? Ich liebe seine Musik so sehr. Sie ist so wundervoll dramatisch.“ Ihr fiel auf, dass sie genau so kindisch klang, wie die Gouvernante sie einschätzte. Eine naheliegende Falle, sich so zu benehmen, wie es einem oktroyiert wurde. Sie war zu jung, sich dagegen zu wehren. Außerdem hätte sie den kontroversesten aller modernen deutschen Komponisten wirklich gerne kennengelernt.

Miss Colpin hätte nie ein verächtliches Schnauben von sich gegeben, da das kaum den Ansprüchen untadeligen Benehmens entsprach. Die Art, wie sie jedoch die Augenbraue hob, ließ einen genau diese Reaktion erahnen.

„Wir werden sehen.“

„Ich will unbedingt seine Hand schütteln!“ Warum konnte sie nicht einfach den Mund halten und abgeklärt, ruhig und erwachsen wirken?

„Wäre es nicht schöner, seine Musik zu hören?“, fragte die Lehrerin zurück.

„Das auch. Aber die Hand, die Tristan geschrieben hat! Ich verspreche auch, dass ich mich wirklich untadelig benehme! Vermutlich ist es ihm nur peinlich, wenn Leute wegen seiner Opern in Begeisterungsstürme ausbrechen.“

„Kaum. Ganz sicher liebt er es, bewundert zu werden.“ Der Kommentar klang so säuerlich, dass Catrin darauf verzichtete, etwas darauf zu sagen.

„Vielleicht“, fuhr sie stattdessen fort, „sollte ich mehr Klavier üben – nur falls er mich bittet, etwas für ihn zu spielen.“

Wieder gelang es Miss Colpin, auf sprechende Weise nicht verdrießlich zu schnauben.

„Die Wahrscheinlichkeit einer solchen Einladung scheint mir über alle Maßen gering.“

Dennoch war Catrin zum Klavier geeilt und spielte nun schon geraume Zeit. Die Gouvernante hatte sie nicht daran gehindert. Nachdem sie eine Weile neben ihr gesessen und sie ob ihres übertriebenen Sentiments getadelt hatte, das jedem tieferen Verständnis von Haydn zuwiderlief, war sie schließlich verschwunden und nicht zurückgekommen.

So war Catrin dann auch von Haydn sofort zu Beethoven umgeschwenkt und badete ihr Gemüt eben im ersten Satz der Mondscheinsonate. Sie spielte sie, ging darin auf und ließ sich darin treiben. Die silberne Dunkelheit der Musik durchdrang sie, und fast konnte sie wieder den Tau aus ihrem Traum an ihren nackten Füßen spüren, die Berührung seiner Hände, das Schlängeln des Bechers. Sein Blick fing sie aus einem Reich jenseits des Schlafes und berührte ihr Herz.

Ihr Fuß trat das Pedal in einem überzogenen Bedürfnis, alle Einzelnoten zu einem Klanggewebe zu spinnen. Als die letzte Note verklang, konnte sie den Sommerwind fast wieder auf der Haut spüren.

Sie erschreckte sich fast zu Tode, als hinter ihr jemand zu applaudieren begann, und stieß sich schmerzhaft ihr Bein am Klavier, als sie in einer schnellen Bewegung schuldbewusst aufsprang.

Da stand er, korrekt gekleidet, eine Saphirnadel in der dunkelgrauen Krawatte. Sein weißes Haar war ordentlich gekämmt. Sein Lächeln süß. Seine grauen Augen zeigten Wohlwollen.

„Au!“ Das würde einen blauen Fleck geben. Doch sie sollte wahrlich nicht an ihre Gliedmaßen denken, solange er im Zimmer war. Gestern Nacht hatte er diese Beine berührt. Zumindest im Traum. Wie peinlich.

Er trat vor und sah besorgt aus.

„Haben Sie sich wehgetan?“

Sie fand keine Worte. Er war so attraktiv und nett, und sie wollte nichts so sehr wie sofort davonlaufen und sich irgendwo vor ihm verstecken, wo sie sicher war. Ihr Herz krampfte sich zusammen, und sie wusste nicht weshalb. Sein Gesicht erschien ihr unendlich vertraut, so wie das eines Menschen, den man sein ganzes Leben lang gekannt hatte.

