Sie träumte von dem langen Endlauf. Der Erdrutsch donnerte über den Boden von Melas Chasma und hatte sie schon fast erreicht. Alles war mit surrealer Deutlichkeit zu erkennen. Sie erinnerte sich wieder an Simon. Sie stöhnte und verließ den kleinen Deich. Sie durchlebte die Gefühle noch einmal und hatte gut zu tun, den toten Mann in ihrem Innern zu beschwichtigen. Sie fühlte sich schrecklich. Der Boden erzitterte.
Sie erwachte mit einem Gefühl der Flucht, sie versuchte wegzulaufen, doch eine Hand, die heftig an ihrem Arm zog, hielt sie fest.
»Ann, Ann, Ann!«
Es war Nadia. Noch eine Überraschung. Ann richtete sich mühsam und unsicher auf. »Wo sind wir?«
»Pavonis, Ann. Die Revolution. Ich bin herübergekommen und habe dich geweckt, weil ein Kampf ausgebrochen ist zwischen Kaseis Roten und den Grünen in Sheffield.«
Die Gegenwart überrollte sie wie der Erdrutsch in ihrem Traum. Sie riß sich aus Nadias Griff los und langte nach ihrem Hemd.
»War mein Rover nicht verschlossen?«
»Ich bin eingebrochen.«
»Aha!« Ann stand auf, immer noch benommen, und wurde immer ärgerlicher, je besser sie die Lage verstand. »Was ist also geschehen?«
»Sie haben das Kabel mit Raketen beschossen.«
»Wirklich?« Ein neuer Ruck, der den geistigen Nebel beseitigte. »Und?«
»Es hat nicht geklappt. Die Abwehreinrichtungen des Kabels haben sie abgefangen. Die haben da oben jetzt eine Menge Geräte und freuen sich, sie endlich benutzen zu können. Aber jetzt rücken die Roten von Westen her nach Sheffield ein, schießen noch mehr Raketen ab; und die UN-Streitmäche auf Clarke bombardieren die ersten Abschußplätze drüben auf Ascraeus und drohen, jede bewaffnete Macht hier unten unter Beschüß zu nehmen. Das ist genau das, was sie gewollt haben. Und die Roten denken offenbar, daß es wie bei Burroughs geht, und versuchen die Aktion zu forcieren. Darum bin ich zu dir gekommen. Schau, Ann, ich weiß, daß wir schon viel gekämpft haben. Wie du weißt, bin ich nicht sehr geduldig gewesen; aber dies ist wirklich zu viel. Im letzten Augenblick könnte alles in Stücke gehen. Die UN könnten die Lage hier als Anarchie verstehen und von der Erde heraufkommen und versuchen, wieder die Macht zu übernehmen.«
»Wo sind sie?« krächzte Ann. Sie zog ihre Hose an und ging ins Bad. Nadia folgte ihr. Auch das war eine Überraschung. In Underhill hätte es zwischen ihnen normal sein können; aber es war schon lange her, daß Nadia ihr ins Bad gefolgt war und hartnäckig geredet hatte, während Ann sich das Gesicht wusch und sich zum Pinkeln hinsetzte. »Sie haben ihre Basis noch in Lastflow, haben jetzt aber die Randpiste und die Verbindung nach Cairo abgeschnitten und kämpfen in West-Sheffield und bei der Muffe. Rote kämpfen gegen Grüne.«
»Ja,ja.«
»Also wirst du mit den Roten sprechen. Wirst du sie aufhalten?«
Ann wurde von einer jähen Wut erfaßt. »Du hast sie dazu getrieben!« schrie sie Nadia ins Gesicht, so daß diese in die Tür zurückprallte. Ann stand auf, ging einen Schritt auf Nadia zu, zog sich die Hose hoch und brüllte weiter: »Du und dein selbstgefälliges Terraformen, das ist alles so grün, grün, grün, ohne eine Spur von Kompromiß! Es ist ebenso deine Schuld wie die ihre! Sie haben schließlich keine Hoffnung!«
»Vielleicht«, sagte Nadia störrisch. Offenbar kümmerte es sie nicht. Das war Vergangenheit und spielte keine Rolle mehr. Sie wischte es weg und wollte sich nicht in ihrer Meinung beirren lassen. »Aber wirst du es versuchen?«
Ann starrte ihre hartnäckige alte Freundin an, in diesem Augenblick fast jugendlich vor Furcht, konzentriert und lebendig.
Es war wirklich zu spät. Das Rovercamp, in dem Ann gewesen war, war verlassen; und als sie mit dem Handy an ihrem Handgelenk einen Rundruf machte, erhielt sie keine Antwort. Also ließ sie Nadia und die anderen im Komplex von Ost-Pavonis schmoren und fuhr mit ihrem Rover hinüber nach Lastflow, in der Hoffnung, einige der Roten dort zu finden. Aber Lastflow war von den Roten aufgegeben worden, und keiner der Ansässigen wußte, wohin sie gegangen waren. Die Leute saßen in den Stationen und Cafes vor den Fernsehern; aber als Ann auch hinschaute, sah sie keine Meldungen über den Kampf, nicht einmal über den auf Mangalavid. Ein Gefühl von Verzweiflung begann sich in ihre bittere Stimmung einzuschleichen. Sie wollte etwas tun, wußte aber nicht, wie. Sie probierte es wieder mit dem Handy, und zu ihrer Überraschung antwortete Kasei auf ihrer Privatfrequenz. Sein Gesicht sah in dem kleinen Bildausschnitt dem von John Boone erschreckend ähnlich, so daß Ann in ihrer Verwirrung zuerst gar nicht hörte, was er sagte. Er sah so glücklich aus; das war John, wie er leibte und lebte!
