Viele der Ersten Hundert argumentierten für andere Orte als Underhill, das sie nicht einmal als Teil ihrer Gruppennatur anerkennen wollten. Aber Sax war eisern und widersetzte sich allen Ansinnen für Olympus Mons, den niedrigen Orbit, Pseudophobos, Sheffield, Odessa, Hell's Gate, Sabishii, Senzeni Na, Acheron, die Südpolkappe, Mangala und die hohe See. Er bestand darauf, daß der Schauplatz für eine solche Prozedur ein kritischer Faktor sei, wie Experimente über den Kontext erwiesen hätten. Cojote plärrte höchst unpassend bei seiner Schilderung des Experiments mit Studenten in Atemgeräten, die auf dem Boden des Nordmeeres Daten gebüffelt hatten; aber Daten waren Daten, und warum sollte man nicht angesichts dessen das Experiment dort ausführen, wo man die besten Ergebnisse erzielen konnte? Es ging um so viel, daß es gerechtfertigt war, alles zu tun, was man konnte, um es richtig zu machen. Sax wies darauf hin, wenn sie ihre Erinnerungen intakt zurückbekämen, dann könnte alles möglich sein, wirklich alles - ein Sieg über den raschen Verfall, eine Gesundheit, die noch Jahrhunderte länger anhielt, eine sich stets ausdehnende Gemeinschaft von Gartenwelten - und von da aus vielleicht weiter aufwärts zu einer sich abzeichnenden Phase eines Übergangs zu einer höheren Ebene des Fortschritts und einem Bereich des Wissens, den man sich derzeit nicht einmal vorstellen konnte. Darum beharrte er auf Underhill.

»Du bist dir zu sicher«, beklagte sich Marina. Sie hatte für Acheron plädiert. »Du mußt dir einen offenen Geist für viele Dinge bewahren.«

»Ja ja.« Einen offenen Geist bewahren. Das fiel Sax leicht, sein Geist war ein Labor, das abgebrannt war.

Jetzt stand er im Freien. Und niemand konnte die Logik von Underhill widerlegen, weder Marina noch alle übrigen. Diejenigen, die dagegen waren, hatten, wie er dachte, Angst vor der Macht der Vergangenheit. Sie wollten diese Macht über sich nicht anerkennen, sich ihr nicht völlig ausliefern. Aber gerade das war es, was sie nötig hatten. Michel hätte gewiß die Wahl von Underhill unterstützt, wenn er noch unter ihnen weilte. Der Ort war entscheidend wichtig, das hatten alle ihre Leben erwiesen. Und sogar die zweifelnden, skeptischen oder ängstlichen unter ihnen - sie alle mußten zugeben, daß Underhill der richtige Platz war in Anbetracht dessen, was sie versuchen wollten.

Also einigten sie sich am Ende, dort zusammenzukommen.

 

Zu diesem Zeitpunkt war Underhill eine Art Museum, in dem Zustand erhalten, den es 2138 gehabt hatte, in dem letzten Jahr, da es eine aktive Station gewesen war. Das bedeutete nicht, daß es genau so aussah wie in den Jahren, als es hoch bewohnt war; aber die alten Fragmente waren immer noch da. Darum würden die Veränderungen seit damals ihr Projekt nicht wesentlich behindern, meinte Sax. Nachdem er mit etlichen anderen eingetroffen war, unternahm er einen Rundgang, um sich umzuschauen. Und da waren sie, all die alten Gebäude: Die ursprünglichen vier Habitate, die als ganze aus dem Weltraum abgeworfen worden waren, ihre Müllhaufen, Nadias Quadrat von Zimmern mit Tonnengewölbe und ihrem überkuppelten Zentrum, Hirokos Treibhausgerüst ohne die umhüllende Kuppel, Nadias Grabenarkade im Nordwesten, Tschernobyl, die Salzpyramiden und endlich das Alchimistenviertel, wo Sax seinen Rundgang beendete. Er wanderte in dem Gewirr von Gebäuden und Rohren herum und versuchte, sich auf das Erlebnis des nächsten Tages vorzubereiten. Sich um einen offenen Geist zu bemühen.

Sein Gedächtnis brodelte bereits, als ob es zeigen wollte, daß es keine Hilfe nötig hätte, um seine Arbeit zu tun. Hier zwischen diesen Gebäuden hatte Sax das erste Mal die transformative Macht der Technik über die pure Materialität der Natur erlebt. Sie hatten tatsächlich mit den bloßen Steinen und Gasen angefangen und von da aus extrahiert, gereinigt, transformiert, rekombiniert und gestaltet, auf so mannigfaltige Art, daß keine einzelne Person das alles verfolgen oder sich gar dessen Wirkung vorstellen konnte. So hatte er zwar gesehen, aber nicht verstanden. Und sie hatten ständig in Unkenntnis ihrer wahren Kräfte und mit (vielleicht deshalb) sehr wenig Sinn für das, was sie vorhatten, gearbeitet. Aber dort im Alchimistenviertel war er imstande gewesen, das zu erkennen. Er war sich so sicher gewesen, daß die Welt, wenn sie erst grün gemacht worden war, ein schöner Ort sein würde.

Jetzt stand er hier im Freien, mit bloßem Kopf unter einem blauen Himmel in der Hitze des zweiten Augustes, schaute sich um und suchte sich zu erinnern. Es war schwer, das Gedächtnis zu steuern. Die Dinge fielen ihm einfach ein. Die Objekte in dem alten Teil der Stadt wirkten geradezu vertraut im echten Sinne des Wortes. Sogar die einzelnen roten Steine und Felsblöcke um die Ansiedlung herum und alle Buckel und Senken, die zu sehen waren, schienen wohlbekannt und kamen alle noch am rechten Platz auf der Kompaßrose zu liegen. Die Aussichten für das Experiment schienen Sax günstig zu sein. Kontext. Lage und Orientierung stimmten. Daheim.

Es kehrte zu dem Platz der Tonnengewölbe zurück, dorthin, wo sie bleiben würden. Während seines Spaziergangs waren einige Wagen eingetroffen, und ein paar kleine Ausflugszüge waren auf den Nebengleisen der Strecke geparkt. Es kamen Leute an. Da waren Maya und Nadia, die Tasha und Andrea umarmten, die gemeinsam angekommen waren. Ihre Stimmen klangen in der Luft wie eine russische Oper, wie Rezitative unmittelbar vor dem Übergang in Gesang. Von den Hundertundeinen, mit denen sie angefangen hatten, erschienen nur vierzehn: Sax, Ann, Maya, Nadia, Desmond, Ursula, Marina, Wasili, George, Edvard, Roger, Mary, Dmitri und Andrea. Nicht allzu viele; aber das waren alle von ihnen, die noch lebten und Kontakt mit der Welt hatten. Alle anderen waren tot oder fehlten. Falls Hiroko und die anderen Sieben der Ersten Hundert, die mit ihr verschwunden waren, noch am Leben waren, hatten sie nichts von sich hören lassen. Vielleicht würden sie unangemeldet auftauchen wie bei Johns erstem Festival auf Olympus. Vielleicht auch nicht.

