Abschlussball

Dezember 1939

 

In Harstad ist Lillian in diesen Dezembertagen mit ihrem Kleid für den Abschlussball beschäftigt. Tore hat sie gefragt, ob sie seine Tanzpartnerin in der Offiziers-Tanzschule sein will. Der Termin des Abschlussballs soll der 7. Januar 1940 sein. Die Witwe Pettersen, eine Schneiderin aus der Nachbarschaft, ist seit Wochen damit beschäftigt, das Ballkleid und das dazu passende kleine Bolero-Jäckchen zu nähen. Beides aus hellgrüner Taftseide, so grün wie Lillians Augen.

Heute geht sie schon zur dritten Anprobe in die Sverresgate, wo Frau Pettersen mit ihren Söhnen Robert und Alf wohnt. »Alf ist jetzt bald fertig mit seiner Elektrolehre und hat schon die Zusage für eine Anstellung, er ist so lieb und hilfsbereit«, erzählt Frau Pettersen, während Lillian sich vorsichtig das Kleid überstreift, »und wir können seinen Lohn hier im Hause wirklich gut gebrauchen.«

Lillian nickt der Schneiderin mitfühlend zu und hat dann nur Augen für ihr Kleid. Sie dreht sich vor dem Spiegel und findet sich wunderschön in ihrer ersten Ballrobe, den dazu passenden Schuhen und der kleinen Handtasche, die sie vorsichtshalber zur Anprobe mitgenommen hat. »Du siehst sehr schön aus, Lillian«, bestätigt Frau Pettersen und schaut sie zufrieden an. »Ich muss nur den Saum noch umnähen, dann kannst du dein Kleid morgen Abend abholen.« Lillian umarmt die Schneiderin und läuft fröhlich die Treppen hinunter. Den 7. Januar kann sie kaum erwarten.

Als dieser Tag endlich da ist, holt Tore sie pünktlich um sieben Uhr zu Hause ab. Er sieht sehr erwachsen aus in seiner Uniform und den weißen Handschuhen. Es ist das erste Mal, dass er zu Lillian nach Hause kommt, und sie ist ein bisschen verlegen, als sie ihn ihren Eltern vorstellt. Eigentlich ist es nicht üblich, dass männliche Freunde zu den Familien der Töchter kommen. Lillian hat Tore durch Annemarie, eine Freundin aus dem Skiclub, kennengelernt. In Annemaries Elternhaus geht es viel freier und großzügiger zu als in den anderen Familien, sie darf immer junge Männer mit nach Hause bringen. Das wissen Lillians Eltern, halten es aber selbst nicht für angebracht.

»Ihr werdet sehen, Tore ist ein sympathischer, höflicher junger Mann. Sein Vater ist Förster«, hat Lillian ihnen erzählt und gehofft, dass sie das für ihn einnehmen würde.

»Na, dann passen Sie mal gut auf unsere Lillian auf!« John Berthung schüttelt dem jungen Offiziersanwärter freundlich die Hand. Annie wünscht den beiden einen schönen Abend, ruft aber noch hinterher: »Lass es nicht ganz so spät werden!«

An der Garderobe der Offiziersschule geben die Frauen ihre Mäntel ab und tauschen ihre Stiefel gegen feine Schühchen. Vor dem großen Saal wartet General Carl Gustav Fleischer, der Kommandeur der 6. norwegischen Division, mit seiner Frau darauf, an der Spitze der Polonaise den Abend zu eröffnen. Es ist jener General, der drei Monate später die Mobilmachung in Nordnorwegen anordnen wird, ohne einen entsprechenden Befehl aus Oslo abzuwarten.

An diesem Abend im Januar 1940 wollen aber weder er noch die Offiziere und Unteroffiziersanwärter, die ihm mit ihren Damen in den Saal folgen, vom Krieg etwas wissen.

»Das habt ihr aber schön geschmückt«, flüstert Lillian Tore zu, während die beiden nach ihren Tischkarten suchen und schließlich in der zweiten Reihe ihren Platz finden. Auf der rotgold leuchtenden Bühne spielt die in ganz Nordnorwegen bekannte Ready Band Glenn Millers In The Mood.

Es wird ein großer Abend, und die Tanzschüler können nun zeigen, was sie in den letzten Monaten gelernt haben. Ihre Tanzlehrerin Hansia Rue Dösen, eine etwas steife Dame, sitzt am Tisch des Generals und verfolgt selbst an diesem Abend die Tanzenden mit prüfenden Blick. Lillian schwebt in ihrem grünen Ballkleid im Arm von Tore durch den Saal. Sie fühlt sich herrlich und wünscht, dass dieser Abend niemals ein Ende nehmen wird. Tore wird nicht müde, ihr immer wieder Komplimente zu machen. In den Tanzpausen gibt es ein Bühnenprogramm mit Sketchen und anderen Darbietungen. Tutti Brun steppt auf der Bühne und imitiert den bekannten amerikanischen Tanzstar Eleanor Powell. Später tanzt Ada Jensen auf Spitze den »Schwanentod«. Lautlos bewegt sie sich auf ihren Schuhen, wunderschön anzusehen in ihrem weißen Ballettkleid, und die Begeisterung ist groß. Hansia Rue Dösen, die auch ihre Choreografin ist, ist aufgestanden und beobachtet gespannt Adas Bewegungen. Sie scheint zufrieden zu sein. Später tanzt Ada einen temperamentvollen ungarischen Bauernmädchentanz, und in ihren roten Stiefeln und dem Kostüm in den kräftigen Farben wirkt sie sehr echt. Es gibt großen Applaus. In einem der Seitenräume ist ein Buffet aufgebaut, aber Alkohol ist verboten.

Nachdem der General seine Rede gehalten und allen Beteiligten für den gelungenen Abend gedankt hat, spielt die Band um Mitternacht zum letzten Tanz auf. Der Ball ist vorbei. Hand in Hand gehen Lillian und Tore durch die kalten nachtstillen Straßen und bleiben vor dem Gartentor der Halvdansgate 16 stehen. Jetzt tanzt nur noch das Polarlicht in unterschiedlichen Grüntönen, und der Schnee liegt funkelnd auf der Stadt. »Es war ein schöner Abend, nicht wahr?« Sie fühlt, wie sich sein Arm um ihre Schultern legt. Dann sieht sie Licht im Wohnzimmer. Sie weiß, dass man sie erwartet.

»Danke, Tore, ich muss jetzt reingehen«, sagt sie und küsst ihn schnell auf die Wange. Lillian ärgert sich an diesem Abend über ihre Eltern. Sie hätte lieber ein bisschen länger mit Tore so vor dem Haus gestanden. Sie weiß, dass seine Kameraden mit ihren Tanzpartnerinnen noch zu Björg nach Hause gegangen sind, um weiterzufeiern, denn deren Eltern sind nicht da.

Nachdem sie Annie und John kurz berichtet hat, wie der Abend verlaufen ist, geht Lillian in ihr Zimmer. Sie ist selig, das Leben ist wunderbar! Wie es wohl mit Tore weitergeht? Auf jeden Fall, da ist sie sich sicher, will sie nicht so schnell heiraten und Kinder bekommen. Sie träumt von einer guten Ausbildung. Ja, sie will Archäologin werden, denn das hat sie immer fasziniert. Stundenlang kann sie sich in die Bücher über Troja und über das alte Ägypten vertiefen, die unten in den Regalen in der Bibliothek ihrer Eltern stehen.