»...mußte es tun«, sagte er. Ann überlegte, ob sie ihn danach gefragt hatte. »Wenn wir nichts unternehmen, werden sie diese Welt zerreißen. Sie werden es bis zu den Großen Vier treiben.«
Dies spiegelte Anns Gedanken auf der Felsleiste genau genug wider, um sie erneut zu schockieren. Aber sie nahm sich zusammen und sagte: »Wir müssen innerhalb des Rahmens der Diskussionen arbeiten, Kasei, sonst lösen wir einen Bürgerkrieg aus.«
»Ann, wir sind in der Minderheit. Der Rahmen kümmert sich nicht um Minoritäten.«
»Ich bin nicht so sicher. Aber daran werden wir arbeiten müssen. Und selbst wenn wir uns für den aktiven Widerstand entscheiden, muß es nicht hier und jetzt sein. Es darf nicht sein, daß die Marsianer sich gegenseitig töten.«
»Sie sind keine Marsianer.« In seinen Augen glomm ein Feuer; seine Miene erinnerte an Hiroko in ihrer Distanz von der gewöhnlichen Welt. In diesem Sinne war er keineswegs wie John. Das Schlimmste von beiden Elternteilen war hier vereinigt. Und so hatten sie einen neuen Propheten, der eine neue Sprache sprach.
»Wo bist du jetzt?«
»West-Sheffield!«
»Was wirst du jetzt tun?«
»Die Muffe erobern und dann das Kabel herunterholen. Wir haben die Waffen und die Erfahrung. Ich erwarte keine großen Schwierigkeiten.«
»Beim ersten Versuch habt ihr es nicht geschafft.«
»Zu phantastisch. Diesmal werden wir es einfach abhacken.«
»Ich dachte, so würde es nicht gehen.«
»Es wird funktionieren.«
»Kasei, ich denke, wir sollten mit den Grünen verhandeln.«
Er schüttelte den Kopf, ungeduldig ihr gegenüber und enttäuscht, daß sie die Nerven verloren hatte, als es losging. »Wenn das Kabel unten ist, werden wir verhandeln. Schau, Anna, ich muß jetzt gehen. Bleib außerhalb der Fall-Linie!«
»Kasei!«
Aber er war fort. Niemand hörte ihr zu, weder ihre Feinde, noch ihre Freunde, noch ihre Familie; obwohl sie Peter anrufen müßte. Sie würde es noch einmal mit Kasei versuchen. Sie müßte selbst dort sein, um seine Aufmerksamkeit zu gewinnen, genau wie sie die Aufmerksamkeit Nadias hatte. Ja, soweit war es gekommen. Um die Aufmerksamkeit dieser Leute zu gewinnen, mußte sie ihnen direkt ins Gesicht schreien.
Die Möglichkeit, bei Ost-Pavonis aufgehalten zu werden, veranlaßte sie, sich in das westliche Umland von Lastflow zu begeben, indem sie sich wie am Vortag entgegen dem Uhrzeigersinn um den Krater bewegte und die Rote Streitmacht von hinten erreichte - auf jeden Fall die bestmögliche Annäherung. Es war eine Fahrstrecke von ungefähr 150 Kilometern von Lastflow bis zum Westrand von Sheffield. Während sie um den Gipfel raste, knapp oberhalb der Piste, verbrachte sie die Zeit damit, die verschiedenen Gruppen, die auf dem Berg stationiert waren, zu erreichen; aber ohne Erfolg. Explodierende statische Störungen markierten den Kampf um Sheffield, und durch diese brutalen Stöße von weißem Rauschen brachen Erinnerungen an '61 hervor und erschreckten sie. Sie fuhr den Rover mit Höchstgeschwindigkeit und hielt ihn auf der schmalen Außenseite der Piste, um glatter und rascher voranzukommen, mit etwa hundert Kilometern in der Stunde und dann noch schneller, in dem Versuch, einen Bürgerkrieg abzuwenden, der eine traumhaft entsetzliche Bedrohung darstellte. Ganz besonders deshalb, weil es beinahe zu spät war. In Momenten wie diesem war sie immer zu spät dran. Im Himmel über der Caldera erschienen plötzlich sternförmige Explosionswolken - ohne Zweifel durch Raketen verursacht, die auf das Kabel abgeschossen worden waren und mitten im Flug getroffen wurden. Weiße Wölkchen wie von einem fehlgezündeten Feuerwerk ballten sich über Sheffield und verpufften über dem ganzen weiten Gipfel; trieben dann mit dem Jetstrom nach Osten davon. Einige dieser Raketen wurden noch weit von ihrem Ziel ab, das einmal das Kabel sein sollte, erledigt.
Während sie die Schlacht über sich beobachtete, fuhr sie fast in die schon durchlöcherte erste Kuppel von West-Sheffield hinein. Als die Stadt sich nach Westen ausdehnte, waren neue Kuppeln an die früheren angefügt worden wie Lavaklumpen, die aneinander hafteten. Jetzt waren die Bau-Moränen außerhalb der jüngsten Kuppel mit Gerüststücken, die wie Glasscherben wirkten, bestreut, und das Kuppelmaterial fehlte in den verbliebenen städienartigen Gebilden. Anns Rover hüpfte wild über einen Haufen Basaltgeröll. Sie bremste scharf und hielt dicht an der Mauer. Die Türen des Fahrzeugs waren noch immer verschlossen. Sie legte ihren Schutzanzug und Helm an, kletterte die Stadtmauer empor und darüber, hinein nach Sheffield.