Also waren sie vierzehn. So verkleinert wirkte Underhill unterbelegt. Obwohl ihnen alles zur Verfügung stand, um sich auszubreiten, drängten sie sich doch im Südflügel der Tonnengewölbe zusammen. Dennoch war die Leere des übrigen Platzes spürbar. Es war, als ob der Platz selbst ein Abbild ihrer versagenden Erinnerungen wäre mit ihren verlorenen Labors und verlorenen Ländern und verlorenen Gefährten. Jeder einzelne von ihnen litt an Erinnerungsverlusten und Störungen der einen oder anderen Art. Sie hatten unter sich fast alle Probleme des Gedächtnisses erlebt, die in der Literatur erwähnt waren, soweit Sax das übersehen konnte; und ein guter Teil ihrer Konversation handelte von vergleichender Symptomologie, im Wiedererzählen mannigfacher schrecklicher und/oder erhabener Erfahrungen, die sie in der letzten Dekade betroffen hatten. Sie wurden dadurch abwechselnd heiter und trübselig, als sie sich an diesem Abend durch die kleine Küche des Tonnengewölbes mit ihrem hohem Fenster in der Südwestecke wälzten. Es ging auf den Boden des zentralen Treibhauses hinaus, das noch unter seiner dicken Glaskuppel und dem dadurch veränderten Licht lag. Sie aßen ein Picknick-Dinner, das in Kühlbehältern hergeschafft worden war, plauderten, langten zu und verteilten sich dann im Südflügel, um die Schlafräume im oberen Stockwerk für eine unbequeme Nacht herzurichten. Sie blieben in endlosen Gesprächen so lange auf, wie sie konnten. Aber schließlich gaben sie auf, einzeln oder zu zweit, und versuchten zu schlafen. Mehrere Male in dieser Nacht erwachte Sax aus Träumen und hörte, wie Leute zu den Toiletten hinunter tappten, flüsternde Gespräche in der Küche oder Selbstgespräche im unruhigen Schlaf alter Leute führten. Er schaffte es jedesmal, sich wieder einzurollen und in einen leichten, von Träumen erfüllten Schlaf zu versinken.

Endlich kam der Morgen. Sie waren schon mit der Dämmerung auf. In dem horizontalen Licht nahmen sie ein rasches Frühstück ein: Obst, Croissants, Brot und Kaffee. Jeder Felsblock und Hügel warf lange Schatten nach Westen. So vertraut.

Dann waren sie bereit. Es gab anderes zu tun. Es gab einen kollektiven tiefen Atemzug, verlegenes Gelächter und die Unfähigkeit, dem anderen in die Augen zu schauen.

Maya weigerte sich noch immer, die Behandlung anzunehmen. Sie ließ sich durch kein Argument, das vorgebracht wurde, erschüttern. Sie hatte in der vorangegangenen Nacht immer wieder gesagt: »Ich will nicht! Ihr werdet auf jeden Fall einen Wärter brauchen, falls ihr verrückt werdet. Ich werde das übernehmen.«

Sax hatte gedacht, sie würde ihre Meinung ändern und es wäre bloß Mayas typisch ablehnende Haltung. Jetzt trat er enttäuscht vor sie. »Ich dachte, du hättest die schlimmsten Gedächtnisschwierigkeiten von allen.«

»Vielleicht.«

»Dann wäre es doch sinnvoll, die Behandlung zu machen. Michel hat dir massenhaft verschiedene Drogen für mentale Probleme gegeben.«

»Ich will nicht«, sagte sie und schaute ihm ins Auge.

Er seufzte. »Maya, ich verstehe dich nicht.«

»Ich weiß.«

Und sie ging in die alte medizinische Klinik an der Ecke und übernahm ihre Rolle als Wärterin für diesen Tag. Dort war alles bereit, und sie rief sie einzeln auf, nahm kleine Ultraschallinjektoren und setzte sie ihnen an den Nacken. Mit einem kleinen Knack- und Zischlaut injizierte sie einen Teil der Drogendosis und gab ihnen Pillen, die den Rest davon enthielten. Dann half sie ihnen, die Ohrstöpsel einzustecken, die für einen jeden eigens gemacht worden waren, um die stillen elektromagnetischen Wellen auszustrahlen. In der Küche wartete man in nervösem Schweigen, bis alle die Vorbereitungen beendet hatten. Als alle fertig waren, leitete Maya sie zur Tür und nach draußen. Und dann verschwanden sie.

Sax sah und fühlte ein Bild. Helle Lichter und eine Empfindung, als ob sein Schädel zertrümmert würde. Er würgte, keuchte und spuckte. Kühle Luft und die Stimme seiner Mutter wie das Jaulen eines Tiers. »Oh? Oh? Oh! Oh!« Dann lag er feucht und kalt auf ihrer Brust.

 

Der Hippocampus ist eine von etlichen Regionen des Gehirns, die durch die Behandlung sehr stark stimuliert werden. Dies bedeutet, daß sein limbisches System, das unter dem Hippocampus liegt wie ein Netz unter einer Walnuß, ebenso stimuliert wird, als ob die Nuß auf einem Trampolin von Nerven auf und ab hüpft, so daß das Trampolin widerhallt oder sogar kreischt. So empfand Sax den Anfang von etwas, das ohne Zweifel eine Flut von Emotionen sein würde, die, wie er bemerkte, nicht eine einzelne Emotion sein würde, sondern viele zugleich und mit fast derselben Intensität und frei von jeder Ursache - Freude, Kummer, Liebe, Haß, Heiterkeit, Melancholie, Hoffnung, Furcht, Edelmut, Eifersucht - von denen viele natürlich nicht zu ihrem Gegenstück paßten oder mit den meisten anderen, die gleichzeitig in ihm präsent waren. Das Resultat dieser übervollen Mischung war, zumindest für Sax, der auf einer Bank außerhalb des Tonnengewölbes saß und schwer atmete, eine Art von unter Adrenalin stehender atemberaubender Zunahme der Empfindung von Bedeutung. Eine Überflutung von Bedeutung durch alles. Es war herzzerbrechend oder herzerfüllend, als ob Ozeane von Wolken in seine Brust gestopft worden wären, so daß er kaum atmen konnte, eine Art von Nostalgie in der n-ten Potenz, eine Fülle, sogar Wonne, reine Gehobenheit, bloß dazusitzen, bloß die Tatsache, daß sie alle am Leben waren! Aber all dies mit einer Schärfe von Verlust, von Bedauern wegen der verlorenen Zeit, von Todesangst, von Furcht vor allem, von Trauer um Michel, um John, wirklich um sie alle. Das war dem gewöhnlichen ruhigen, beständigen, man könnte sogar sagen: phlegmatischen Zustand Saxens so unähnlich, daß er fast gelähmt war. Er konnte sich nicht richtig bewegen und bedauerte einige Minuten lang bitterlich, je ein solches Experiment in Gang gesetzt zu haben. Das war sehr töricht und idiotisch tollkühn, daß ein jeder ihn ohne Zweifel für immer dafür hassen würde.

