Odda

15. Februar 1945

 

Lillian wacht auf. Sie muss einige Sekunden nachdenken, bevor sie weiß, wo sie ist. Sie ist in Odda. Bei Liv und Einar. Von irgendwo im Haus vernimmt sie die Stimme ihrer Cousine. Liv telefoniert.

Referenzpunkt Abbildung 27

 

»Lillian ist ein nettes Mädchen«, hört sie Liv sagen. »Wir werden ihr helfen, wo wir können. Sie tut mir leid. Du weißt ja von Annie in Harstad, dass sie einen Freund hat, der deutscher Soldat ist. Wir dürfen es hier niemandem erzählen. Man hört, dass alle Mädchen, die mit Deutschen zusammen sind, bestraft werden sollen, wenn der Krieg vorüber ist. Lillian sagt, dass sie auf ihren Freund warten will, was auch immer geschieht.«

Lillian steht auf und geht leise ins Badezimmer. Liv soll nicht wissen, dass sie etwas von dem Gespräch mitbekommen hat.

Liv und Einar haben sie herzlich aufgenommen. Die beiden sind seit zwei Jahren verheiratet und haben noch keine Kinder. Einar arbeitet im Rationierungsamt und verlässt jeden Morgen um 8 Uhr das Haus. Eigentlich ist er Lehrer, hat aber den Dienst quittiert, nachdem die Deutschen und die Nasjonal Samling die Macht in Norwegen übernommen haben. Das, was er jetzt den Kindern beibringen soll, will er ihnen nicht beibringen.

Nach dem Frühstück hilft Lillian ihrer Cousine beim Abwasch. So wie früher, in den gemeinsamen Sommerferien auf dem Hof des Onkels in Kilbotn bei Harstad. Für Lillian war Liv schon damals ein ganz besonderer Mensch. Und sie ist es geblieben.

Im Schlafzimmer steht eine Staffelei mit einem halbfertigen Aquarell. »Hier verschwinde ich, sooft es nur geht. Das ist meine liebste Beschäftigung«, sagt Liv. »Du weißt ja, dass meine schwedische Großmutter Malerin gewesen ist. Vielleicht habe ich ja ein bisschen Talent von ihr geerbt.«

Außerdem leitet Liv eine Gymnastikschule und – zusammen mit Einar – auch noch eine Pfadfindergruppe. »Aber zurzeit müssen wir uns zurückhalten. Die Deutschen sehen die Boy Scouts nicht gern. Ist schließlich eine englische Erfindung. Aber wir treffen uns heimlich.«

Lillian hat sich in dem Zimmer, das für die nächste Zeit das ihre sein wird, schon ein wenig eingerichtet. In der Schublade des Nachttischs liegt ihr Tagebuch und das Bündel mit Helmuts Briefen. Bevor sie das Foto, das Helmut mit einem hellen Anzug zeigt, auf die Kommode stellt, küsst sie es. Jetzt ist er über tausend Kilometer von ihr entfernt! Daneben stellt sie die Bilder von ihren Eltern und Geschwistern auf. Sie lässt sich in den Sessel fallen. Es wird sich alles fügen, da ist sie sich in diesem Moment ganz sicher. Hier ist sie auf jeden Fall willkommen, auch wenn sie einen deutschen Freund hat.

 

Am nächsten Tag treffen sie beim Einkaufen eine Bekannte von Liv. »Ich hoffe, dass Sie sich wohlfühlen bei uns in Vestlandet«, sagt sie zu Lillian.

»Das war Frau Irgens, die Vorsitzende vom Roten Kreuz in Odda«, erklärt ihr Liv später. »Ihr Mann ist im Konzentrationslager Sachsenhausen als politischer Gefangener. Die Gestapo hat ihn vor zwei Jahren abgeholt. Der Sohn ist nach der Verhaftung nach England geflohen. Jetzt ist Frau Irgens ganz allein.«

Abends gehen sie zu Einars Eltern. Die Luft ist feucht und kalt, der Boden von einer Schneedecke überzogen. Einars Mutter steht in der Haustür und nimmt sie in Empfang. »Willkommen, Lillian, heute Abend wird es in unserer Familie für dich eine kleine Feier geben.« Einars Mutter ist in der Nähe des Hardanger Fjords aufgewachsen. Sie spricht einen ganz eigenen Dialekt, den Lillian zunächst nur schwer versteht, aber sie mag die Frau mit dem Mittelscheitel und dem Haarknoten auf Anhieb. Mor Eitrem hat ein warmes Lachen, legt ihren Arm um Lillian und drückt sie fest an sich.

Bei Tisch wollen alle von Lillian wissen, wie ihre Reise war. Sie erzählt von der Fahrt mit der Lofoten, der Reise danach mit dem Zug von Trondheim nach Oslo, dann nach Odda und erwähnt auch das fingierte Telegramm, das dazu verholfen hat, von der Kommandantur wegzukommen.

»Die verdammten Deutschen! Unser ganzes Land steckt wie in einem Schraubstock fest«, kommt es von Einars Bruder Tormod.

»Dass du auch ausgerechnet bei den Deutschen in Harstad arbeiten musstest.« Die 16-jährige Björg schaudert. »Wie hast du das bloß ausgehalten? Sagen die auch im Büro andauernd ›Heil Hitler?‹« Mor Eitram will ihre Tochter dämpfen. Aber nun beginnen alle lautstark über die Deutschen und Quisling zu schimpfen. Lillian wirft Liv einen verlegenen Blick zu.

»Und wie sieht es in Harstad aus?«, sagt Liv schnell. Lillian nimmt den Ball dankbar auf. Sie erzählt von zu Hause. Von den Flüchtlingen aus Finnmark. Alle am Tisch sind jetzt ganz still geworden.

»Wie weit weg wir hier in Odda doch von alldem sind«, sagt Einar nachdenklich. »Trotz allem ist es bei uns noch friedlich.« Er setzt sich ans Klavier und schlägt einige Akkorde an. Lillian weiß sofort, welches Lied das ist, aber bevor die Tränen kommen, singt sie zusammen mit den anderen die nordnorwegische Hymne »A Eg veit meg et land langt deroppe i nord – O ich weiß ein Land ganz weit oben im Norden.«