Die Straßen waren verlassen. Glasscherben, Ziegel, Bambusstücke und Magnesiumträger lagen verstreut auf dem Rasen. In dieser Höhe platzten beschädigte Häuser wie Ballons, wenn die Kuppel zerstört war. Fenster gähnten leer und finster; und hier und da lagen ganze Rechtecke nicht zerbrochener Fenster herum wie große durchsichtige Schilde. Und auch eine Leiche, das Gesicht mit Reif oder Staub bedeckt. Es würde eine Menge Tote geben. Die Menschen pflegten sich keine Gedanken mehr über die Dekompression zu machen, die eine ausgeprägte Furcht bei den alten Siedlern gewesen war. Das war heute anders.
Ann ging weiter nach Osten. »Ich suche Kasei oder Dao oder Marion oder Peter«, rief sie immer wieder in ihr Handy. Niemand antwortete.
Sie folgte einer schmalen Straße knapp innerhalb der Südwand der Kuppel. Grelles Sonnenlicht und scharfe schwarze Schatten. Einige Gebäude hatten standgehalten. In ihnen brannte noch Licht. Aber natürlich war drinnen niemand zu sehen. Voraus war das Kabel schwach sichtbar als ein schwarzer vertikaler Strich, der von Ost-Sheffield in den Himmel gezeichnet war wie eine geometrische Linie auf dem Bildschirm, die nun Realität erlangt hatte.
Das rote Notsignal wurde in rasch wechselnder Wellenlänge gesendet, synchron für jeden, der Kenntnis der jeweiligen Verschlüsselung hatte. Dieses System durchschnitt sehr gut manche Art der Funkstörung. Dennoch war Ann überrascht, als von ihrem Handgelenk eine Stimme krächzte: »Ann, hier ist Dao. Hier oben.«
Er war tatsächlich zu sehen und winkte ihr aus dem Eingang der kleinen Notschleuse eines Gebäudes zu. Er und eine Schar von etwa zwanzig Personen arbeiteten an drei mobilen Raketenwerfern draußen in der Straße. Ann rannte zu ihnen hin und duckte sich neben Dao in den Eingang. Sie schrie: »Das hier muß gestoppt werden!«
Dao machte ein überraschtes Gesicht. »Wir sind fast bis zur Muffe gelangt.«
»Aber was dann?«
»Sprich darüber mit Kasei! Er ist vor uns oben, unterwegs nach Arsiaview.«
Eine ihrer Raketen fauchte los. Das Geräusch war in der dünnen Luft schwach. Dao war wieder dabei. Ann rannte die Straße weiter hinauf und hielt sich, so dicht sie konnte, an den Flanken der Häuser. Das war ganz offensichtlich gefährlich; aber in diesem Moment kümmerte sie sich nicht darum, ob sie getötet werden würde oder nicht. Sie hatte keine Angst. Peter war irgendwo in Sheffield und hatte das Kommando über die grünen Revolutionäre, die von Anfang an hier gewesen waren. Diese Leute waren schlau genug gewesen, um die Kräfte der UNTA am Kabel und oben auf Clarke gefangen zu halten. Darum waren sie keineswegs die glücklosen pazifistischen jungen eingeborenen Straßendemonstranten, für welche Kasei und Dao sie anscheinend gehalten hatten. Anns geistige Schüler, die eine Attacke auf ihr einziges Kind ritten, und das im vollen Vertrauen, ihren Segen zu haben. Wie sie ihn früher gehabt hatten. Aber jetzt...? Sie bemühte sich weiterzulaufen. Ihr Atem ging schwer und stoßweise, Schweiß rieselte ihr über die Haut. Sie eilte zur Südwand der Kuppel, wo sie auf eine kleine Flotte von Felsenwagen stieß, Turtle Rocks aus der Wagenfabrik von Acheron. Aber niemand darin antwortete auf ihre Anrufe; und bei näherem Hinschauen sah sie, daß sämtliche Frontscheiben unter den steinernen Wagendächern durchlöchert waren. Alle Insassen waren tot. Ann rannte in zunehmender Panik weiter nach Osten und hielt sich nahe der Kuppelmauer, ohne auf den Schutt unter ihren Füßen zu achten. Sie war sich bewußt, daß ein einziger Schuß sie töten konnte; aber sie mußte Kasei finden. Sie versuchte es wieder mit dem Handy.
Während sie damit beschäftigt war, ging ein Anruf ein. Es war Sax. »Es ist nicht logisch, das Schicksal des Aufzugs mit Zielen des Terraformens zu verknüpfen«, sagte er, als ob er zu mehr Leuten spräche als nur zu ihr. »Das Kabel könnte an einem ganz kalten Planeten befestigt werden.«
Das war der Sax, der er früher gewesen war. Aber dann mußte er bemerkt haben, daß sie eingeschaltet war; denn er blickte eulenhaft in die kleine Kamera an seinem Handgelenk und sagte: »Hör zu, Ann! Wir können die Geschichte am Arm packen und ihn brechen, und es schaffen. Es neu machen.«
Ihr alter Sax hätte das nie gesagt. Er hätte auch nicht zu ihr geschwatzt, offenbar zerstreut, bittend, sichtlich nervös. Wirklich einer der erschreckendsten Anblicke, die sie je erlebt hatte. Tatsächlich: »Sie lieben dich, Ann. Das kann uns retten. Emotionale Geschichten sind die wahren Geschichten. Wasserscheiden von Verlangen und Devolution, Devotion. Du bist für die Eingeborenen die Personifizierung gewisser Werte. Dem kannst du nicht entrinnen. Du mußt damit handeln. Ich habe das in Da Vinci getan, und es hat sich als hilfreich erwiesen. Jetzt bist du an der Reihe. Du mußt! Ann, du mußt dich diesmal mit uns allen zusammentun. Zusammen oder getrennt bleiben. Benutze deinen Wert als Ikone!«
Seltsam, so etwas von Saxifrage Russell zu hören. Aber dann veränderte er sich wieder und schien sich zusammenzunehmen. »Logisch ist es, eine Art von Gleichung für gegensätzliche Interessen aufzustellen.« Wieder ganz wie sein altes Selbst.