Benommen, fast überwältigt, beschloß er, einen Spaziergang zu wagen, um zu sehen, ob das seinen Kopf klären könnte. Er stellte fest, daß er gehen konnte. Er stieß sich von der Bank ab, stand auf, gewann das Gleichgewicht und ging los. Er vermied andere, die in ihren eigenen Welten wanderten und denen er so gleichgültig war wie sie ihm. Alle gingen aneinander vorbei wie an Objekten, die man vermeiden mußte. Und dann war er draußen im freien Raum der Umgebung von Underhill in der kühlen morgendlichen Brise und ging unter einem seltsam blauen Himmel auf die Salzpyramiden zu.

Er blieb stehen und schaute sich um, überlegte, grunzte überrascht und machte halt, konnte nicht gehen. Ganz plötzlich konnte er sich an alles erinnern.

 

Nicht gerade an alles und jedes. Er konnte sich beispielsweise nicht daran erinnern, was er am 13. Tag des zweiten Augustes 2029 zum Frühstück gehabt hatte. Das paßte zu Experimenten, die nahelegten, daß tägliche gewohnte Aktivitäten nicht genügend differenziert wären, um individuelle Erinnerung zu bewirken. Aber als eine Klasse... In den späten 2020ern hatten seine Tage wieder im Tonnengewölbe begonnen, wo er sich mit Hiroko, Evgenia, Rya und Iwao ein Schlafzimmer im oberen Stockwerk geteilt hatte. Experimente, Ereignisse, Gespräche flimmerten in seinem Kopf, als er diesen Schlafraum mit dem Auge des Geistes erblickte. Ein Knoten in der Raumzeit, der durch ein ganzes Netz von Tagen vibrierte. Ryas hübscher Rücken auf der anderen Seite des Zimmers, wenn sie sich unter den Armen wusch. Dinge, die Leute sagten und die in ihrer Rücksichtslosigkeit verletzten. Vlad, wenn er über Gen-Spaltung sprach. Er und Vlad hatten hier an dieser Stelle beieinander gestanden in ihrer ersten Minute auf dem Mars und sahen sich um ohne ein Wort füreinander. Sie absorbierten einfach die Schwere und das Rosa des Horizonts und den nahen Horizont, der genau so aussah wie jetzt nach so vielen Jahren. Areologische Zeit, so langsam und lang wie die große Systole des Kosmos. Man hatte sich in den Außenanzügen hohl gefühlt. Tschernobyl hatte mehr Beton erfordert, als in der dünnen, trockenen und kalten Luft beschafft werden konnte. Nadia hatte das irgendwie erledigt, aber wie? Durch Erwärmung, das ist richtig. Nadia hatte in jenen Jahren eine Menge Dinge in Ordnung gebracht. Die Tonnengewölbe, die Manufakturen, die Arkade... Wer hätte gedacht, daß sich eine auf der Ares so stille Person als so kompetent und energisch erweisen würde? Er hatte sich an seinen Eindruck von ihr auf der Ares seit sehr langer Zeit nicht mehr erinnert. Sie war so erschüttert gewesen, als Tatiana Durova durch einen umstürzenden Kran getötet wurde. Das war für alle ein Schock gewesen - außer für Michel, der sich als erstaunlich distanziert von der Katastrophe erwiesen hatte, dem ersten Todesfall. Würde Nadia sich jetzt noch daran erinnern? Ja, das würde sie, wenn sie daran gedacht hätte. Für Sax gab es nichts Einmaliges; oder, um genauer zu sein, wenn die Behandlung bei ihm anschlug, würde sie es auch bei ihnen allen tun. Da war Wasili, der in beiden Revolutionen für UNOMA gekämpft hatte. An was erinnerte er sich? Er sah betroffen aus; aber das konnte Begeisterung gewesen sein - irgend etwas oder alles. Höchstwahrscheinlich war es die allgemeine Emotion, die Fülle - offenbar einer der ersten Effekte der Behandlung. Vielleicht erinnerte er sich auch an Tatianas Tod. Nur Sax und Tatiana waren damals zu einem Spaziergang in der Antarktis hinausgegangen, und Tatiana war auf einem lockeren Stein ausgerutscht und hatte sich einen Knöchel verrenkt, und sie hatten warten müssen, bis Nussbaum Riegel sie mit einem Helikopter von McMurdo ins Lager zurückbrachte. Er hatte das seit Jahren vergessen; und dann hatte Phyllis ihn an die Nacht erinnert, wo sie ihn festgenommen hatte, und er hatte das prompt bis zu diesem Moment wieder vergessen. Zwei Wiederholungen in zweihundert Jahren. Aber jetzt war es wieder da: Die niedrige Sonne, die Kälte, die Schönheit der Dry Valleys, die Eifersucht von Phyllis auf die große dunkle Schönheit Tatianas. Daß diese Schönheit zuerst sterben sollte, war wie ein Signal, ein alter Fluch. Mars als Pluto, Planet von Furcht und Schrecken. Und jetzt jener Tag in Antarctica, die zwei Frauen längst tot. Er war der einzige Überlieferer jenes Tages. Ohne ihn würde er ausgelöscht sein. O ja, woran man sich erinnern konnte, war genau der Teil der Vergangenheit, den man am stärksten empfunden hatte, die durch Emotionen über eine gewisse Schwelle gedrängten Ereignisse. Die großen Freuden, die großen Krisen, die großen Katastrophen. Aber auch die kleinen. Er war von dem Basketballteam des siebten Grades ausgeschlossen worden, hatte allein geweint, als er die Liste las, an einer Trinkfontäne am äußersten Ende der Schule, und hatte gedacht: Das wirst du nie vergessen. Aber, bei Gott, er hatte es behalten. Große Schönheit. Das erste Mal, daß man Dinge tat, die eine besondere Bedeutung hatten. Die erste Liebe - wer war das eigentlich gewesen? Eine leere Stelle, damals in Boulder, ein Gesicht, irgendeine Freundin eines Freundes. Aber das war keine Liebe gewesen, und er konnte sich nicht an ihren Namen erinnern. Nein - jetzt dachte er an Ann Clayborne, die vor ihm stand, ihn fest anschaute - irgendwann vor langer Zeit. Was hatte er versucht, sich in Erinnerung zu rufen? Der Sturm der Gedanken war so dicht und rasch, daß er sich an manches würde nicht erinnern können. Dessen war er sich recht sicher.

