Ich werde weggehen

Harstad, November 1944

 

Lillian ist erst spät am Abend nach Hause gekommen und will deshalb heute am Sonntag etwas länger schlafen. Doch plötzlich heulen die Sirenen. Nach über vier Jahren gibt es wieder Fliegeralarm in Norwegen.

Lillian springt aus dem Bett und zieht sich an. Ihre Eltern, Pus und Bjørn warten schon unten auf sie. Dann rennen alle zusammen zum nächsten Schutzraum, der bereits ziemlich voll ist. Er muss jetzt nicht nur für die Menschen aus Harstad reichen, sondern auch für die Vertriebenen aus dem Norden, die man im Gotteshaus Bethel einquartiert hat. Jeden Tag kommen neue Flüchtlinge dazu, und das, was sie berichten, ist erschütternd.

Der Alarm dauert 20 Minuten, dann dürfen alle wieder nach draußen. Die englischen Lancaster-Bomber haben abgedreht. Erleichterung will sich deshalb nicht einstellen. Diesmal ist man davongekommen. Aber was ist beim nächsten Mal?

Als sich die Berthungs wieder im Esszimmer versammeln, ist alles Sonntägliche verflogen. Umso größer ist das Erstaunen, als John vorschlägt, dass man zum Grunnvannet gehen soll, um Eis zu laufen. Das Wetter sei einfach zu schön und man wolle sich nicht jedes Vergnügen vom Krieg nehmen lassen.

Abends schaut Lillian aus dem Fenster über den Vågsfjord. Der Mann, den sie liebt, ist jetzt irgendwo da oben im Norden. Sie stellt sich vor, wie er hundert Kilometer weiter auf jene fernen Gebirgsspitzen im Süden schaut und an das Mädchen denkt, das dort lebt und ihn liebt. Sie setzt sich hin und schreibt:

 

Min kjære Helmut, da ich Dich telefonisch nicht erreichen kann, versuche ich es mit diesem Brief. Alle Gerüchte über die schrecklichen Geschehnisse im Norden machen uns sehr nervös. Zu Hause werden die Möbel zum Teil weggeschafft, und wahrscheinlich werden wir nach Kilbotn evakuiert werden. Morgen kommt der Lastwagen und holt die Sachen.

Wir haben hier in den letzten paar Tagen viel Unruhe gehabt, und gestern war es besonders schlimm. Bis zu drei Mal Fliegeralarm. Ich denke immer an Dich und Deine Eltern, besonders an deine Mutter. Ich ersehne Post von Dir und kann nur hoffen, daß die augenblickliche Situation bald ein Ende hat. Es ist kaum auszuhalten. Ich vermisse Dich so sehr. Deine Lillian.

 

In den folgenden Tagen wird die Halvdansgate tatsächlich teilweise ausgeräumt. John und Annie wollen alles, was ihnen wichtig ist, bei Verwandten auf dem Land unterbringen. Auch ein Koffer mit Lillians persönlichen Sachen, ihren Büchern und lieb gewonnenen Erinnerungsstücken kommt auf den kleinen Lastwagen. Die Briefe von Helmut behält sie natürlich bei sich. Wenn sie sie nicht mit sich herumtragen kann, liegen sie in der hinteren Ecke ihres Kleiderschranks. Der soll nämlich nicht abgeholt werden. Trotzdem, das Haus, die Zimmer – alles wirkt so trostlos. Wo ist ihr Heim, ihr Zuhause geblieben?

 

Auf der Kommandantur haben inzwischen alle den Verstand verloren. Vollständig. Meint jedenfalls Ulvall. Und Lillian muss ihm zustimmen.

Der neue Stadtkommandant, ein wuchtiger Pedant aus Westfalen, hat herausgefunden, dass die norwegischen Angestellten nur 44 Stunden statt 48 Stunden in der Woche arbeiten. Also wird ab sofort auch am Samstagnachmittag gearbeitet und die Mittagspause um eine Stunde verkürzt.