Danach piepte es an ihrem Handgelenk, und sie schaltete Sax aus und beantwortete den eingehenden Anruf. Es war Peter, auf der Frequenz der Roten, mit einer finsteren Miene, wie sie sie noch nie bei ihm gesehen hatte.
»Ann!« Er blickte fest auf sein Handy. »Mutter, hör zu! Ich will, daß du diesen Leuten Einhalt gebietest!«
Sie platzte heraus: »Red mich nicht als Mutter an! Ich versuche es gerade. Kannst du mir sagen, wo sie sind?«
»Darauf kannst du Gift nehmen, daß ich das kann! Sie sind gerade in die Kuppel von Arsaview eingebrochen. So wie sie vorrücken, sieht es aus, als ob sie versuchten, von Süden her an die Sockelmuffe heranzukommen.« Er erhielt diese Nachricht von irgendwem außer Sicht der Kamera. »Stimmt.« Er sah sie wieder an. »Ann, kann ich dich mit Hastings oben auf Clarke in Verbindung bringen? Wenn du ihm sagst, daß du versuchst, den Angriff der Roten aufzuhalten, könnte er glauben, daß es nur einige wenige Extremisten sind und sich heraushalten. Er wird tun, was er tun muß, um das Kabel oben zu halten; und ich fürchte, daß er uns alle zu töten bereit ist.«
»Ich werde mit ihm reden.«
Und da war es, ein Gesicht aus tiefer Vergangenheit, sie hätte gesagt, einer für Ann verlorenen Zeit, und doch war es sofort vertraut. Ein Mann mit schmalem Gesicht, gequält und mit den Nerven nahezu am Ende. Hätte jemand in den vergangenen hundert Jahren solch enormen Druck aushalten können? Nein. Es war genau wie in jener Zeit, die jetzt wiedergekehrt war.
»Ich bin Ann Clayborn«, sagte sie; und als sich sein Gesicht noch mehr verzog, fügte sie hinzu: »Ich möchte klarstellen, daß die hier unten sich abspielenden Kämpfe nicht die Politik der Roten Partei darstellen.«
Ihr Magen verkrampfte sich, als sie dies sagte, und sie spürte Magensäure in der Kehle. Aber sie fuhr fort: »Es ist das Werk einer Splittergruppe, die Kakaze heißt. Sie sind es gewesen, die auch den Deich von Burroughs gebrochen haben. Wir versuchen, sie aus dem Weg zu schaffen, und erwarten bis zum Ende des Tages Erfolg zu haben.«
Das war die schrecklichste Reihe von Lügen, die sie je geäußert hatte. Sie fühlte sich, als ob Frank Chalmers heruntergekommen wäre und ihren Mund übernommen hätte. Sie ertrug das Gefühl solcher Worte auf ihrer Zunge nicht. Sie trennte die Verbindung, ehe ihr Gesicht verriet, welche Unwahrheiten sie ausspie. Hastings verschwand, ohne ein Wort gesagt zu haben. Sein Gesicht wurde durch das von Peter ersetzt, der nicht wußte, daß sie wieder in der Leitung war. Sie konnte ihn hören, aber sein Handy am Handgelenk wurde von einer Tür verdeckt, »...wenn sie nicht von sich aus aufhören, werden wir sie stoppen müssen, sonst tut es die UNTA und alles geht zum Teufel. Mach alles bereit für einen Gegenangriff! Ich werde den Befehl geben.«
»Peter!« sagte sie, ohne zu überlegen.
Das Bild auf dem kleinen Schirm schwenkte, und sein Gesicht erschien.
Sie sagte mit erstickter Stimme, kaum imstande, ihn anzusehen, diesen Verräter: »Du verhandelst mit Hastings. Ich werde mit Kasei reden.«
Arsiaview war die südlichste Kuppel, jetzt voller Rauch, der oben in langen formlosen Schlangenwindungen aufstieg, welche das Ventilationssystem der Kuppel erkennen ließen. Überall ertönten Alarmsignale, laut in der noch dicken Luft; und durchsichtiger Plastik war über das grüne Gras der Straße verstreut. Ann stolperte an einer zusammengekrümmten Leiche vorbei, welche genau wie die in Asche modellierten Körper in Pompeji aussah. Arsaview war schmal, aber lang, und es war nicht deutlich, wohin sie gehen sollte. Das Fauchen von Raketenstarts führte sie ostwärts zur Muffe, dem Magneten des Wahnsinns, wie ein Monopol, der die Unvernunft der Erde auf sie entlud.
Darin könnte ein Plan zum Ausdruck kommen. Die Verteidigungseinrichtungen des Kabels schienen imstande zu sein, mit den leichten Raketengeschossen der Roten fertig zu werden; wenn die Angreifer aber Sheffield und die Muffe völlig zerstörten, gäbe es nichts, womit die UNTA herunterkommen könnte, so daß es keine Rolle mehr spielte, ob das Kabel oben noch schwingen würde. Das war ein Plan, der den bei Verhandlungen mit Burroughs angewandten widerspiegelte.