Ein Paradoxon, aber nur eines von vielen, die der einzelne Faden des Bewußtseins in dem riesigen Feld des Geistes bewirkte. Eine Kraft von zehn in der vierunddreißigsten Potenz, die Matrix, in der alle großen Vorkommnisse gediehen. Im Innern des Schädels war ein Universum - so ungeheuer groß wie das draußen. Ann - er hatte auch mit ihr einen Ausflug in Antarctica gemacht. Sie war kräftig. Seltsamerweise hatte er sich während des Ausflugs über die Caldera von Olympus Mons niemals an diesen Spaziergang über Wright Valley in Antarctica erinnert, trotz der Ähnlichkeiten, einen Spaziergang, auf dem sie so ernst über das Schicksal des Mars diskutiert hatten und wo er so sehr gewünscht hatte, ihre Hand zu ergreifen, oder daß sie die seine nehmen würde. Warum hatte er so für sie geschwärmt? Und er, der sich in seiner Laborratten-Art nie zu solchen Gefühlen aufgeschwungen hatte, erstickte jetzt aus lauter Schüchternheit. Sie hatte ihn neugierig angeschaut, aber die Bedeutung der Situation nicht verstanden und sich nur gewundert, daß er so stotterte. Er hatte als Junge ein wenig gestottert. Das war ein biochemisches Problem, das anscheinend durch die Pubertät verschwand, aber gelegentlich wiedererschien, wenn er nervös war. Ann - Ann - er sah ihr Gesicht, als er mit ihr diskutierte auf der Ares, in Underhill, in Dorsa Brevia, im Lagerhaus von Pavonis. Warum immer dieser Angriff auf eine Frau, die ihn so angezogen hatte? Warum? Sie war so stark. Und dennoch hatte er sie so deprimiert gesehen, als sie hilflos auf dem Boden lag in jenem Felsenwagen, viele Tage lang, als ihr roter Mars starb. Einfach so dagelegen. Aber dann hatte sie sich aufgerappelt und weitergemacht. Sie hatte Maya davon abgehalten, ihn anzuschreien. Sie hatte geholfen, ihren Partner Simon zu begraben. Sie hatte all das getan, und niemals war Sax für sie etwas anderes gewesen als eine Last. Ein Teil ihres Leides. Das ist es, was er für sie war. In Zygote oder Gamete war er wütend auf sie - Gamete - tatsächlich in beiden - ihr Gesicht so verzerrt - und dann hatte er sie zwanzig Jahre lang nicht mehr gesehen. Und dann später, als er ihr die Langlebigkeitsbehandlung aufgezwungen hatte, hatte er sie seit dreißig Jahren nicht mehr gesehen. All diese Zeit vergeudet. Wenn sie tausend Jahre lang leben würden, wäre das nicht lange genug, um eine solche Vergeudung zu rechtfertigen.

Er ging im Alchimistenviertel umher. Er traf wieder auf Wasili, der mit tränenüberströmtem Gesicht im Staub hockte. Sie beide hatten das Experiment mit den Algen von Underhill verpfuscht, genau hier in eben diesem Gebäude. Aber Sax bezweifelte sehr, daß Wasili deshalb weinte. Vielleicht wegen etwas aus den vielen Jahren, die er für UNOMA gearbeitet hatte oder etwas anderes, unmöglich zu wissen. Nun, er könnte ihn fragen. Aber in Underhill herumspazieren, Gesichter sehen, und sich dann jäh an alles erinnern, was man wußte, war keine Situation, um nachfolgende Erkundigungen auszulösen. Nein - weitergehen, Wasili seiner Vergangenheit überlassen. Sax wollte nicht wissen, was Wasili bedauerte. Außerdem schritt auf halbem Wege zum Horizont im Norden eine einzelne Gestalt dahin - Ann. Eigenartig, sie ohne Helm im Freien zu sehen. Weißes Haar flatterte im Wind hinterher. Das genügte, um den Fluß der Erinnerungen anzuhalten. Aber er hatte sie zuvor so gesehen in Wright Valley. Ja, ihr Haar war damals auch hell gewesen. Aschblond nannte man das nicht sehr elegant. Es war gefährlich, unter den wachsamen Augen der Psychologen eine Bindung einzugehen. Sie waren im Dienst und unter Druck. Es gab keinen Raum für persönliche Beziehungen, die wirklich gefährlich waren, wie Natasha und Sergei bewiesen hatten. Aber es geschah dennoch. Vlad und Ursula wurden ein solides, beständiges Paar. Das Gleiche geschah mit Hiroko und Iwao, mit Nadia und Arkadij. Aber die Gefahr, das Risiko. Ann hatte ihn über den Labortisch beim Lunch anschaut; und in ihrem Blick war etwas, irgendein Interesse. Er wußte nicht was. Er hatte keine Menschenkenntnis. Sie waren alle solche Mysterien. An dem Tag, als er die Nachricht von seiner Aufnahme unter die Ersten Hundert bekam, hatte er sich so bekümmert gefühlt. Wieso? Kein Weg, es herauszufinden. Aber jetzt sah er den Brief in dem Faxkasten an dem Ahornbaum vor dem Fenster vor sich. Er hatte Ann angerufen, um zu erfahren, ob auch sie dabei wäre. Das war der Fall. Eine kleine Überraschung für ihn, der so einsam war. Aber er war ein bißchen glücklicher gewesen, wenn auch immer noch betrübt. Der Ahorn hatte rote Blätter gehabt. Herbst in Princeton, traditionell eine melancholische Zeit. Aber melancholisch war sie nicht gewesen. Einfach nur traurig. Als ob Leistung nichts wäre als eine gewisse Anzahl der drei Milliarden Herzschläge des Körpers, die vergangen waren. Und jetzt waren es zehn Milliarden, und es ging noch weiter. Nein, es gab keine Erklärung. Die Menschen waren Geheimnisse. Als Ann ihn fragte: »Sollen wir zum Lookout Point spazieren?«, in jenes trockene Labortal, hatte er sofort zugesagt, ohne zu stottern. Und ohne es richtig so eingerichtet zu haben, waren sie getrennt ausgezogen. Sie hatte das Camp verlassen und war zum Lookout Point marschiert; und er war ihr gefolgt. Und da draußen - o ja - beim Blick nach unten auf die Ansammlung von Hütten und die Treibhauskuppel, eine Art von Proto-Underhill, hatte er ihre Hand in Handschuhen in die seine genommen, als sie Seite an Seit dasaßen und vollkommen freundschaftlich übers Terraformen diskutierten, ohne daß eine besondere Absicht dabei im Spiele war.

Und sie hatte ihre Hand wie schockiert weggezogen und war erschauert (es war sehr kalt - jedenfalls für irdische Verhältnisse), und er hatte ebenso schlimm gestottert wie später nach seinem Schlaganfall. Eine limbische Hämorrhagie, die auf der Stelle bestimmte Elemente, Hoffnungen und Wünsche tötet. Liebe war tot. Und er hatte sie seither immer gequält. Nicht, daß diese Ereignisse richtige kausale Erklärungen boten, ganz gleich, was Michel gesagt hätte! Aber die antarktische Kälte auf dem Weg zurück zur Basis. Selbst in der eidetischen Klarheit seiner jetzigen Erinnerungskraft konnte er nicht viel von diesem Marsch sehen. Zerstreut. Weshalb? Weshalb hatte sie ihn so abgestoßen? Kleiner Mann. Weißer Labormantel. Es gab keinen Grund. Aber es war geschehen. Und hatte für immer seine Spur hinterlassen. Und selbst Michel hatte nie davon erfahren.

