Die letzten Tage in Harstad

Januar 1945

 

Als Helmut im Januar für einige Urlaubstage zu Lillian fährt, fallen sie sich an der Haltestelle in die Arme. Das Haus in der Halvdansgate ist und bleibt Helmut verschlossen. Lillian fragt nach Helmuts Eltern, und er holt einen Brief seines Vaters aus Zeitz hervor und gibt ihn ihr zum Lesen:

 

Mein lieber Helmut, während meiner letzten Wuppertaler Tage gingen drei Päckchen mit Dosen von Dir ein. Ich nehme an, Fischfrikadellen und Ölsardinen. Für alles meinen Dank.

Es war schon an der Zeit, dass ich mich hier mal wieder sehen ließ, denn ich traf die halbe Portion nicht so an, wie es mein Wunsch gewesen wäre, und meine Dir bereits geäußerten Befürchtungen waren mehr als berechtigt. Nach meinem letzten Besuch ist sie andauernd von Krankheiten geplagt worden. Ein Fußleiden, an dem sie ohne Erfolg herumdokterte, und schließlich eine Erkältung, an der sie augenblicklich noch leidet. Das Schlimmste an der ganzen Geschichte waren aber nicht diese Leiden, sondern die durch dieselben hervorgerufene Gemütsbewegung. Bei ihr verstärkte sich der Gedanke, daß die häufigen Erkrankung die andere Seite veranlassen könnte, sich ihrer zu entledigen. Die Selbstaufgabe war in greifbare Nähe gerückt, was ich mit Mißbehagen bei meiner Ankunft feststellen mußte, als ihr Gesicht auch ihre Not widerspiegelte.

In den wenigen Tagen meines Hierseins ist aber schon zu meiner Freude eine erfreuliche Verbesserung eingetreten. Viel dazu beigetragen hat auch der von mir angestrebte und auch erzielte Erfolg an der maßgebenden Stelle, die mir nach der nötigen »Nachhilfe« wörtlich versicherte, nachdem ich von den Krankheiten meiner Frau offen gesprochen und auch ihre Angst nicht unerwähnt gelassen hatte, daß eine zur Verfügungstellung niemals in Frage kommen würde.

Man wird in allen Fällen eine Lösung finden, die aber nicht die Abschiebung sein wird. Du kannst Dir denken, daß nicht nur ich beruhigt war, sondern daß vor allen Dingen die halbe Portion den Boden nicht mehr unter sich wanken sieht.

 

Lillian lässt den Brief sinken. »Wie gut, dass dein Vater sie sehen und etwas für sie tun kann.« Helmut nickt und drückt ihr dankbar den Arm.

Ein paar Tage später bekommt auch Lillian Post von Heinz Crott. Schon seit einiger Zeit hat sie mit Helmuts Eltern brieflichen Kontakt, aber jetzt ist es nur noch Heinz, der ihr schreiben kann:

 

Meine liebe Lillian (von uns die kleine Hun genannt), Du musst schon entschuldigen, dass ich nicht mehr das förmliche ›Sie‹ gebrauche, aber ich kann unmöglich einem so lieben Menschenkind, das mir einen derart schönen Brief geschrieben hat und das so treu und unverdrossen zu meinem einzigen steht, weiterhin so gewissermaßen fremd gegenüberstehen …

Schon mehrmals habe ich Deinen lieben Brief gelesen, und ich freue mich immer wieder über das sonnige und warme Gemüt, das aus jeder Zeile spricht. Du kannst Dir wohl kaum vorstellen, wie teuer Du auch meinem Herzen geworden bist, und ich mag es so gar nicht ausdenken, daß meinem lieben Mädel in diesem grausigen Kriege auch nur ein Haar gekrümmt würde.

Sehr betrübt bin ich über die Mitteilung von Helmut, daß sein Verhältnis zu Deinem lieben Vater durch die neuerlichen Ereignisse eine gewisse Trübung erfahren hat. Das tut mir aufrichtig leid für beide Teile, da beide gewissermaßen unbeteiligt sind, denn weder ist Dein Vater von Haus aus ein Deutschenfresser, noch ist mein Junge auch nur im geringsten für das verantwortlich zu machen, was geschehen ist. Du kennst Helmut auch zur Genüge, um die Wahrheit dieser Behauptung unterstreichen zu können. Direkt weh tut mir aber die Erkenntnis, daß Du jetzt zu Helmut hältst und dadurch Dir den Zorn des Vaters zuziehst.

Ist das nicht ein Jammer, daß jetzt nicht meine liebe Frau da ist. Ich muß sehen, daß ich jetzt auf Umwegen wie ein Dieb Deine lieben Zeilen an sie weiterbringe. Leider wird sie nicht in der Lage sein, Dir wie ich zu antworten, jedoch darfst Du sicher sein, dass sie sich sehr, sehr freuen wird, denn die halbe Portion, wie Helmut und ich sie nennen, hat so ein feines Gespür für Herzenswärme, die aus jeder Deiner Zeilen spricht, daß sie Deinen Brief wie ein Kleinod aufheben wird.