Manchmal sind die Dinge nicht so, wie sie scheinen

Juni 1942

 

Immer, wenn sie sich mit Helmut getroffen hat, muss Lillian zu Hause erzählen, dass sie bei Blanche gewesen ist. Bei Blanche, ihrer besten Freundin. Und einer besten Freundin kann man auch die Sache mit Helmut sagen. Aber es tut weh, wenn man die Eltern belügen muss.

»Hast du denn keine Angst, dass es irgendwann einmal entdeckt wird?«, fragt Blanche eines Abends. »Du weißt, meine Mutter hasst die Deutschen, und wenn sie erfährt, dass du dich mit einem Deutschen triffst, dann will sie nicht mehr, dass du zu uns nach Hause kommst. Du weißt doch selbst, wie schnell ein Gerücht in unserer kleinen Stadt die Runde macht.« Blanche hat recht. Lillian weiß das. Aber Lillian muss ihre Liebe zu Helmut geheim halten. So viel steht fest. Trotzdem fürchtet sie, dass bald alles auffliegen wird.

Doch es gibt etwas, was sie noch mehr beschäftigt, seitdem sie sich in den jungen Mann verliebt hat, der eine Hornbrille trägt und so gar nicht wie ein Soldat aussieht.

»Wie denkst du eigentlich über das, was ihr Deutschen hier macht?«, fragt sie ihn am nächsten Abend. Sie haben sich diesmal im Wald oberhalb des Trondenesveien verabredet. »Gestern hat meine Mutter erzählt, dass zwei Männer aus Harstad erschossen worden sind. Sie sind von euch Deutschen umgebracht worden, weil sie angeblich irgendwelche Informationen nach England geschickt haben. Einer davon ist der Sohn von Frau Pettersen, unserer Schneiderin – sie hat vor zwei Jahren das Kleid für meinen Abschlussball genäht und ist immer so stolz auf ihren Sohn gewesen. Ich kenne Alf natürlich auch, er ist«, sie stockt und fängt an zu weinen, »er war so ein lieber Junge, der nie jemandem etwas Böses getan hat. Die arme Frau Pettersen, sie ist völlig verzweifelt, Alf war ihr Ein und Alles. Mit seinem Geld hat er auch die Familie ernährt. Er hat für die Firma Eriksen als Elektriker gearbeitet. Und deshalb hat er auch diesen Auftrag für die Deutschen ausgeführt, in Ramsund, wo ihr die große Festungsanlage baut.«

Jetzt sprudelt es nur so aus Lillian heraus. »Ich weiß nicht genau, was passiert ist, aber offenbar hat ein anderer Norweger ihn überredet, Zeichnungen von dieser Anlage für die Alliierten zu machen. Die hat er dann zu Rechtsanwalt Per Spilling gebracht, der sollte es wohl weiterleiten, und jetzt sind beide von euch in Setermoen erschossen worden. Es ist schrecklich!« Lillian kann nicht weitersprechen. Sie schluchzt.

Helmut schweigt.

Sie wundert sich, dass er sie nicht in den Arm nimmt. Er steht einfach bloß da und schaut nach oben, wo zwischen den Wipfeln ein Stück Himmel zu sehen ist.

»Ja, das ist furchtbar, Lillian«, sagt er dann doch nach einer Weile. »Aber glaub mir, auch wenn ich eine deutsche Uniform trage, ich habe nichts mit diesen Dingen zu tun.«

»Und warum bist du dann deutscher Soldat? Du gehörst doch zur deutschen Wehrmacht. Warum machst du da mit?«

Helmut sieht sie immer noch nicht an. Offenbar interessiert ihn nur das kleine Stück Himmel.

»Wenn du nicht mehr mit mir zusammen sein willst, kann ich das verstehen, Lillian. Du musst die Dinge so sehen, das ist mir völlig klar.« Seine Stimme klingt jetzt ein wenig brüchig. »Manchmal sind die Dinge nicht so, wie sie scheinen.«

Lillian merkt, dass er etwas zurückhält. Aber was? Sie merkt auch, dass sie nicht weiterfragen soll. Nicht jetzt.