„Es tut mir leid“, fuhr er fort. „Ich wollte Sie nicht erschrecken. Ich kam, um Ihren Vater zu besuchen, doch man hat mich informiert, er sei ausgegangen. Ich wollte auf ihn warten, doch dann hörte ich jemanden mit so viel Gefühl Klavier spielen, dass ich dem Klang nachgegangen bin. Es tut mir leid. Es ist gänzlich unentschuldbar, wie ich hier einfach eingedrungen bin.“ Er nahm ihre rechte Hand und verbeugte sich darüber. „Können Sie mir vergeben?“

Wieder rang sie um Worte, die irgendwo verschwunden waren. Er hob den Kopf von seiner Verneigung, sah sie beunruhigt an.

„Haben Sie sich böse verletzt? Soll ich Hilfe holen?“

„Oh nein. Danke.“ Endlich funktionierte wenigstens ihre Stimme wieder.

„Es tut mir wirklich unendlich leid!“ Er sah sie schuldbewusst an. „Sie halten mich sicher für den unhöflichsten Menschen der Welt. Ich schleiche in ein Zimmer, in dem ich gar nicht sein sollte, und dann erschrecke ich Sie auch noch. Es war keine Absicht. Doch das entschuldigt natürlich nicht mein schlechtes Benehmen. Können Sie gehen? Oder soll ich Sie irgendwohin tragen?“

Wenn er sie trüge, wäre sie in seinen Armen. In diesen Armen wäre sie ausnehmend gerne. Unwillkürlich machte sie einen Schritt von ihm fort.

„Sehr liebenswürdig, Mylord. Doch glauben Sie mir, es ist nichts. Ich habe mich nur ein bisschen gestoßen – und ich bin ganz allein schuld daran. Es ist nichts.“

Er sah sie an, und sie suchte verzweifelt nach einem Weg aus seinem Blick.

„Das freut mich. Ich hatte schon Angst, Sie würden wieder ohnmächtig werden.“

Sie lächelte. Das zumindest war mit einem Mal ziemlich leicht.

„Ich werde selten ohnmächtig, Lord Edmond. Der kleine Schwindelanfall, dessen Zeuge Sie geworden sind, war recht untypisch. Bitte, möchten Sie nicht Platz nehmen?“

Er folgte ihrer einladenden Geste, wandte sich einem Stuhl zu, blieb aber stehen, bis sie saß.

Sie wusste nicht, was sie sagen sollte, hatte keinerlei Erfahrung darin, mit jungen Herren zu reden.

„Mögen Sie Beethoven?“, fragte sie, als ihr nichts anderes einfiel. Sie fragte sich, ob er wohl merkte, wie ungewohnt diese Situation für sie war. Im vergangenen Jahr hatte sie mit kaum jemandem von außerhalb des Haushalts gesprochen, war fast nie ausgegangen, hatte keinen der Gäste – offiziell – kennengelernt. „Mögen Sie Beethoven“ klang selbst in ihren Ohren recht abgedroschen. Aber vielleicht war es nicht das Schlimmste, das sie hätte sagen können.

Er lehnte sich eifrig vor und hielt ihren Blick mit seinen Augen.

„Aber ja“, versicherte er, „ganz besonders dieses Stück. Es ist so außerordentlich emotional.“

„Ich mag den ersten Satz am liebsten“, erwiderte sie und löste den Blick mühsam von ihm. „Er ist so romantisch und ein bisschen melancholisch. Man kann fast das Mondlicht sehen, in einem romantischen Tal …“ Ihr versagte die Stimme, und sie lief dunkelrot an. Er konnte Gott sei Dank nicht wissen, warum sie rot wurde, und erklären würde sie es ihm sicher nicht. „Sie waren letzte Nacht in meinen Träumen“ war nichts, das man einem männlichen Besucher sagen konnte.

