Norwegen kämpft um seine Neutralität

Februar – April 1940

 

Während Lillian ihrem Vater in den Februartagen 1940 dabei hilft, den Schnee vor dem Haus an der Halvdansgate wegzuschippen, bekräftigen die skandinavischen Außenminister auf einer Konferenz in Kopenhagen noch einmal die »absolute Neutralität« von Dänemark, Norwegen und Schweden. Genau die ist nämlich in den Wochen zuvor plötzlich infrage gestellt worden. Zunächst sogar durch die Alliierten, die inzwischen in ein völkerrechtliches Dilemma geraten sind. England und Frankreich sind bei ihren Überlegungen, wie sie unter dem Druck des zu erwartenden Angriffs auf Frankreich die deutsche Kriegswirtschaft empfindlich treffen können, schnell zu dem Schluss gelangt, dass das schwedische Erz aus Kiruna nicht mehr nach Deutschland gelangen darf.

Das Erz ist für Hitlers Rüstungsindustrie von großer Bedeutung. Im Winter geht der Transport nach Emden über den nordnorwegischen Hafen Narvik, der wegen des Golfstroms eisfrei bleibt. Die Briten haben die Norweger darüber in Kenntnis gesetzt, dass sie gegen diese Erzlieferungen an das Reich vorgehen werden. Außerdem haben sie Norwegen und Schweden um Durchmarscherlaubnis für jene alliierten Truppen gebeten, die Finnland im Krieg gegen die Sowjetunion unterstützen sollen.

Am 30. November 1939 hat der »Winterkrieg« zwischen der Sowjetunion und Finnland begonnen. Es geht um Gebietsansprüche Stalins. Finnland sieht seine Unabhängigkeit durch den mächtigen Nachbarn bedroht. Norwegen und Schweden begrüßen zwar, dass die Alliierten Finnland helfen wollen, verweisen aber auf ihre Neutralität und lehnen einen Durchmarsch fremder Truppen ab. Nach dem 13. März 1940 erübrigt sich die Finnland-Hilfe, weil Finnen und Sowjets einen Waffenstillstand unterschrieben haben.

Die zu verhindernden Erztransporte ins Deutsche Reich stehen aber nach wie vor auf der Tagesordnung der Engländer. Am 28. März beschließt der Oberste Alliierte Kriegsrat in London, von nun an auch die neutralen Hoheitsgewässer Norwegens zu verminen, um »den Transport von schwedischem Eisenerz nach Deutschland zu stören«. Die Briten sind sich bewusst, dass dies eine Verletzung der Neutralität Norwegens bedeutet. Aber Winston Churchill, 1940 noch Marineminister, liefert bereits am 19. Dezember 1939 in einer Denkschrift die moralische Grundlage für ein solches Eingreifen:

 

Im Namen des Völkerrechts, als tatsächlicher Vertreter der Prinzipien des Völkerbundes haben wir das Recht, ja die Pflicht, vorübergehend die Gültigkeit gerade der Gesetze aufzuheben, denen wir wieder Geltung und Sicherheit verschaffen wollen. Die kleinen Nationen dürfen uns nicht die Hände binden, wenn wir für ihre Rechte und ihre Freiheit kämpfen.3

 

Churchills Position ist allerdings auch im englischen Kabinett umstritten und zeigt das Dilemma, in dem sich die Alliierten befinden. Das kommt vor allem in einem Schreiben des Foreign Office von Anfang 1940 zum Ausdruck, in dem der norwegischen Regierung mitgeteilt wird,

 

daß es in der Politik Situationen gebe, in denen das geltende Recht und die Forderungen der allgemeinen Moral nicht mehr übereinstimmten … Die Norweger sollten doch verstehen, daß ein deutscher Sieg das Ende der norwegischen Selbständigkeit bedeute und das Ende jeder nach den Regeln des Völkerrechts geführten Politik.4

 