Verdrängung. Der Gedanke an Michel ließ ihn an Maya denken. Ann war jetzt am Horizont, er würde sie nie einholen und war sich in diesem Moment auch nicht sicher, ob er das wollte, immer noch benommen durch diese so überraschende und schmerzhafte Erinnerung. Er hielt weiter in seinen Gedanken Ausschau nach Maya. In der Vergangenheit hatte Arkadij über sie beide gelacht, als er von Phobos herunterkam, vorbei an Hirokos Treibhaus, wo sie ihn mit ihrer unpersönlichen Freundlichkeit verführt hatte, wie es Primaten in der Savanne tun, wenn sich ein Alphaweibchen so nebenbei ein Männchen greift, ein Alpha oder Beta oder aus einer Klasse, die Alpha sein könnte, aber nicht interessiert war, was er für den einzigen anständigen Weg hielt, sich zu benehmen. Vorbei an dem Wohnwagenpark, in dem sie alle als eine Familie zusammen auf dem Boden geschlafen hatten. Dann mit Desmond irgendwo in einer Kammer. Desmond hatte versprochen, ihnen zu zeigen, wie sie damals gelebt hatten in all den Versteckplätzen, die er kannte. Ein Durcheinander von Bildern Desmonds. Der Flug über den brennenden Kanal, dann der Flug über das brennende Kasei, die Angst in Kasei, als die Sicherheitsleute ihn an ihren wahnsinnigen Apparat angeschlossen hatten. Das war das Ende von Saxifrage Russell gewesen. Jetzt war er etwas anderes, und Ann war Gegen-Ann und auch die dritte Frau, welche weder Ann noch Gegen-Ann war. Vielleicht konnte er auf dieser Basis mit ihr reden, als zwei Fremde, die sich begegneten. Eher wie die zwei, die sich in der Antarktis begegnet waren.

Maya saß in der Küche des Tonnengewölbes und wartete darauf, daß ein großer Teekessel kochte. Sie machte für alle Tee.

»Maya«, sagte Sax und fühlte die Worte in seinem Mund wie Kieselsteine. »Du solltest es versuchen. Das ist nicht so schlimm.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich erinnere mich an alles, was ich will. Sogar jetzt, ohne eure Drogen, sogar jetzt, wenn ich mich kaum an etwas erinnere. Ich erinnere mich noch an mehr, als du dich je erinnern wirst. Ich will gar nicht mehr als das.«

Es war möglich, daß winzige Mengen der Drogen in die Luft und so auf ihre Haut gelangt waren und ihr einen kleinen Bruchteil der hyperemotionalen Erfahrung gegeben hatten. Oder vielleicht war das einfach ihr gewöhnlicher Zustand.

»Warum sollte das nicht genug sein?« fragte sie. »Ich will meine Vergangenheit nicht zurück haben. Wirklich nicht. Ich kann sie nicht ertragen.«

»Vielleicht später«, sagte Sax.

Was konnte man ihr raten? Sie war schon in Underhill so gewesen, unberechenbar und launisch. Es war erstaunlich, was für Exzentriker für die Ersten Hundert ausgewählt worden waren. Aber welche Wahl hatte das Selektionskomitee auch gehabt? Die Leute waren alle so, wenn sie nicht blöd waren. Und sie hatten kein blödes Volk auf den Mars geschickt, wenigstens nicht zuerst oder nicht zu viele. Und selbst die beschränkten Geister hatten ihre Komplexe.

»Vielleicht«, sagte sie jetzt, tätschelte seinen Kopf und nahm den Teetopf vom Brenner. »Vielleicht nicht. Ich erinnere mich so schon an zu vieles.«

»Frank?« fragte Sax.

»Natürlich. Frank, John - die sind alle hier präsent.« Sie klopfte sich mit dem Daumen auf die Brust. »Das schmerzt genug. Mehr brauche ich nicht.«

»Ah!«

Er ging wieder zurück nach draußen. Er fühlte sich vollgestopft, völlig verunsichert und aus dem Gleichgewicht. Das limbische System vibrierte wild unter dem Ansturm seines ganzen Lebens und dem Ansturm von Maya - so schön und verdammt. Jetzt wünschte er, daß sie glücklich sein möge. Aber was konnte er tun? Maya lebte ihr Elend voll aus; man könnte sagen, daß es sie glücklich machte. Oder vervollständigte. Vielleicht litt sie die ganze Zeit an dieser akut unangenehmen emotionalen Überfüllung. Oha! Es war doch so viel leichter, phlegmatisch zu sein. Und dennoch war sie so lebendig. Die Art, wie sie sie aus dem Chaos herausgepeitscht hatte, nach Süden, in Zygotes Sicherheit... So eine Stärke. All diese starken Frauen, die sich der Schrecklichkeit des Lebens stellten und sie empfanden, ohne Verneinung und ohne Abwehr. Die sie einfach erkannten und weitermachten. John, Frank, Arkadij, sogar Michel - sie alle hatten ihren großen Optimismus, Pessimismus, Idealismus, ihre Mythologien gehabt, um die Qual der Existenz zu kaschieren, alle ihre verschiedenen Wissenschaften. Und dennoch waren sie tot, auf die eine oder andere Weise ums Leben gekommen, und hatten Nadia, Maya und Ann zurückgelassen, die weitermachten. Ohne Zweifel konnte er sich glücklich schätzen, so robuste Schwestern zu haben. Selbst Phyllis machte mit der Hartnäckigkeit der Dummen ihren Weg recht gut. Jedenfalls letztlich ganz ordentlich, indem sie einfach dranblieb. Nie aufgeben. Nie etwas zugeben. Sie hatte, wie Spencer ihm gesagt hatte, gegen diese Tortur protestiert. Spencer und all ihre gemeinsamen Stunden der Aerodynamik. Spencer hatte ihm erzählt, wie sie nach zu vielen Whiskeys zum Sicherheitschef in Kasei gegangen war und verlangt hatte, er solle seine sanfte Behandlung aufgeben. Selbst nachdem er sie fast mit Stickoxid getötet und in ihrem eigenen Bett angelogen hatte. Sie schien ihm verziehen zu haben; und Spencer hatte Maya nie verziehen, obwohl er so tat, als wäre das der Fall. Sax hatte ihr verziehen, obwohl er jahrelang so getan hatte, als wäre es nicht der Fall, um eine gewisse Handhabe gegen sie zu behalten. Oh, was für einen Verhau hatten sie aus ihrem Leben gemacht. Alles infolge seiner übermäßigen Ausdehnung. Vielleicht war das immer in jedem Dorfe so. Aber so viel Trübsinn und Verrat! Vielleicht wurde die Erinnerung durch das Gefühl von Verlust ausgelöst, jetzt, da alles unausweichlich verloren war. Aber was war mit der Freude? Er versuchte sich zu erinnern. Konnte man durch Emotion umkehren? Eine interessante Idee. War das möglich? Daß man zum Beispiel wieder durch die Hallen der Terraformkonferenz ging und den Plakatanschlag sah, der den Wärmebeitrag des Russell-Cocktails auf 12 Kelvin schätzte. Daß man in Echus Overlook aufwachte und sah, daß der große Sturm vorbei war und der rosa Himmel vom Sonnenschein strahlte. Daß man die Gesichter sah im Zug, als sie aus dem Libya-Bahnhof fuhren. Daß er von Hiroko aufs Ohr geküßt wurde an einem Wintertag in Zygote, als den ganzen Nachmittag über Abend war. Hiroko! Oh, oh! Er hatte sich in der Kälte zusammengekauert, ganz verstört von dem Gedanken, durch einen Sturm getötet zu werden, gerade als die Dinge anfingen interessant zu werden. Wie er versucht hatte, seinen Wagen herbeizurufen; als es schien, daß er nicht zu ihm würde gelangen können. Und da war sie aus dem Schnee heraus erschienen, eine kleine Gestalt in einem rostroten Raumanzug, hell in dem weißen Sturm von Wind und horizontal fliegendem Schnee. Der Wind war so laut, das selbst das Interkom-Mikrophon in seinem Helm nicht mehr war als ein Flüstern. »Hiroko?« rief er, als er ihr Gesicht durch die von Schneematsch verschmierte Visierscheibe erblickte. Und sie sagte: »Ja.« Und zog ihn am Handgelenk hoch. Die Hand auf seinem Handgelenk! Er fühlte sie. Und kam hoch wie die Viriditas selbst. Die grüne Kraft durchströmte ihn, durch das weiße Rauschen, die weiße knisternde Statik. Ihr Griff war warm und fest, so voll wie das Plenum selbst. Ja. Hiroko war dort gewesen. Sie hatte ihn zum Wagen zurückgeführt, ihm das Leben gerettet und war dann wieder verschwunden. Und ganz gleich, wie sicher sich Desmond über ihren Tod in Sabishii war und wie überzeugend seine Argumente waren, ganz gleich, wie oft Kletterer in Bedrängnis sekundenlang Halluzinationen von Einzelkletterern gehabt hatten - Sax wußte es besser, wegen jener Hand auf seinem Handgelenk bei jenem Besuch im Schnee. Hiroko selbst in kompaktem Fleisch, so real wie ein Felsen. Lebendig! Darum konnte er es sich leisten, in diesem Wissen auszurasten. Er konnte etwas wissen - bei dem unerklärlichen Einsickern des Unsagbaren in alles konnte er in dieser gesicherten Tatsache Ruhe finden. Hiroko lebte. Damit sollte er anfangen und darauf aufbauen als dem Axiom lebenslänglicher Freude. Vielleicht sogar Desmond davon überzeugen und ihm Frieden geben.