„In der Tat“, pflichtete er ihr bei. „Eine passende Beschreibung. Obwohl ich gestehe, dass mir der dritte Satz noch besser gefällt. Er ist so voller Leidenschaft. Würden Sie ihn für mich spielen?“

Einen Moment lang war sie sprachlos, fragte sich, auf was er anspielen mochte. Dann wurde ihr klar, dass er nur eine ganz normale Frage gestellt hatte. Es konnte keine verborgene Botschaft darin enthalten sein, nichts, was nicht ihr eigener Sinn dazu interpretierte.

„Ich übe den Satz schon recht lange, aber ich fürchte, ich könnte nur eine sehr unvollkommene Interpretation anbieten. Ich kann ihn leider noch nicht fehlerfrei spielen.“

„Es ist auch nicht leicht, ihn fehlerfrei zu spielen“, sagte er lächelnd. „Der zweite Satz auch nicht.“

„Das stimmt“, entgegnete sie, „doch den mag ich nicht. Er ist so trocken und abgehackt und gar nicht romantisch.“

„Lassen Sie mich raten, Sie ignorieren ihn?“

„Wann immer es geht. Ich finde ihn außerordentlich langweilig.“ Sie lächelte ihn ein wenig schuldbewusst an.

„Das ist verständlich“, gab er ernsthaft zurück. „Man sollte seine Zeit nie mit etwas verschwenden, das man nicht schätzt. Zeit ist ein kostbares Gut.“

„Spielen Sie denn Klavier?“, fragte sie.

„Aber ja. Nur leider nicht besonders regelmäßig. Ich bin zu oft auf Reisen. Leute, die viel reisen, sollten besser Flöte lernen. Die kann man viel leichter transportieren.“

Sie lachte.

„Da haben Sie recht. Mit einem Flügel zu reisen erscheint mir durchaus umständlich. Wenn Sie gern mal spielen möchten, dann bitte, tun Sie es!“

Er lächelte, und sie fragte sich, ob sie das hätte wagen sollen. Doch anstatt höflich abzulehnen, wie sie es erwartet hatte, stand er auf, ging zum Klavier hinüber, setzte sich davor und begann, den dritten Satz der Mondscheinsonate zu spielen.

Der Klang erschallte mit spannenden Crescendos, wuchs mit jeder Note und wurde immer intensiver. Fast war er von physischer Beschaffenheit. Sie lehnte sich zurück und ließ das Konzert über sich hereinbrechen. Er war ein vorzüglicher Pianist. Vermutlich sogar der beste, den sie je gehört hatte. Er spielte das Stück genau wie sie es fühlte und wollte. Sie erkannte ihre eigenen verborgenen Gefühle darin wieder, jedes einzelne davon. Es klang ihr perfekt, denn geradeso hätte sie es gerne gespielt, wenn sie es nur vermocht hätte, ihr Herz in ihre Hände zu bekommen.

Doch so spielen können würde sie nicht, auch wenn sie die nächsten hundert Jahre übte. Sie spielte mit Gefühl. Er spielte die Gefühle selbst, und es schienen gleichermaßen auch ihre Gefühle zu sein.

Die Tür öffnete sich, und sie sprang auf, als ihre Stiefmutter in den Raum trat. Das Konzert endete abrupt. Lord Edmond stand von seinem Instrument auf und wandte sich der Tür zu.

„Frau Lybratte“, grüßte er, und seine Stimme klang so sanft und samtig, dass sich Cattys Herz verkrampfe. Sie fand nicht, dass ihre Stiefmutter eine solch bevorzugte Behandlung verdiente.

„Lord Edmond“, gab Lucilla zurück und schenkte ihm eines ihrer bedeutungslosen Lächeln. „Ich wusste gar nicht, dass wir Besuch haben.“ Sie blickte Catrin strafend an. „Doch ich hätte mir denken können, dass, wer immer hier Klavier spielte, nicht gut meine Tochter sein konnte.“

Catrin lief rot an.

„Liebe Frau Lybratte, Sie sind zu streng. Ihre Tochter hat den ersten Satz der Sonate wirklich sehr hörenswert gespielt. Es war die Musik, die mich in diesen Raum verschlagen hat, obwohl ich eigentlich auf Ihren werten Gatten wartete. Ich habe mich verleiten lassen, bitte verzeihen Sie mir mein unverschämtes Eindringen.“

„Sie kamen, um meinen Gatten zu sprechen?“, fragte Lucilla, und Catrin stellte zu ihrer Verwirrung fest, dass sie das offenbar amüsierte.

