Der Schlachthof in Düsseldorf-Derendorf

Oktober 2010

 

Welche Bedeutung Stadt- und Ortsnamen doch bekommen, wenn ein Schicksal damit verknüpft ist. Vor allem, wenn es das unsere ist. Oder das unserer Lieben.

Mir geht es so mit Düsseldorf-Derendorf. Denn dorthin ist meine Großtante Henriette Callmann im Juli 1942 verschleppt worden. Und im September 1944 auch meine Großmutter Carola Crott.

Als ich nach Derendorf suche, finde ich im Internet einen Bericht, der mit Ilse Kassel-Müller unterzeichnet ist:

 

Im Herbst 1941 begannen von Düsseldorf-Derendorf aus Transporte jüdischer Menschen in Konzentrations- und Vernichtungslager. Meine Mutter Else Müller geb. Coppel, meine Schwester Lore Gabelin geb. Müller, mein Schwager Werner Gabelin und ich, Ilse Müller, damals ganze neunzehn Jahre alt, zählten zu den Betroffenen. Am Sonntag, den 17. September 1944 klingelte es am Vormittag an unserer Wohnungstür, und zwei Polizeibeamte forderten meine Mutter und mich auf, ein paar Sachen zu packen und mitzukommen. Natürlich begleitete mein Vater uns, und die beiden Beamten gingen mit aufgesetztem Seitengewehr hinter uns her. Ich kam mir vor wie ein Schwerverbrecher. Die Beamten brachten uns dann mit der Straßenbahn nach Krefeld und lieferten uns am Hansahaus ab. Dort wurde mittlerweile fast der ganze Rest der Juden, die noch in Krefeld lebten, versammelt. Es kam, zu unserem Entsetzen, auch meine im sechsten Monat schwangere Schwester Lore mit ihrem Mann Werner. Am späten Nachmittag wurden wir auf offenen Lastwagen zum Schlachthof Derendorf gebracht.

 

Am 17. September 1944. Dann muss Ilse Kassel-Müller zur selben Zeit wie meine Großmutter in Düsseldorf gewesen sein! Der Zeitungsartikel ist aus dem Jahr 2002. Wenn diese Ilse Kassel-Müller damals 19 gewesen ist, dann wird sie jetzt 85 sein. Falls sie überhaupt noch lebt.

Ich suche im Telefonbuch nach einer Kassel, Ilse in Krefeld, finde aber für diesen Familiennamen nur männliche Vornamen. Ich mache irgendwo den Anfang. Es meldet sich eine Frauenstimme.

»Entschuldigung, ich bin auf der Suche nach einer Ilse Kassel.« Da sagt die Frau am anderen Ende: »Das bin ich.«

 

Ich habe mich mit Frau Kassel für Anfang November verabredet. Vorher aber muss ich zu diesem Schlachthof nach Düsseldorf. Das Gebäude steht noch. Es liegt auf einem großen Brachgelände, auf dem die Fachhochschule Düsseldorf irgendwann einen Neubau errichten will. Von der Straße aus ist der rote Backsteinbau in dem dichten Gestrüpp kaum auszumachen.

Ich steige durch ein Loch im Bauzaun. Ich bin nicht der erste Besucher. Die Backsteinwände sind voller Graffiti. Auch innen gibt es kaum eine freie Fläche mehr. Selbst die Pferche und die Tröge sind mit grellen Farben bemalt. Ein kalter grauer Betonboden, der jetzt von Kippen und Glasscherben übersät ist. Ich finde überall Hinweise auf wildes Feiern, aber keinen Hinweis auf grausames Leiden.

Ich versuche mir jene Sonntage vorzustellen, an denen die Schweinepferche ausgespritzt waren und Männer und Frauen hier zusammengedrängt wurden. Eine ganze Nacht haben sie hier verbringen müssen. Wie konnte man in dieser Halle sitzen oder liegen? Auf dem Betonboden, in den Trögen? Wo hat meine Großmutter wohl gestanden, wo hat sie gelegen? Was ging ihr durch den Kopf? Wie hat sie das alles ausgehalten?

Als ich aus dem Gebäude komme, sehe ich gegenüber das Stellwerk des Derendorfer Bahnhofs. Von dort setzten sich am nächsten Tag die Züge Richtung Osten in Bewegung. Haben die Menschen in diesem Düsseldorfer Stadtteil nicht mitbekommen, was da mitten in ihrem Viertel geschehen ist? Wie ist es gewesen an jenem 18. September, auf dem Bahnsteig, nach der »grässlichen Nacht« im Schlachthof. Wird Frau Kassel es mir erzählen können?

Die Schatten der Vergangenheit fallen nicht von mir ab, als ich wieder durch das Loch im Bauzaun steige.