Er war wieder draußen und sah sich nach Cojote um. Immer ein schwieriges Unterfangen. Welche Erinnerungen hatte Desmond von Underhill - verstecken, flüstern, die verlorene Farmcrew, dann die verlorene Kolonie, sich mit ihnen fortschleichen, draußen auf dem Mars in getarnten Felswagen umherfahren, von Hiroko geliebt werden, in einem getarnten Flugzeug bei Nacht über die Oberfläche fliegen, die Demimonde spielen, den Untergrund zusammenknüpfen. Sax konnte sich fast selbst daran erinnern, so lebhaft stand es ihm vor Augen. Telepathische Übertragung aller ihrer Stories an alle. Einhundert zum Quadrat, in den quadratischen Tonnengewölben. Nein. Das wäre zu viel. Schon die Vorstellung der Realität eines anderen war erstaunlich genug, war alles, was die Telepathie von einem verlangte oder vertragen konnte.

Aber wohin war Desmond gegangen? Hoffnungslos. Cojote konnte man nicht finden. Man wartete nur darauf, daß er einen finden würde. Er würde auftauchen, wann es ihm beliebte. Draußen, nordwestlich der Pyramiden und des Alchimistenviertels, lag das sehr alte Gerippe eines Landevehikels, wahrscheinlich eins von denen, die vor ihrer Landung abgeworfen worden waren. Sein Metall war bunt gestreift und mit Salz verkrustet. Der Anfang ihrer Hoffnungen, jetzt ein Skelett aus altem Metall, eigentlich gar nichts. Hiroko hatte ihm geholfen, es zu entladen.

Wieder im Alchimistenviertel. Alle Maschinen in den alten Gebäuden waren abgeschaltet und hoffnungslos veraltet, sogar der sehr geschickte SabatierProzessor. Er hatte sich gefreut, dieses Ding arbeiten zu sehen. Nadia hatte es eines Tages repariert, als alle anderen ratlos waren. Die kleine rundliche Frau summte eine Melodie in ihrer Welt vor sich hin und kommunizierte mit Maschinen zu Zeiten, da man sie noch verstehen konnte. Gott sei gedankt für Nadia, den Anker, der sie alle mit der Realität verband, und die einzige, auf die alle sich verlassen konnten. Er wollte sie umarmen, diese seine vielgeliebte Schwester, die anscheinend drüben im Fahrzeugpark war und versuchte, ein Museumsstück von Bulldozer in Gang zu bringen.

Aber dort am Horizont war eine Gestalt, die über einen Buckel nach Westen ging: Ann. Hatte sie, immer nur gehend, den Horizont umkreist? Er lief auf sie zu und stolperte, wie er es schon in der ersten Woche getan hätte. Er holte sie ein, allmählich, keuchend.

»Ann? Ann?«

Sie wandte sich um, und er sah die instinktive Furcht auf ihrem Gesicht, wie bei einem gejagten Tier. Er war eine Kreatur, vor der man weglief. Das war er für sie gewesen. »Ich habe Fehler begangen«, sagte er, als er vor ihr stehenblieb. Sie konnten in der freien Luft sprechen, in der Luft, die er gegen ihren Einwand hergestellt hatte. Obwohl sie immer noch so dünn war, daß man um sie ringen mußte. »Ich habe die... die Schönheit nicht gesehen, bis es zu spät war. Es tut mir außerordentlich leid.« Oh, er hatte das schon früher zu sagen versucht, in Michels Wagen, als sich die Sintflut ergoß, in Zygote in Tempe Terra. Es hatte nie geklappt. Ann und Mars, ganz ineinander verschlungen. Und dennoch hatte er sich beim Mars nicht entschuldigen müssen. Jeder Sonnenuntergang war schön; die Farbe des Himmels änderte sich jede Minute an jedem Tag als blaues Zeichen ihrer Macht und Verantwortlichkeit, ihres Platzes im Kosmos und ihrer Stärke darin, so klein und doch so bedeutend. Sie hatten Leben zum Mars gebracht, und das war gut. Dessen war er sich ganz sicher.

Aber bei Ann mußte er sich entschuldigen. Für die Jahre missionarischen Eifers, für den Druck, um sie zu einer Zustimmung zu zwingen, für die Jagd nach der Bestie ihrer Zurückweisung, um sie zu töten. Es tat ihm deswegen leid, so sehr, daß sein Gesicht von Tränen benetzt wurde. Und sie starrte ihn so an - genau so wie auf jenem kalten Felsen in Antarctica, der jetzt wiedergekommen war und in ihm ruhte. Seine Vergangenheit.