„Ich wüsste gerne mehr über sein Projekt. Doch das kann natürlich warten. Es hat keine Eile.“

„In diesem Fall …“ Lucilla machte eine Geste, die nahe legte, dass sie nicht daran schuld sein wollte, wenn er seine Zeit mit Warten verschwendete. Das Ganze war ausnehmend unhöflich, und Catrin begriff nicht, wie ihre Stiefmutter so eminent unfreundlich sein konnte. Sie fürchtete, dass er nun gekränkt sein, gehen und nie mehr zurückkommen würde.

Er jedoch ignorierte Lucillas unausgesprochenen Rausschmiss, strahlte sie nur an und fuhr fort:

„Da habe ich eine viel bessere Idee! Es ist ein so schöner Frühlingstag. Warum fahren wir nicht gemeinsam aus? Mein Kutscher wartet ohnedies draußen mit dem Wagen, und ich meine mich zu erinnern, dass München über sehr hübsche Parkanlagen verfügt.“

„Es tut mir außerordentlich leid. Ich fürchte, ich habe so gar keine Zeit im Moment, mit Ihnen auszufahren. Ich bin untröstlich.“

Das schien ihn nicht zu stören, denn er fuhr fort: „Nun, vielleicht möchten Sie in diesem Fall Fräulein Lybratte erlauben, mit mir auf einen kurzen Ausflug zu kommen? Die Frühlingsluft würde ihr sicher gut tun, und Sie können sich darauf verlassen, dass ich gut auf sie achtgebe.“

Einen Augenblick lang glaubte Catrin, Lucilla würde vor Empörung überkochen. Doch ihre Stimme wurde nur etwas leiser.

„Mein guter Lord Edmond. Sie mögen das nicht ausreichend bedacht haben! Ich kann doch ein junges Mädchen, das noch nicht einmal in die Gesellschaft eingeführt ist, nicht mit einem alleinstehenden Herrn, den sie eben erst kennengelernt hat, allein durch die Landschaft schicken. Was sollten die Leute denken?“

„Die Leute mit ihren kleingeistigen Verdächtigungen denken immer furchtbare Dinge, nicht wahr?“, lächelte er liebenswürdig.

„Touché“, dachte Catty.

„Doch ich kann mir nicht denken, dass eine Rundfahrt in einem offenen Wagen, vielleicht in Begleitung eines Dieners oder ihrer Zofe, gar so viel Kritik hervorrufen würde.“ Er drehte sich zu Catrin um. „Möchten Sie mit mir ausfahren, Fräulein Lybratte?“

Oh ja. Gewiss würde sie das. Sehr sogar. Doch sie wusste, dass ihr Enthusiasmus sie keinen Schritt weiterbringen würde.

„Wenn meine Stiefmutter es für richtig hält“, gab sie brav zurück und hoffte, dass ihre Chancen größer würden, wenn es ihr gelang, die Dame nicht zu verärgern. Sie bewunderte ihre eigene Zurückhaltung.

„Nur ein Stündchen“, bat er nochmals und senkte den Blick seiner schönen grauen Augen in den Lucillas. Die lächelte säuerlich. Sie war erstaunlich resistent gegen seinen Charme. In der Tat schien sie eher amüsiert als beeindruckt von ihm.

„Eine halbe Stunde, und ich komme mit.“ Lucilla gelang es, nicht allzu ärgerlich zu klingen. „Wir werden bei unserer Putzmacherin vorbeischauen, denn das hatte ich ohnehin vor. Sie, Mylord, werden sich entsetzlich langweilen. Doch Sie wissen, dass Ihnen das recht geschieht. Nicht wahr?“

Er verbeugte sich.

„Ich langweile mich nie in so ausnehmend schöner Gesellschaft“, sagte er und schaffte es irgendwie, so zu klingen, als meinte er beide Damen damit. Vielleicht tat er das ja?

Catrin war es egal. Sie durfte mit dem schönsten und interessantesten Mann, den es gab, ausfahren. Vielleicht würde sie ja sogar wieder von ihm träumen.

Dann würde sie diesmal seinen Wein trinken.