Der norwegische Außenminister Halvdan Koht erklärt daraufhin im Osloer Kabinett: »Wir sollten uns nicht so einstellen, dass wir auf der falschen Seite in den Krieg hineingeraten, wenn wir es nicht vermeiden können, hineingezogen zu werden.«5

Am 8. April 1940 erfährt die norwegische Regierung, dass englische Zerstörer innerhalb ihrer Hoheitsgewässer südwestlich von Narvik im Rahmen der »Operation Wilfred« tatsächlich Minen legen. Das bringt sie in eine schwierige Situation, denn die Norweger wollen ihr Land unter allen Umständen neutral halten. Man verfasst eine Protestnote gegen die britische Minenlegung und hat gleichzeitig die Sorge, dass sich die Deutschen durch die britische Aktion provoziert fühlen. Es ist eine brisante Lage, aber dennoch soll die norwegische Armee noch nicht mobilisiert werden.

In Harstad ist die 6. norwegische Division stationiert. Als ihr Kommandeur, Generalmajor Carl Gustav Fleischer, gegen Mittag von seiner Regierung durch ein Telegramm über die Vorgänge an diesem 8. April informiert wird, ordnet er sofort, ohne auf einen expliziten Befehl aus Oslo zu warten, die Mobilmachung aller in Nordnorwegen stationierten Truppen an. General Fleischer ist 1940, so der Historiker Dirk Levsen, »ohne Zweifel der fähigste aller kommandierenden norwegischen Generäle.«6

Kurz vor Mitternacht bekommt der norwegische Admiralstab davon Kenntnis, dass Schiffe unbekannter Nationalität in den Oslo-Fjord eindringen. Zuvor war schon die Meldung eingegangen, dass deutsche Kriegsschiffe Richtung Narvik unterwegs sind.

Premierminister Johan Nygårdsvold ruft daraufhin wieder die Regierung zusammen. Die Minister müssen erfahren, dass deutsche Truppen in Bergen, Trondheim, Narvik und in anderen Hafenstädten an Land gegangen sind.

Um 5.20 Uhr übergibt der deutsche Gesandte Kurt Bräuer dem norwegischen Außenminister Halvdan Koht ein Memorandum, das die norwegische Regierung über die vermeintlichen deutschen Pläne in Kenntnis setzt. Man komme nicht in »feindlicher Absicht«, sondern wolle verhindern, dass England Norwegen zu einem Kriegsschauplatz mache.

 

Ich zwang mich dazu, kein Wort zu sagen, während er sprach und ich das Ultimatum durchging. Ich redete mir zu: Du darfst dir keinen Schrecken einjagen lassen. Ich begriff von all dem, was ich hörte und las: Dass die Deutschen die Macht in Norwegen haben wollten. Dass Hitler versprach, wir würden nach dem Kriege unsere Selbständigkeit wieder erhalten, konnte keine Wirkung auf mich haben; ich wusste allzu gut, wie viel seine Versprechungen wert waren. Mit einem Nazi-Regime in Verbindung zu stehen, das würde für ein demokratisches Norwegen ganz und gar undenkbar und unmöglich sein.7

 

Während Bräuer auf eine Antwort wartet, geht Koth in sein Arbeitszimmer, um die dort versammelte Regierung zu informieren. Dann kommt er zurück und sagt: »Wir wollen unsere Selbständigkeit wahren.« Auf den Einwand Bräuers, es würde Kampf geben und es bestünde keine Aussicht auf Rettung, sagt Koth, »der Kampf ist schon im Gange.«

So nimmt der Krieg im Norden seinen Anfang. Trotz des entschiedenen militärischen Widerstandes der Norweger werden innerhalb der nächsten beiden Tage alle wichtigen norwegischen Häfen eingenommen. Gleichzeitig wird das ebenfalls neutrale Dänemark von deutschen Land- und Marinetruppen nahezu kampflos besetzt.