»Erinnerst du dich?« fragte er sie neugierig, auf diesen neuen Gedankengang geschaltet. »Wir gingen zusammen zum Lookout Point hinaus - ich meine nacheinander -, um uns zu treffen und privat miteinander zu sprechen? Ich meine, wir gingen einzeln. Du weißt, wie es damals war. Daß russische Paare sich in die Haare geraten und heimgeschickt worden waren. Wir alle verbargen alles, was wir konnten, vor den Auswahlleuten!« Er lachte und verschluckte sich etwas bei dem Bild ihrer tief irrationalen Anfänge. So raffiniert! Und alles, was danach gespielt worden war, entsprach einem solchen Anfang. Sie waren zum Mars hinausgezogen und hatten alles genauso gespielt, wie sie es zuvor schon immer gespielt hatten. Es war nichts als eine Wiederholung der immer gleichen Schemata. »Wir haben da gesessen, und ich dachte, wir kämen voran, und ich habe deine Hand ergriffen: Aber du hast sie weggezogen. Du mochtest das nicht. Ich fühlte mich schlecht. Wir gingen getrennt zurück und sprachen nie wieder darüber, niemals. Und dann habe ich dich wohl durch all dies gehetzt und dachte, es wäre wegen des... des...« Er zeigte auf den blauen Himmel.

»Ich erinnere mich«, sagte sie.

Sie sah ihn mit nach innen gewandtem Blick an. Er fühlte diesen Schock. Man tat so etwas nicht. Man sagte nie seiner verlorenen Jugendliebe, daß man sich daran erinnert. So etwas tut weh. Und doch stand sie da und schaute ihn überrascht an,

»Ja. Aber das war es nicht, was geschah«, sagte sie. »Ich war es. Ich meine, ich habe dir meine Hand auf die Schulter gelegt, ich hatte dich gern, und mir schien, wir könnten... Aber plötzlich hast du einen Sprung gemacht, als hätte ich dich mit einem Viehstachel erschreckt! Damals war die statische Elektrizität niedrig, aber dennoch... « Sie lachte scharf. »Nein. Du warst es. Du hast es nicht getan. Ich nahm an, es war nicht deine Art. Und es war eigentlich auch nicht die meine! Irgendwie hätte es klappen sollen, gerade deshalb. Aber es wurde nichts daraus. Und dann habe ich es vergessen.«

»Nein«, sagte Sax.

Er schüttelte den Kopf in einem primitiven Versuch, seine Gedanken neu zu sammeln und sich zu erinnern. Er konnte immer noch in diesem mentalen Theater am Lookout Point den Moment sehen, das ganze Ding fast wortwörtlich deutlich, Zug um Zug. Es ist ein reiner Gewinn an Ordnung, hatte er gesagt, um den Zweck der Wissenschaft zu erklären. Und sie hatte gesagt: Dafür wirst du das ganze Antlitz eines Planeten vernichten. Daran erinnerte er sich.

Aber da war dieser Zug in Anns Gesicht, als sie sich an den Vorfall erinnerte. Der Blick eines Menschen, der sich jedes Moments seiner Vergangenheit sicher war, lebendig mit der Aufwallung. Sicher erinnerte sie sich auch daran. Aber sie erinnerte sich dennoch an etwas anderes als er. Einer von ihnen mußte sich irren, nicht wahr?

»Könnten wir wirklich...«, sagte er und mußte innehalten und noch einmal anfangen.

»Könnten wir wirklich so ungeschickt gewesen sein, beide loszugehen - in der Absicht - uns zu erklären...«

Ann lachte. »Und sind beide fortgegangen mit dem Gefühl, einander zurückgewiesen zu haben.« Sie lachte noch einmal. »Aber sicher.«

Auch er lachte. Sie wandten die Gesichter zum Himmel und lachten.

Aber dann schüttelte Sax den Kopf voll schmerzlicher Wehmut. Was auch immer geschehen war - na gut. Jetzt war es nicht mehr festzustellen. Selbst mit seinem Gedächtnis, das wie ein artesischer Brunnen hochquoll, sogar wie eine jener kataklysmischen Fluten, gab es keinen Weg mehr, sicher zu sein, was wirklich geschehen war.

Das ließ ihn jäh erschauern. Wenn er diesen aufquellenden Erinnerungen nicht trauen konnte, wenn eine so entscheidende wie diese jetzt in Zweifel gezogen war, was war dann mit den anderen: was war mit Hiroko dort im Sturm, wo sie ihn zu seinem Wagen geführt hatte, die Hand auf seinem Handgelenk. Konnte das auch...? Nein! Aber Anns Hand hatte sich wirklich von ihm losgerissen, ein kinetisches Ereignis, an das sich sein Körper erinnert hatte in seinem Zellmuster, solange er leben würde. Das eine mußte wahr sein. Beide mußten wahr sein.

Und so?

Das also war die Vergangenheit. Da und nicht da. Sein ganzes Leben. Wenn nichts real war als dieser Moment, ein Planckscher Augenblick nach dem anderen, eine unvorstellbar dünne Membran des Werdens zwischen Vergangenheit und Zukunft - sein Leben? Was war es dann, so dünn, so ohne jede greifbare Vergangenheit oder Zukunft? Ein Aufblitzen von Farbe. Die Realität so zart, kaum da. Gab es nichts, was sie tun konnten?

Er versuchte, etwas davon zu sagen, stammelte, versagte, gab es auf.

»Gut«, sagte Ann, die ihn offenbar verstand. »Zumindest erinnern wir uns an so viel. Ich meine, wir sind uns einig, daß wir dort hinausgegangen sind. Wir hatten Ideen, die nicht verwirklicht wurden. Es geschah etwas, das wir damals wahrscheinlich beide nicht verstanden haben. Darum ist es nicht überraschend, daß wir uns jetzt nicht richtig daran erinnern können, oder daß unsere Erinnerungen nicht übereinstimmen. Wir müssen etwas begreifen, um uns daran zu erinnern.«

»Ist das so?«

»Ich denke, ja. Darum können sich Zweijährige nicht erinnern. Sie empfinden Dinge als verrückt, erinnern sich aber nicht daran, weil sie sie nicht wirklich verstehen.«

»Vielleicht.«

Er war sich nicht sicher, daß das Gedächtnis so arbeitete. Frühe Kindheitserinnerungen waren eidetische Bilder wie belichtete Photoplatten. Aber wenn es stimmte, dann war vielleicht alles in Ordnung; denn er hatte Hirokos Erscheinung im Sturm ganz entschieden verstanden, ihre Hand auf seinem Handgelenk. Diese Dinge des Herzens, in der Heftigkeit des Sturms...

Ann trat vor und drückte ihn an sich. Er wandte das Gesicht zur Seite. Sein Ohr drückte gegen ihr Schlüsselbein. Sie war groß. Er fühlte ihren Körper gegen seinen gedrückt und preßte sie seinerseits fest an sich. »Daran wirst du dich immer erinnern«, dachte er. Sie hielt ihn an den Armen von sich weg. »Das ist die Vergangenheit. Ich denke, sie erklärt nicht, was zwischen uns auf dem Mars geschehen ist. Das ist eine andere Sache.«

»Vielleicht.«

»Wir haben uns nicht geeinigt, aber wir hatten die gleichen - Beziehungen. Die gleichen Dinge waren für uns wichtig. Ich entsinne mich, wie du in jenem Felsenwagen in Marineris während des Flutausbruches versucht hast, mich aufzumuntern.«

»Und du mich. Als Maya mich nach Franks Tod ankreischte.«

»Ja«, sagte er und dachte zurück. Eine solche Kraft der Erinnerung hatten sie in jenen aufregenden Stunden! Der Wagen war damals ein Schmelztiegel gewesen. Sie hatten sich alle in einer ureigenen individuellen Art darin verwandelt. »Ich denke, ja. Das war nicht fair. Du versuchtest gerade, ihr zu helfen. Und der Ausdruck auf deinem Gesicht...«

Sie standen da und schauten zurück auf die verstreuten niedrigen Gebäude, aus denen Underhill bestand.

