Treppe D

April 1940

 

An Bord der Wigbert hat alles seine militärische Ordnung, nachdem die Marine das ehemalige Frachtschiff übernommen hat. Man teilt unter Deck die vier Kompanien auf die Kojen ein, dann geht es um die Fluchtwege. Kompanie angetreten! Zuhören! Im Falle eines Feindbeschusses mit darauf folgendem Untergang hat die erste Kompanie gefälligst die Treppe A, die zweite die Treppe B, die dritte die Treppe C und die vierte die Treppe D nach oben zu benutzen. Verstanden?

Crott nimmt Haltung an und brüllt wie alle anderen: »Jawoll, Herr Hauptmann!«

Beim Abtreten fragen sich die Männer, wer denn bei einem Manöver auf der Ostsee auf sie schießen soll. Die Wigbert gehört zur zweiten Seetransportstaffel, die im Rahmen der Operation »Weserübung« am 8. April um 16 Uhr den Ostseehafen Gotenhafen verlässt. Insgesamt besteht die Seetransportstaffel aus 11 Schiffen mit 8701 Männern, 945 Pferden, 453 Fahrzeugen und 4200 Tonnen Material.20

Zunächst soll sich niemand von den Mannschaften an Deck sehen lassen. Wo es nötig ist, müssen Wolldecken übergelegt werden, damit die feldgraue Uniform nicht zu erkennen ist. Denn es besteht ja die Möglichkeit, dass man durch das Periskop eines U-Bootes beobachtet wird. Noch ist alles geheim. Erst als die Schiffe die Halbinsel Hela umfahren haben, dürfen die Offiziere die Umschläge mit den Befehlen entsiegeln. Und so ist die Überraschung zuerst bei den Offizieren und später bei den Mannschaften groß, als sie erfahren, dass es nach Norwegen gehen soll.

Am 9. April befinden sich die Schiffe südlich der dänischen Inseln. Am Morgen des 10. April nehmen die elf Schiffe eine Konvoi-Formation ein. Jetzt fahren sie in Dreierreihen. Die Wigbert fährt in einer Reihe mit der Rosario und der España, auf der General Pellengahr mit seinen Stabsoffizieren ist.21

Die See ist ruhig, und wer an Deck ist, freut sich über den ersten warmen Frühlingstag. Es ist kurz nach 12 Uhr, als General Pellengahr einen Funkspruch aus der ersten Reihe des Konvois empfängt. Die Hamm ist in der Höhe Göteborg von einem englischen U-Boot angegriffen worden. Pellengahr ist zutiefst beunruhigt, seine schlimmsten Befürchtungen sind wahr geworden: Im Kattegatt lauern britische U-Boote22. Die nächsten Stunden verlaufen zwar ohne besondere Vorkommnisse, aber in den frühen Abendstunden melden auch die Wigbert und die Friedenau Treffer.

Schiffsposition 57 Grad 27 Minuten Nord, 10 Grad 46 Minuten Ost: Der Gefreite Crott liegt in seiner Koje. Plötzlich wird das Schiff von einem starken Schlag erschüttert. Crott fliegt aus seiner Koje und findet sich auf dem Boden wieder. Das Durcheinander unter Deck ist unbeschreiblich.

»Wir haben einen abgekriegt, raus, nach oben«, brüllt Crott und seine Augen suchen nach der für seine Kompanie vorgesehenen Treppe, aber die ist nicht mehr vorhanden. Er bahnt sich einen Weg durch das Gewühl, findet endlich die einzige noch bestehende Treppe und stürzt nach oben. Das Schiff neigt sich schon bedrohlich mit dem Heck ins Wasser, und die ersten Soldaten lassen sich ins Meer fallen. Plötzlich brüllt eine Stimme: »Jetzt springt niemand, jetzt springt Oberstleutnant Dr. Pohl!«

Darauf ruft Crott: »Was heißt hier Pohl? C kommt vor P, jetzt springt Gefreiter Dr. Crott!« Schon hat er seine schweren Stiefel ausgezogen und springt mit der Schwimmweste in die Tiefe. Nur schnell weg, bevor das Schiff sinkt und alle mit nach unten zieht.