Aber es war ein schlechter Plan. Burroughs lag im Tiefland, wo es eine Atmosphäre gab und die Menschen im Freien gelebt hatten, zumindest eine Zeit lang. Sheffield lag hoch; und damit waren sie wieder in der Vergangenheit, in '61, als eine zerstörte Kuppel das Ende für jeden bedeutete, der darin den Elementen ausgesetzt war. Außerdem lag das meiste von Sheffield unter dem Boden, in vielen Stockwerken übereinander an die Wand der Caldera gedrängt. Ohne Zweifel hatte sich der größte Teil der Bevölkerung dorthin zurückgezogen. Wenn der Kampf ihr folgen würde, wäre das ein Alptraum. Aber oben auf der Oberfläche war es möglich zu kämpfen, und die Leute waren dem Feuer oben vom Kabel her ausgesetzt. Nein, das würde nicht funktionieren. Es war nicht einmal möglich, genau zu beurteilen, was überhaupt geschah. In der Nähe des Sockels gab es neue Explosionen, im Interkom herrschte Statik, nur hin und wieder waren einzelne Worte zu verstehen, wenn der Empfänger Fetzen anderer codierter Frequenzen erwischte, die hindurchliefen. »... Arsiaview erobert krrrrr...« - »Wir brauchen das AI wieder, aber ich würde sagen... X-Achse drei für zwei, Y-Achse acht krrrrr...«
Dann mußte eine weitere Serie von Abfangraketen am Kabel gestartet worden sein; denn oben sichtete Ann eine aufsteigende Reihe hell strahlender Explosionen von Licht ohne jedes Geräusch. Aber danach regneten auf die Kuppeln um sie herum große schwarze Trümmer nieder, brachen durch die Abdeckung oder prallten auf Teile des Gerüstes und fielen dann das letzte Stück hinunter auf die Gebäude wie herabstürzende Stücke verunglückter Fahrzeuge, laut krachend trotz der dünnen Luft und der dazwischen befindlichen Kuppeln. Der Boden bebte und hüpfte unter ihren Füßen. Das hielt für Minuten an, wobei die Trümmer immer weiter draußen herunterkamen und in jeder Sekunde in all diesen Minuten ihr den Tod hätten bringen können. Sie stand da, schaute zu dem finsteren Himmel auf und wartete, bis es vorbei war.
Es fielen immer noch Trümmer herunter. Ann hatte die Luft angehalten, nun atmete sie wieder. Peter hatte den Roten Code. Darum rief sie seine Nummer, empfing aber nur Störungen. Aber sie stellte die Lautstärke niedriger ein und bekam dann einige verzerrte halbe Sätze. Peter schilderte rote Unternehmungen gegen grüne Kräfte oder vielleicht sogar gegen die UNTA. Wer konnte dann von den Verteidigungssystemen des Kabels Raketen auf sie abschießen? Ja, das war Peters Stimme in Bruchstücken mit Statik dazwischen. Danach kamen nur noch Störgeräusche.
An der Basis des Aufzugs wechselten kurze Stöße explosiven Lichts den unteren Teil des Kabels von Schwarz zu Silbern und dann wieder zu Schwarz. In Arsaview ertönte Alarm jeder Art in Form von Klingeln oder Sirenengeheul. Der ganze Rauch wurde zum östlichen Ende der Kuppel getrieben. Ann betrat eine Gasse von Norden nach Süden und lehnte sich gegen die flache Ostwand eines Gebäudes aus Beton. In der Straße gab es keine Fenster. Dröhnen, Krach, Wind. Dann die Stille der Luftlosigkeit.
Sie stand auf und wanderte durch die Kuppel. Wohin sollte man gehen, wenn die Menschen getötet worden waren? Man finde, so man kann, seine Freunde. Wenn du sagen kannst, wer sie sind.
Sie raffte sich auf und suchte weiter nach Kaseis Gruppe. Sie ging dorthin, wo Dao sich nach eigenen Worten befinden mußte. Dann versuchte sie zu überlegen, wohin sie zunächst gehen sollte. Außerhalb der Stadt gab es eine Möglichkeit. Aber nachdem sie ins Innere gegangen war, könnte sie es mit der nächsten Kuppel in östlicher Richtung versuchen und eine nach der anderen in Angriff nehmen, sie dekomprimieren, jedermann nach unten zwingen und dann weiterziehen. Sie blieb auf der parallel zur Kuppelmauer verlaufenden Straße und bewegte sich im Laufschritt, so schnell sie konnte. Sie war gut in Form, aber das war lächerlich. Sie bekam nicht genügend Luft und tränkte die Innenseite ihres Schutzanzugs mit Schweiß. Die Straße war verlassen und unheimlich ruhig, so daß es kaum zu glauben war, daß sie jemals die Gruppe finden würde, nach der sie suchte.
Aber da waren sie. Oben voraus in den Straßen rings um einen der dreieckigen Parks waren Gestalten mit Schutzanzügen und Helmen mit automatischen Waffen und mobilen Raketenwerfern, die auf nicht erkennbare Gegner in einem Gebäude mit einer Front aus Kieselschiefer schössen. Nach den roten Ringen auf ihren Waffen waren es Rote.
