Heil Hitler, Herr Crott!

Winter 1939

 

Danzig. Zweitausend Kilometer südlich von Harstad. Aus Herrn Dr. Helmut Crott ist inzwischen der Gefreite Crott geworden. Statt des Geschäftsanzugs der Londoner City trägt er nun die feldgraue Uniform der deutschen Wehrmacht. Und zu der passt kein Regenschirm, sondern der Karabiner 98k. Crott ist dankbar, dass er wenigstens Lenchen und Lieschen hat, um die er sich kümmern muss und die in diesem verdammt kalten Januar, dem kältesten seit hundert Jahren mit Temperaturen bis zu 28 Minusgraden, ein bisschen von ihrer Wärme an den jungen Soldaten abgeben.

Lenchen und Lieschen sind zwei Haflinger-Pferde und tun ebenso wie Crott seit dem Spätherbst 39 ihren Dienst in der Wehrmacht. Genauer gesagt in der 196. Divison, die als Infanterietruppe der 7. Aufstellungswelle im Wehrkreis XX in Danzig zusammengezogen worden ist. Sie wird kommandiert von Generalmajor Richard Pellengahr.

Am frühen Morgen des 17. Dezember läuft Crott noch vor dem ersten Drill zu seinen beiden Schützlingen hinaus auf die Koppel. In der Hosentasche hat er drei Zuckerstücke, die er sich am Abend vorher in der Kantine eingesteckt hat. Dann steht er zwischen den beiden Pferden, die ihre weichen Mäuler an seiner Schulter reiben.

»Ihr könnt jetzt euer Gedicht aufsagen!«, flüstert er ihnen zu. »Ich habe heute nämlich Geburtstag. Den 26., falls euch das was sagt. Zur Feier des Tages gebe ich einen aus«. Zunächst bekommen Lenchen und Lieschen ihr Zuckerstück, dann ist er selbst an der Reihe.

»Das richtige Fest steigt erst heute Abend mit Tanz und Buffet. Wollt ihr alleine oder in Herrenbegleitung kommen?« Die Pferde schütteln die Köpfe.

»Also alleine.«

Crott greift in die flachsfarbenen Mähnen der beiden Tiere und bedankt sich für die Zusage. Dann wird ihm der Hals auf einmal eng. Weil ein Soldat aber nicht weint, macht Crott kehrt und rennt wieder zurück zur Kompanie.

 

Seit dem 18. Juli 1939 ist Crott nun Soldat. Aus den sechs Wochen Wehrübung sind bis jetzt fünf Monate Wehrdienst geworden. Die Mannschaften in Pellengahrs Division kommen aus dem Rheinland und aus Westfalen. Die ersten Wochen hat Helmut mit der Grundausbildung in Wesel verbracht, aber der Drill findet hier im Osten des Reiches statt. Pellengahrs Stab befindet sich in Zoppot, nordwestlich von Danzig. Die drei Infanterieregimenter sind auf verschiedene Orte in West- und Ostpreußen verteilt. Zum 345. Regiment gehört im Winter 1939/1940 auch Crott. Immer wieder gibt es Verlegungen, und Crott und die anderen fühlen sich in diesem ersten Kriegswinter manchmal eher als Landstreicher denn als Soldaten.

In den Danziger Neuesten Nachrichten steht, dass wegen der Witterungsverhältnisse Dreiviertel der Kinder in der Schule fehlen. Die Öfen schaffen es bei dem anhaltenden Oststurm einfach nicht, den Klassenraum zu erwärmen, und die Tinte gefriert in den Tintenfässern.

Obwohl Crott den Sport und die Bewegung liebt, macht ihm der harte Drill doch zu schaffen. London ist in jeder Hinsicht weit, aber manchmal, wenn er abends erschöpft mit den anderen in dem Klassenzimmer der alten Schule liegt, in dem sie zum Schlafen untergebracht sind, träumt er sich weg und denkt an seine Zeit in London. Er denkt an Bobby Riggs, den Amerikaner, der im Juli 1939 nach dem Sieg über seinen Landsmann und Doppelpartner Elwood Cooke Wimbledon-Sieger geworden ist. Helmut Crott hatte für das Turnier, das das letzte vor dem Krieg sein sollte, zwar keine Karte bekommen können, aber er kennt Wimbledon. Schon bald nach seiner Ankunft in London ist er dorthin gefahren, um sich den berühmten Rasen aus der Nähe anzusehen.

Crott mag den weißen Sport, seitdem er sich als Balljunge ein paar Pfennige im Wuppertaler Tennisclub verdient hat. Das Spielen konnte er sich dabei mehr oder weniger durch Anschauung selbst beibringen. Sein Talent ist so auffallend, dass Anfang der dreißiger Jahre nach einem Spiel ein Mann auf Helmuts Vater zukommt und seinen Sohn für die Nationalmannschaft werben will. Zu der Zeit macht ein Gottfried von Cramm von sich reden, der später die Nummer zwei der Weltrangliste werden soll. Von Cramms Eltern haben ihrem Sohn erlaubt, sein Jura-Studium abzubrechen und sich ganz auf die Tenniskarriere zu konzentrieren. Helmut Crotts Vater vertritt jedoch eine andere Auffassung. Sein Sohn soll ebenfalls Jura studieren. Aber bitte mit Abschluss.

Trotzdem bleibt Tennis die große Leidenschaft Crotts. Obwohl er mit seinen 1,68 kein Spieler-Gardemaß hat, ist er durch sein intelligentes und variables Spiel sehr erfolgreich. Niemand im Klub kann die Stoppbälle so gefühlvoll setzen, niemand die Lobs so effektvoll über den Gegner hinwegspielen, und niemand ist so schnell wie er vorn am Netz oder zurück an der Grundlinie.

Der junge Crott ist überaus beliebt in seinem Tennisclub, man schätzt dort nicht nur sein schönes Spiel, sondern auch seinen Humor, seinen Witz, und die Spielerinnen vor allem seinen Charme.

Als er an einem Wochenende im April 1933 aus Frankfurt nach Wuppertal fährt, um wieder einmal in seinem Klub Tennis zu spielen, wird er allerdings hinausgeworfen.

Auch jetzt, sieben Jahre später, ist ihm noch immer alles so gegenwärtig, als wäre es erst gestern gewesen: Er kommt in den Klub, Maser, der Vorsitzende, fasst ihn am Ärmel und zieht ihn in eine Ecke: »Mensch, Helmut, das geht nicht mehr! Du weißt doch, wie die Dinge im Reich jetzt stehen. Mir sind die Hände gebunden, aber du kannst einfach nicht mehr in unserem Klub spielen. Heil Hitler, Herr Crott …«

Crott wirft sich unter seinem Soldatenmantel hin und her.

»Heimweh, Kamerad?«, brummt der Mann neben ihm auf dem kalten Steinfußboden. »Jetzt schon? Der Krieg hat doch noch gar nicht richtig angefangen.«