Post aus Heidelberg

Oktober 2010

 

Ich erhalte Post von der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, und nach der Lektüre klären sich für mich manche Fragen. Aber zunächst einmal bekomme ich einen Schrecken. In dem Umschlag sind auch kopierte Dokumente zur »Geschichte der jüdischen Studenten« – einer Ausstellung der Universität aus dem Jahr 2002. Das Exponat 178 in Vitrine 26 zeigt eine »Namensliste der jüdischen Studenten 1934«. Unter Nr. 7 steht »Crott, Helmut jur.«

2002 lebte mein Vater noch. Er hat – dessen bin ich mir sicher – von der Ausstellung in Heidelberg nichts gewusst. Wie hätte er wohl reagiert, wenn er von dieser Liste erfahren hätte, die sogar im Internet abrufbar ist?

In den Unterlagen aus Heidelberg befinden sich außerdem Kopien von Briefen, in denen mein Vater den Rektor der Universität um die Zulassung zum Studium bittet. So schreibt er 1935:

 

Als Christ nicht rein arischer Abstammung war ich bereits im Sommersemester 1934 immatrikuliert. Ich bitte, mich zur Fortsetzung meines Studiums in Heidelberg erneut zuzulassen.

 

Und 1936, also nach den Nürnberger Gesetzen:

 

Als Mischling 1. Grades (vorl. Reichsbürger) bitte ich, mein Studium an der Universität fortsetzen zu können.

 

Was muss wohl in ihm vorgegangen sein, als er sich gezwungen sah, diesen Brief zu schreiben? Und wie wird er sich gefühlt haben, als er seine »Mischlingseigenschaft« angeben musste, diese von den Nationalsozialisten verordnete neue »Identität«?

 

Die an der Universität Heidelberg immatrikulierten jüdischen Studenten konnten seit dem Sommersemester 1933 nur unter erheblichen Einschränkungen ihr Studium fortsetzen. Als ›nicht arische‹ Hochschüler waren sie aus der »Deutschen Studentenschaft« ausgeschlossen und verloren zunehmend ihre Rechte: die Unterstützung durch das Studentenwerk (1933), Prüfungszulassung (Einschränkungen seit 1934), schließlich das Promotionsrecht (1937).

Durch das Wirken überzeugter Regimeanhänger erhielt Heidelberg nach 1933 schon bald den Ruf einer ›braunen‹ Universität. An die Stelle des einst »lebendigen Geistes«, wie von Friedrich Gundolf im Leitspruch der Universität formuliert, trat mit Unterstützung der Universitätsleitung im Verlauf der 30er Jahre der »deutsche Geist«. Über Zweidrittel des Lehrkörpers waren Mitglieder der NSDAP.57

 

Deshalb verlassen mehr als die Hälfte jener »Nichtarier« bereits im Herbst 1933 die Hochschule, für das Wintersemester haben sich nur noch 79 eingeschrieben, im darauf folgenden Sommersemester 1934 sind es nur noch 63, darunter auch mein Vater.

Nach der juristischen Zwischenprüfung wechselte er im Sommer 1934 von Frankfurt nach Heidelberg, um schon ein Semester später nach Köln zu gehen – und dann nur mit dem Studienfach Betriebswirtschaft.

Warum dieser Wechsel? Und warum plötzlich kein Jura mehr?

Diese Merkwürdigkeiten im akademischen Lebenslauf meines Vaters haben ihre Ursache in den neuen nationalsozialistischen Gesetzen und Erlassen. Das verstehe ich jedoch erst ganz, als ich eine Nachricht von Prof. Dr. Klaus-Peter Schröder vom Heidelberger Institut für geschichtliche Rechtswissenschaft (Germanistische Abteilung) erhalte:

 

Nach der am 22.7.1934 erlassenen Reichsjustizausbildungsordnung waren Studierende nichtarischer Abstammung von den beiden Staatsexamina ausgeschlossen. Einzig die Promotion – da die Doktorarbeit nicht mit einem Beamtenstatus verknüpft war – verblieb ihnen als Möglichkeit eines gewissen Studienabschlusses: Die Ablegung der Staatsexamina gehörte nicht zu den Zulassungsvoraussetzungen, wohl aber ein zweisemestriges Studium an der Heidelberger Universität und die Anfertigung von vier Klausuren.

 

Die Reichsjustizausbildungsordnung hatte also für meinen Vater zur Folge, dass er als »Halbjude« weder Richter, Anwalt, Notar noch Syndikus werden oder anderweitig in den Staatsdienst treten konnte, weil ihm die Voraussetzungen dazu, nämlich die Staatsexamina, fehlen. Das wird er also damit gemeint haben, als er mir 2008 im Krankenhaus sagte, dass er »von der Universität runter« musste. Im Sommer 1934 gab es für ihn zunächst in Heidelberg keine Möglichkeit, das juristische Studium mit einem Examen abzuschließen. Daraufhin ist er nach Köln gewechselt und hat sich auf Betriebswirtschaft konzentriert. Dort muss er dann erfahren haben, dass es für ihn in Heidelberg noch die Möglichkeit einer Promotion in Jura gibt. Bei Professor Dr. Karl Engisch.

Ich möchte mehr über diesen Professor wissen und finde in der Süddeutschen Zeitung seinen Nachruf. Darin wird erwähnt, dass Engisch trotz seiner NSDAP-Mitgliedschaft aufrecht blieb. Er protestierte gegen SA-Posten vor den Hörsälen nach einem Aufruf des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbundes zum Boykott der Vorlesungen nichtarischer Professoren und kuschte nicht vor der Gewalt. »In Engischs Werken ist nichts zu finden, was den Nazi-Machtmachern zum Munde geredet hätte. Er gehörte zu den wenigen, die die Selbständigkeit der juristischen Methode gegen den braunen Geist, der alles, auch die Rechtswissenschaft, zu durchdringen suchte, verteidigte.«58

Ob das der Grund dafür ist, dass in der Doktorarbeit meines Vaters einige denkwürdige Formulierungen erscheinen? Statt auf den Führer und das Führerprinzip bezieht sich mein Vater auf »die Führung«, einen von der Führerideologie abweichenden Begriff, deren subversiven Grundton ein anderer Doktorvater vielleicht rot angestrichen hätte.

Der Hochschullehrer Karl Engisch gab meinem Vater die Möglichkeit, sein Jurastudium mit einem Titel abzuschließen, indem er sich über die Empfehlung des Reichserziehungsministeriums hinwegsetzte, »nationales Empfinden zu zeigen und keine Juden als Doktoranden anzunehmen«59.

Es wird meinem Vater sehr viel bedeutet haben, dass dieser Professor ihn angenommen hat. In seinem Heidelberger Studienbuch lag noch eine Postkarte von Engisch. Sie muss für ihn, der sonst kaum etwas aufzuheben pflegte, etwas ganz Besonderes gewesen sein. In dem Schreiben macht Engisch meinen Vater auf ein mögliches Thema für die Doktorarbeit aufmerksam und gibt Ratschläge zur Lektüre. Vor allem aber heißt es in der Anrede, und das war vielleicht noch viel wichtiger, »Sehr geehrter Herr Crott«.