Ein blendender Blitz, und sie wurde umgeworfen. Ihre Ohren dröhnten. Sie befand sich am Fuß eines Gebäudes, gegen seine Seite aus poliertem Stein gepreßt. Roter Jaspis und Eisenoxid in abwechselnden Reihen. Hübsch. Rücken, Hinterteil und Schulter sowie Ellbogen schmerzten. Aber es war nicht unerträglich, und sie konnte sich bewegen. Sie kroch herum und schaute auf den Dreieckspark zurück. Rund um die Einschlagstelle brannte es. Die zuckenden kleinen Flammen erloschen bereits durch Sauerstoffmangel. Die Gestalten waren weggeschleudert worden, lagen herum wie zerbrochene Puppen mit in die Seite gestemmten Gliedern in Positionen, die kein Knochen aushalten konnte. Ann stand auf und lief zu einer davon, angelockt durch einen vertrauten grauhaarigen Kopf, der seines Helms entblößt war. Das war Kasei, einziger Sohn von John Boone und Hiroko Ai. Eine Seite seines Kinnbackens war blutig, die Augen offen und blicklos. Er hatte sie zu ernst genommen. Und seine Gegner nicht ernst genug. Sein rötlicher Eckzahn war durch eine Wunde freigelegt. Ann sah es, stockte und wandte sich ab. Der Verlust. Alle drei waren jetzt tot.
Sie hockte sich hin und nestelte Kaseis Armbandgerät los. Wahrscheinlich würde sie jetzt eine direkte Frequenz zum Zugriff auf Kakaze haben. Als sie wieder im Schutz eines Obsidiangebäudes war, das von großen weißen Trefferspuren verunziert war, tastete sie den allgemeinen Rufcode ein und sagte: »Hier spricht Ann Clayborn. Sie ruft alle Roten. Alle Roten. Hört, hier spricht Ann Clayborne. Der Angriff auf Sheffield ist mißlungen. Kasei ist tot und viele andere. Weitere Angriffe hier werden nicht gelingen. Sie würden bewirken, daß die ganze Sicherheitsmacht der UNTA wieder auf den Planeten zurückkehrt.« Sie wollte sagen, wie dumm der Plan von Anfang an gewesen war, hielt sich aber zurück. »Diejenigen von euch, die dazu in der Lage sind, verlaßt den Berg! Jeder in Sheffield soll nach Westen gehen, die Stadt verlassen und vom Berg verschwinden. Hier spricht Ann Clayborne.«
Es gingen etliche Bestätigungen ein, die sie sich anhörte, während sie nach Westen ging, zurück durch Arsaview zu ihrem Rover. Sie machte keinen Versuch, sich zu verstecken. Wenn sie getötet wurde, wäre sie eben tot. Aber sie glaubte nicht, daß es jetzt geschehen würde. Sie ging unter den Flügeln eines finsteren Schutzengels, der sie vor dem Tod bewahrte, was immer auch geschehen würde. Er zwang sie, Zeugin des Todes aller derer zu sein, die sie kannte, und des ganzen Planeten, den sie liebte. Ja, das waren Dao und seine Leute, alle sofort tot und in Lachen ihres eigenen Blutes liegend. Sie war dem knapp entronnen.
Und dort unten, auf einem breiten Boulevard mit einer Reihe von Linden in der Mitte, war ein weiterer Leichenhaufen. Keine Roten, sie trugen grüne Kopfbinden, und einer von ihnen sah von hinten aus wie Peter. Sie ging mit weichen Knien hinüber, wie vom Zwang eines Alptraums getrieben. Sie ging um den Leichnam herum. Aber es war nicht Peter. Irgendein hochgewachsener junger Eingeborener mit Schultern wie Peter. Armer Kerl! Ein Mann, der tausend Jahre hätte leben können.
Sie ging unbehelligt weiter. Sie erreichte ohne Zwischenfall ihren kleinen Rover am Westende von Sheffield, stieg ein und fuhr zum Hauptbahnhof im Westen der Stadt.
Dort führte eine Piste den Südhang von Pavonis hinunter in den Sattel zwischen Pavonis und Arsia. Als sie das sah, faßte sie einen sehr einfachen und elementaren Plan, der gerade deshalb durchführbar war. Sie schaltete die Frequenz der Kakaze ein und gab Empfehlungen so, als es wären es Befehle. Weglaufen und Verschwinden! Geht hinab zum Südsattel, dann um Arsia herum auf dem westlichen Hang oberhalb der Schneegrenze, danach schlüpft in das obere Ende von Aganippe Fossa, einem langen geraden Canyon, in dem es ein verborgenes Refugium der Roten gab, eine Klippe in der nördlichen Wand. Dort konnten sie sich verstecken und eine neue lange Untergrundkampagne starten gegen die neuen Herren des Planeten. UNOMA, UNTA, Metanat, Dorsa Brevia. Sie waren alle Grün.
Sie versuchte Cojote anzurufen und war etwas überrascht, als er antwortete. Auch er befand sich irgendwo in Sheffield, das konnte sie erkennen. Ohne Zweifel glücklich, am Leben zu sein, mit einer bitteren, wilden Miene in seinem rissigen Gesicht.
Ann erzählte ihm ihren Plan. Er nickte.
»Im Laufe der Zeit werden sie sich weiter entfernen müssen«, erwiderte er.
Ann konnte nicht umhin zu sagen: »Es war dumm, das Kabel anzugreifen.«
»Ich weiß«, sagte Cojote resigniert.
»Hast du nicht versucht, es ihnen auszureden?«
»Das habe ich.« Seine Miene wurde noch finsterer. »Kasei ist tot?«
»Ja.«
Sein Gesicht verzerrte sich vor Kummer. »O Gott! Diese Schufte!«
Ann schwieg. Sie hatte Kasei nicht gut gekannt und auch nicht besonders gemocht. Cojote hingegen hatte ihn von Geburt an gekannt, damals in Hirokos verborgener Kolonie, und hatte ihn seit jungen Tagen bei seinen heimlichen Unternehmen auf dem ganzen Mars mitgenommen. Jetzt rannen Tränen die tiefen Runzeln auf Cojotes Wangen herab; Ann biß die Zähne zusammen.
