Das Schlimmste?

Frühjahr 2008

 

Wir gehen den Flur entlang. Es riecht so, wie es in Krankenhäusern immer riecht, und auch das Licht ist so, wie es in Krankenhäusern immer ist. Im Stationszimmer richtet die Schwester die Medikamente für den Abend.

Mein Vater hat den grauen Bademantel an, den ich ihm vor kurzem geschenkt habe, die Farbe passt so gut zu seinen weißen Haaren. Ich habe meinen Vater untergefasst. Wir gehen sehr langsam. Ich fühle, wie klein und zerbrechlich er geworden ist.

Es ist sein zweiter Krankenhausaufenthalt in diesem Jahr, denn das Herz lässt ihn mit seinen nun mehr als 90 Jahren öfters im Stich. Genauso wie der Kopf und der Geist. Meinem Vater geht das eigene Leben immer mehr verloren. Ich ahne, dass ich nur noch wenig Zeit haben werde, um über das zu sprechen, was mich so bewegt. Ich befinde mich aber in einem Dilemma. Ich möchte ihm jetzt endlich ganz nahe kommen, möchte mehr von ihm wissen, damit ich ihn besser verstehen kann und mir dieses Verständnis hilft, wenn er einmal nicht mehr da ist. Aber ich will ihn auf keinen Fall mit meinen Fragen quälen, jetzt, wo er so schwach und müde geworden ist.

»Was war die schlimmste Situation in deinem Leben?«

Und dann ist die Frage doch plötzlich da. Sie ist so journalistisch, so abgenutzt, so – ach, ich ärgere mich über mich selbst. Mein Vater aber zögert keine Sekunde mit seiner Antwort. Es kommt mir fast so vor, als ob er genau auf diese Frage gewartet hätte.

»Ja, das war wohl, als ich von der Universität runter musste.«

Ich stutze und denke im selben Moment, dass er etwas verwechselt, wegen seiner Demenz, die sich in den letzten Monaten immer mehr gezeigt hat. Den Tennisverein hat er verlassen müssen, das hat meine Mutter mir erzählt, aber die Universität? Das kann eigentlich nicht sein. Wie und wo hätte er sonst promovieren können? Gewiss sind ihm die Erinnerungen seines langen Lebens durcheinandergeraten. Er wird etwas verwechselt haben. Vielleicht hatte er auch etwas ganz anderes sagen wollen. Ich will ihn nicht in Verlegenheit bringen, meinen armen alten Vater, frage also nicht nach und nehme seinen Arm nur umso fester.

 

Zwei Jahre nach seinem Tod fällt mir jener Augenblick im Krankenhaus wieder ein, als ich einen Brief finde, den mein Vater 1945 nach dem Krieg an die alliierten Behörden geschrieben hat:

 

Seit 1933 hatte ich viele Demütigungen zu erdulden, z.B. musste ich eine Zeitlang mein Studium aufgeben, bekam viele Schwierigkeiten anlässlich meiner Prüfungen als Dr. jur. und Dipl. Betriebswirt, durfte kein Mitglied von studentischen, beruflichen oder sportlichen Vereinigungen sein.

 

Dass ihm in Heidelberg einer der Professoren in SS-Uniform gegenübergesessen hat und ihn fertigmachen wollte, weiß ich von meiner Mutter. Das war im Prüfungsgespräch zum Abschluss seiner Promotion. Aber wann hat mein Vater sein Studium unterbrochen? Ich finde dafür in seinen Studienbüchern keinen Anhaltspunkt.