Lillian muss zum ersten Mal bei einem Kriegsgerichtsverfahren dolmetschen. Die Verhandlung findet in einer Baracke der Brigade statt. Ein Wehrmachtsangehöriger soll ein norwegisches Mädchen geschwängert haben. Das Mädchen verlangt, dass die Vaterschaft anerkannt werden soll. Davon will der Soldat aber nichts wissen.

Die Verhandlung ist schwierig und sehr unangenehm. Auch für Lillian. Ein deutscher Soldat, ein norwegisches Mädchen. Ulvall wird, wenn sie wieder zurück in der Kommandantur ist, nicht mit seinen Bemerkungen zurückhalten. Die Verhandlung endet ohne Ergebnis und wird vertagt.

Wenn sie nur wüsste, was zu tun ist. Die Schreibarbeit auf der Kommandantur ist grässlich. Das, was sie übersetzen muss, noch grässlicher. Und dass der neue Kommandant ihr auch noch anzügliche Blicke zuwirft, ist am grässlichsten. Das soll sie noch zwei Monate aushalten? Denn so lange dauert der Arbeitseinsatz noch, der im Mai nach Ablauf der ursprünglich angesetzten Zeit von neun Monaten noch einmal um dieselbe Zeit verlängert worden war.

Sie muss an das denken, was ihr der Rittmeister aus Pommern gesagt hat: Wenn die Russen nach Harstad kommen, wird sie in Gefahr sein, weil sie für die Deutschen gearbeitet hat. Es wird Zeit, die Heimat zu verlassen. Sie muss versuchen, nach Südnorwegen zu gelangen. Und sie hat eine Idee, wie es gelingen kann, vom Stadtkommandanten dafür die Genehmigung zu erhalten: Sie wird ihre Cousine Liv um Hilfe bitten. Liv soll einen Brief schreiben und um Unterstützung bei der Pflege ihrer kranken Mutter in Odda bitten. Odda liegt tausend Kilometer weiter südlich. Zu weit für Stalin und zu weit für Hauptmann Ascher. Aber leider auch zu weit für Helmut.

Die Eltern reagieren ablehnend auf Lillians Vorhaben. John und Annie halten es für richtig, dass ihre Tochter in dieser schwierigen Zeit zu Hause ist und nicht unter großen Gefahren die lange Reise in den Süden antritt. Der Vater hat ihr ohnehin nicht verziehen, dass sie immer noch an diesem deutschen Soldaten hängt. Und sich selbst verzeiht er nicht, dass er die beiden zusammengebracht hat.

Lillian leidet sehr unter der ablehnenden Haltung ihrer Eltern. Als sie einmal mit ihrer Mutter in der Küche allein ist, will sie noch einen Versuch wagen:

»Mama, du hast ihn doch auch kennengelernt. Meinst du wirklich, dass er über das glücklich ist, was die Deutschen hier machen?«

Aber Annie weist sie ab. »Er trägt eine deutsche Uniform, Lillian. Die Uniform derer, die Finnmark abgebrannt haben! Papa und ich wollen nicht, dass unsere Tochter etwas mit einem Mann zu tun hat, der in dieser Uniform steckt. Warum kannst du das eigentlich nicht verstehen?« Lillian beginnt zu weinen. »Weil ich ihn liebe. Deshalb. So wie du Papa geliebt hast, als ihr euch kennengelernt habt.«

Es ist aussichtslos, ihre Mutter will sie nicht verstehen. Wenn sie ihr doch nur sagen könnte, in welcher Gefahr Helmut ist und wie schwer er es hat, nachdem man seine Mutter in dieses Arbeitslager verschleppt hat. Aber sie hat Helmut ihr Ehrenwort gegeben.

»Ich werde weggehen von hier, Mama.«

 

Wenige Tage später steht sie vor Hauptmann Ascher. Sie zeigt ihm den inzwischen eingetroffenen Brief der Cousine. Ascher macht ein süßsaures Gesicht. Am nächsten Tag teilt er ihr nach Rücksprache mit dem Stadtkommandanten mit, dass sie zu ihrer Tante nach Westnorwegen fahren darf. Ausnahmsweise. Und weil er, Ascher, sich für sie eingesetzt hat.