»Kannst du sie nach Aganippe hinunterbringen?« fragte sie. »Ich werde bleiben und mit den Leuten in Ost-Pavonis sprechen.«
Cojote nickte. »Ich werde sie hinunterbringen, so schnell ich kann. Treffpunkt Westbahnhof.«
»Ich werde es ihnen sagen.«
»Die Grünen werden wütend auf dich sein.«
»Scheiß auf die Grünen!«
Ein Teil der Kakaze schlich sich im Licht eines verrauchten trüben Sonnenuntergangs in die westliche Endstation von Sheffield. Kleine Gruppen in schmutzigen Anzügen, die Gesichter weiß, erschrocken und ärgerlich, desorientiert im Schock. Abgenutzt. Am Ende waren es drei- oder vierhundert, die die schlechten Nachrichten des Tages austauschten. Als Cojote sich zurückzog, stand Ann auf und erhob ihre Stimme laut genug, daß alle sie hören konnten. Es war ihr bewußt, daß sie in ihrem Leben noch nie in der Führungsposition der Roten gewesen war, oder was das jetzt bedeutete. Diese Leute hatten sie ernstgenommen; und hier waren sie jetzt, geschlagen und froh, noch am Leben zu sein, mit toten Freunden allenthalben in der Stadt östlich von ihnen.
Sie sagte hilflos: »Der direkte Angriff war eine schlechte Strategie. Sie war in Burroughs erfolgreich. Aber das war eine andere Situation. Hier hat sie versagt. Menschen, die tausend Jahre hätten leben können, sind tot. Das Kabel war das nicht wert. Wir gehen ins Versteck und warten auf unsere nächste Chance, eine reale Chance.«
Es gab groben Widerspruch und ärgerliche Rufe: »Nein! Niemals! Holt das Kabel herunter!«
Ann wartete ab. Dann hob sie die Hand, und langsam trat wieder Ruhe ein.
»Es könnte sehr leicht einen Rohrkrepierer geben, wenn wir jetzt gegen die Grünen kämpfen. Das würde den Metanats einen Vorwand geben, wieder einzurücken. Das wäre weitaus schlimmer, als mit einer eingeborenen Regierung auszukommen. Mit den Marsianern können wir zumindest sprechen. Der von der Umwelt handelnde Teil der Übereinkunft von Dorsa Brevia gibt uns einen gewissen Hebelarm. Wir brauchen bloß so gut weiterzuarbeiten, wie wir können. Irgendwo anders beginnen. Versteht ihr?«
Am Morgen wäre das nicht gelungen. Jetzt wollten sie noch nicht. Ann wartete die protestierenden Stimmen ab und starrte ihre Gegner an, bis sie verstummten. Der scharfe eindringende Blick von Ann Clayborne... Eine Menge von ihnen war ihretwegen mit in den Kampf gezogen, in jenen Tagen, da der Feind der Feind war und der Untergrund eine wirklich funktionierende Allianz, locker und geteilt, aber mit allen Elementen mehr oder weniger auf derselben Seite...
Sie senkten die Köpfe und erkannten widerstrebend an, daß, wenn Clayborne gegen sie war, ihre moralische Führerschaft dahin wäre. Und ohne diese, ohne Kasei, ohne Dao, während die Eingeborenen zumeist Grüne waren und fest hinter Nirgal und Jackie als Führern standen, während Peter der Verräter war...
»Cojote wird euch von Tharsis wegbringen«, gab sie bekannt. Sie fühlte sich unwohl und verließ den Raum, ging durchs Terminal und durch die Schleuse wieder in ihren Rover. Das Handy von Kasei lag auf dem Armaturenbrett; sie warf es aufstöhnend durch die Kabine. Sie setzte sich auf den Fahrersitz und nahm sich zusammen. Dann startete sie den Wagen und machte sich auf, um nach Nadia, Sax und dem ganzen Rest Ausschau zu halten.
Endlich befand sie sich wieder in Ost-Pavonis: und in dem Lagerhauskomplex waren sie alle noch da. Als sie zur Tür hereinkam, starrten sie sie an, als wäre der Angriff auf das Kabel ihre Idee gewesen und als ob sie persönlich verantwortlich wäre für alles Üble, das geschehen war, sowohl an diesem Tage wie während der ganzen Revolution. Genau so, wie man sie nach Burroughs angestarrt hatte. Peter, der Verräter, war wirklich da; und sie wandte sich von ihm ab und ignorierte die übrigen, oder versuchte es wenigstens. Jackie mit verweinten Augen und wütend. Ihr Vater war schließlich an diesem Tag getötet worden; und obwohl sie sich selbst in Peters Camp befunden hatte und damit zum Teil schuld an der verheerenden Reaktion auf die Offensive der Roten, konnte man mit einem Blick auf sie erkennen, daß jemand würde bezahlen müssen. Aber Ann ignorierte das alles und ging durch den Raum zu Sax, der in seinem Winkel in der gegenüberliegenden Ecke des großen Raums vor einem Bildschirm saß, lange Kolumnen von Zahlen las und mit seinem Computer flüsterte. Ann wedelte mit der Hand zwischen seinem Gesicht und dem Schirm. Er schaute überrascht auf.
Eigenartigerweise war er der einzige in der Menge, der ihr keine Vorwürfe zu machen schien. Statt dessen sah er sie mit zur Seite geneigtem Kopf mit einer vogelartigen Neugier an, die fast an Sympathie grenzte.