Das eiskalte Wasser des Kattegatts nimmt ihm fast den Atem, aber er schwimmt mit aller Kraft los, denn er schwimmt um sein Leben. Um ihn herum andere Köpfe, zappelnde Arme und furchtbare Schreie von denen, die im auslaufenden Öl verbrennen.

Crott schwimmt immer weiter, nur weg vom Schiff. Weg von dem drohenden Sog. Nach einer Weile wagt er einen Blick zurück und sieht die Wigbert untergehen. Ein Soldat, der sich in die oberste Mastspitze geflüchtet hat, wird in hohem Bogen über das Meer geschleudert.

Crott werden die Beine lahm, die Kälte kriecht an ihm hoch. Überall Wrackteile um ihn herum, überall Schreie. Köpfe verschwinden und tauchen nicht mehr auf. Plötzlich wird er ganz schwer und er merkt, dass sich ein Mann an ihn klammert: »Mama, Mama, hilf mir.« Crott hat noch die Kraft, dem Armen zu helfen, sich an einer Holzplanke festzuhalten. Plötzlich sieht er die Feldküche neben sich schwimmen und zwei Soldaten, die sich an ein Ofenrohr klammern. Kurz darauf sind sie tot, erschossen von einem deutschen Motor-Torpedoboot. Es hat das Ofenrohr mit dem Periskop eines englischen U-Bootes verwechselt.

Crott wird immer müder und seine Kräfte schwinden zusehends. Dann kann er nicht mehr und will aufgeben. Aber auf einmal kommt doch wieder dieser Lebenswille, und er kämpft verzweifelt weiter. Später wird er sagen: »Man stirbt in Etagen, es wurde immer kälter bis nach oben.«

Sein Durchhaltevermögen wird belohnt, als sich ein deutsches Schnellboot nähert. Man wirft ihm ein Tau zu. Aber er bekommt es mit seinen steif gefrorenen Händen nicht zu fassen. Die Leute an Deck versuchen es mit einer Schlinge. Es gelingt ihm mit letzter Kraft, sich einzuhängen. Crott wird an Bord gezogen.

Unter Deck liegen Tote und Lebende nebeneinander. Crott bekommt einen trockenen Drillich. Dann fängt er an zu zittern. Eine Stunde lang.

Auf einmal Alarm – wieder feindlicher Beschuss …

»Noch einmal springe ich nicht«, sagt Crott zu dem Mann, der aus dem Maschinenraum kommt.

»Unbesorgt, Kamerad – wenn wir hier einen verpasst bekommen, lohnt sich das Springen sowieso nicht mehr.«

 

Ich weiß jetzt, dass es das britische U-Boot Triton war, das den vernichtenden Torpedo auf die Wigbert abgeschossen hat. Das U-Boot versenkt am 10. April aus dem Geleitzug der 2. Seetransportstaffel die Dampfer Friedenau (5219 BRT) und Wigbert (3648 BRT) sowie den Begleiter V 1507/Rau 6. So steht es jedenfalls in den einschlägigen Veröffentlichungen. Der Kommandant der Triton ist Lieutenant-Commander Edward Fowle Pizey. Die Triton hat bereits am 8. April zehn Torpedos gegen die deutschen Kreuzer Blücher, Lützow und Emden abgefeuert, diese Schiffe aber nicht getroffen.

Während ich das lese, merke ich, dass ich es lieber gehabt hätte, dass die Briten am 10. April mit ihren Torpedos das Schiff meines Vaters verfehlt hätten. Andererseits bin ich ja auf ihrer Seite. Vor allem mit meiner norwegischen und meiner moralischen Hälfte. Aber die Briten haben eben auch meinen Vater getroffen und ihn fast umgebracht.

Ich suche im Internet nach einem Foto von Edward Fowle Pizey, ich will einfach sein Gesicht sehen, und ich finde ein kleines unscharfes Bild, das einen etwas milchgesichtigen jungen Mann zeigt, der den Spitznamen »Bertie« trägt.

Zum Zeitpunkt der Torpedierung am 10. April ist er gerade 34 Jahre alt, fast acht Jahre älter als mein Vater. Bertie ist am 30. Mai 1983 gestorben. 25 Jahre vor meinem Vater. Ich erschrecke, als ich merke, dass mich das mit einer gewissen Genugtuung erfüllt.