»Schlechte Nachrichten über Kasei und den ganzen Rest«, sagte er. »Ich bin froh, daß du und Desmond überlebt habt.«
Sie überging das und sagte ihm rasch und in gedämpftem Ton, wohin die Roten gingen und was sie ihnen zu tun aufgetragen hatte. »Ich denke, ich kann sie davon abhalten, noch weitere direkte Angriffe auf das Kabel zu versuchen. Und auch von den meisten weiteren Gewaltakten abzusehen, jedenfalls vorerst.«
»Gut!« sagte Sax.
Sie fuhr fort: »Aber ich verlange etwas dafür. Ich will es, und wenn ich es nicht bekomme, werde ich sie für immer auf dich hetzen.«
»Die Soletta?« fragte Sax.
Sie starrte ihn an. Er mußte ihr öfter zugehört haben, als sie gedacht hatte. »Ja.«
Seine Augenbrauen zogen sich zusammen, während er darüber nachdachte. »Das könnte eine Art Eiszeit bewirken«, gab er zu bedenken.
»Gut!«
Er sah sie an und überlegte. Sie konnte ihm das ansehen - in raschen Gedankenblitzen: Eiszeit - dünnere Atmosphäre - langsameres Terraformen - neue Öko-Systeme vernichtet - vielleicht ausgleichen - Treibhausgase. Und so weiter und so fort. Es war fast komisch, wie sie im Gesicht dieses Fremden lesen konnte, wie dieser verhaßte Bruder einen Ausweg suchte. Er würde immer weiter zusehen; aber Wärme war der wichtigste Antrieb des Terraformens, und wenn die riesige Anordnung von Spiegeln in der Soletta verschwunden wäre, wären sie auf das normale Niveau an Sonnenlicht für den Mars beschränkt und damit zu einem eher >natürlichen< Tempo des Fortschritts gezwungen. Es war möglich, daß die damit zusammenhängende Stabilität den Konservatismus von Sax sogar ansprach.
»Okay!« sagte er.
»Kannst du für diese Leute sprechen?« fragte sie und zeigte geringschätzig auf die Menge hinter ihnen, als ob all ihre ältesten Gefährten nicht darunter wären, als ob es sich um UNTA-Technokraten oder Metanat- Funktionäre handelte...
»Nein. Ich spreche nur für mich«, erwiderte er. »Aber ich kann die Soletta loswerden.«
»Würdest du das ihren Wünschen entgegen tun?«
Er runzelte die Stirn. »Ich denke, daß ich sie dazu überreden kann. Falls nicht, so weiß ich, daß ich das Da-Vinci-Team dazu bringen kann. Die lieben Herausforderungen.«
»Okay«, sagte sie.
Das war schließlich das beste, was sie von ihm bekommen konnte. Sie reckte sich, immer noch in Verlegenheit. Sie hatte nicht erwartet, daß er zustimmen würde. Und jetzt, da er es doch getan hatte, entdeckte sie, daß er immer noch ärgerlich war, immer noch mißmutig. Die Konzession, die sie jetzt hatte, bedeutete nichts. Man würde andere Wege aushecken, um die Lage anzuheizen. Sax würde ohne Zweifel sein Argument zu diesem Punkt vorbringen. Er würde sagen: >Gebt Ann die Soletta als ein Mittel, um die Roten zu bestechen. Und dann drängt weiter !<
Ann verließ den großen Raum ohne einen Blick für die anderen. Raus aus dem Lagerhaus zu ihrem Rover.
Eine Weile fuhr sie blind dahin, ohne ein Gefühl für die Richtung. Nur wegkommen, nur ausreißen. So wandte sie sich zufällig nach Westen und mußte bald danach anhalten oder die Kante des Randes überqueren.
Abrupt hielt sie den Wagen an.
Benommen blickte sie durch die Frontscheibe. Im Mund einen bitteren Geschmack, die Eingeweide verkrampft, jeden Muskel angespannt und schmerzend. Der große Ring um die Caldera rauchte an einigen Stellen, hauptsächlich bei Sheffield und Lastflow, aber auch an einem Dutzend anderer Punkte. Das Kabel über Sheffield war nicht zu sehen, aber es war noch da, markiert durch konzentrierten Rauch um seine Basis, der bei dem dünnen, steifen Wind nach Osten zog. Wieder ein Banner des Gipfels, entfaltet durch den endlosen Strahlstrom. Die Zeit war ein Wind, der sie davontrieb. Die Rauchfahnen befleckten den dunklen Himmel und verdunkelten einige der vielen Sterne, die in der Stunde vor Sonnenuntergang erschienen. Es sah so aus, als ob der alte Vulkan wieder erwachen würde, als ob er sich aus seinem langen Schlaf erheben und sich auf einen Ausbruch vorbereiten würde. Durch den dünnen Rauch war die Sonne ein dunkelrot glühender Ball und sah ganz ähnlich aus, wie ein junger geschmolzener Planet wohl erschienen wäre, dessen Farbe die Rauchfetzen kastanienbraun, rost- und karmesinfarben machte. Roter Mars.
Aber der rote Mars war dahin und endgültig entschwunden. Soletta oder nicht, Eiszeit oder nicht - die Biosphäre würde wachsen und sich ausdehnen, bis sie alles bedeckte mit einem Ozean im Norden und Seen im Süden und mit Strömen, Wäldern, Prärien, Städten und Straßen. Oh, sie sah das alles: Weiße Wolken, die auf die alten Hochebenen abregneten und sie in Schlammlöcher verwandelten, während die sorglosen Massen ihre Städte erbauten, so schnell sie konnten - der lange Ausklang einer Zivilisation, die ihre Welt begrub.