Schließlich sagte Sax: »Und hier sind wir nun.«

»Ja. Da sind wir.«

Ein peinlicher Augenblick. Noch ein peinlicher Augenblick. So war das Leben miteinander. Ein peinlicher Moment nach dem anderen. Er hätte sich schon irgendwie daran gewöhnen müssen. Dann trat er zurück, langte hin, faßte ihre Hand und drückte sie kräftig. Dann ließ er sie los. Sie wollte, wie sie sagte, durch die Arkade der verstorbenen Nadia hinaus in die unberührte Wildnis westlich von Underhill gehen. Sie empfing einen Schwall von Erinnerungen, der zu stark war, um sich auf die Gegenwart zu konzentrieren. Sie mußte gehen.

Er verstand. Sie ging winkend fort. Winkend! Und da war Cojote, drüben nahe den Salzpyramiden, die im Licht des Nachmittags leuchteten. Sax empfand erstmals seit Dekaden die Schwere des Mars, als er zu dem kleinen Mann hinüberhüpfte. Der einzige Mann unter den Ersten Hundert, der kleiner gewesen war als Sax. Sein Waffenbruder.

Während er durch sein Leben schweifte, Schritt für Schritt an einem anderen Ort, jeden Moment von neuem schockiert, war es wirklich recht schwierig, sich auf Cojotes facettiertes asymmetrisches Gesicht zu konzentrieren. Aber da war etwas, eine Vibration, die anscheinend auch in all seinen früheren Gestalten pulsiert hatte. Desmond war sich wenigstens immer selbst mehr oder weniger ähnlich gewesen. Gott wußte, wem Sax für die anderen ähnelte, oder was er sehen würde, wenn er jetzt in einen Spiegel schaute. Die Idee war verwirrend. Es könnte sogar ein interessantes Experiment sein, in einen Spiegel zu blicken, während man sich an etwas aus seiner Jugend erinnerte. Das Bild könnte sich verzerren. Desmond, ein Mann indianischer Abstammung aus Trinidad, sagte jetzt etwas, das schwer zu verstehen war, etwas über die Verzückung in der Tiefe - unklar, ob er die Gedächtnisdroge meinte oder eine Tiefseerfahrung aus seiner Jugend. Sax hatte den dringenden Wunsch, ihm zu sagen, daß Hiroko lebte. Aber als ihm die Worte schon auf der Zunge lagen, hielt er inne. Desmond sah in diesem Moment so fröhlich aus, und er würde Sax nicht glauben. Also würde er ihn nur aufregen. Wissen durch Erfahrung ist nicht immer in diskursives Wissen übertragbar. Das war schade, aber nicht zu ändern. Desmond würde ihm nicht glauben, weil er jene Hand an seinem Handgelenk nicht gefühlt hatte. Und warum sollte er schließlich auch?

Sie gingen hinaus nach Tschernobyl und redeten über Arkadij und Spencer. Sax sagte: »Wir werden alt.«

Desmond johlte. Er hatte immer noch höchst alarmierende Lachanfälle, die aber ansteckend waren, und Sax lachte auch. »Alt werden? Alt werden?«

Der Anblick ihres kleinen Rickover-Kernreaktors versetzte sie in Verzückung. Er war pathetisch, tüchtig, stupide und geschickt. Sax stellte fest, daß ihre limbischen Systeme noch überladen waren und mit allen Emotionen zugleich krächzten. Seine ganze Vergangenheit wurde immer klarer in einer Art von simultanen Überlagerungen von Sequenzen. Jedes Ereignis hatte seine eigene emotionale Ladung, die jetzt alle zugleich losgingen. So voll, so voll! Vielleicht voller als... was? Der Geist? Die Seele? Voller, als es zu sein vermochte. Überfließend, so war das Gefühl. »Desmond, ich fließe über.«

Desmond lachte nur noch heftiger.

Sein Leben hatte das Stadium bereits überschritten, in dem es möglich gewesen wäre, alles zugleich zu empfinden. Was war das überhaupt, dieses Fühlen? Ein limbisches Summen, das Brausen des Windes in den Fichten hoch in den Bergen, wenn man nachts in einem Schlafsack im Felsengebirge liegt und der Wind durch die Nadeln der Fichten faucht... Sehr interessant. Möglicherweise eine Wirkung der Droge, die vorbeigehen würde, obwohl er hoffte, daß es Effekte der Droge gab, die anhalten würden. Und wer konnte sagen, ob das nicht auch für diesen Aspekt als einen integralen Teil des Ganzen gelten konnte? Also: Wenn man sich an seine Vergangenheit erinnern kann und die sehr lang ist, dann fühlt man sich notwendigerweise sehr voll, voller Erfahrungen und Emotionen, bis zu dem Punkt, an dem es nicht leicht sein dürfte, noch viel mehr zu empfinden. War das nicht möglich? Oder vielleicht würde man alles intensiver fühlen als es angemessen war. Vielleicht hatte er sie alle zu schrecklich sentimentalen Leuten gemacht, die von Kummer befallen wurden, wenn sie auf eine Ameise traten und beim Anblick eines Sonnenaufgangs vor Freude weinten. Das wäre ungünstig. Genug war genug oder bereits zuviel. Genug war so gut wie ein Festmahl. Tatsächlich war Sax immer der Meinung gewesen, daß die Amplitude emotionaler Reaktion, die in den Leuten seiner Umgebung zum Ausdruck kam, ohne großen Verlust für die Menschheit ein gutes Stück heruntergeschraubt werden konnte. Natürlich würde es nicht gelingen, ganz gezielt jemandes Emotionen zu dämpfen. Das wäre Verdrängung und Sublimation mit dem daraus resultierenden Überdruck an anderer Stelle. Seltsam, wie nützlich das Freudsche Modell von der Dampfmaschine blieb - Kompression, Entspannung, der ganze Apparat, als ob das Gehirn von James Watt konstruiert worden wäre. Aber reduktive Modelle waren nützlich, sie lagen am Herzen der Wissenschaft. Und er hatte es lange Zeit nötig gehabt, Dampf abzulassen.

So gingen er und Desmond durch Tschernobyl, warfen Steine nach dem Reaktor, lachten und plauderten in rasch wechselnder Folge, weniger in einer Konversation als in einer simultanen Sendung, als wären sie beide absorbiert von ihren eigenen Gedanken. So war das Gespräch sehr wirr, aber dennoch gesellig. Es war tröstend zu hören, wie jemand sich so konfus anhörte. Und zugleich eine große Freude, sich diesem Mann, der sich von ihm in so vieler Hinsicht unterschied, so nahe zu fühlen und mit ihm über die Schule, die Schneelandschaften der südlichen Polgegend und die Parks in der Ares zu schwatzen. Auf diese Weise wurden sie einander irgendwie ähnlich.

»Wir machen alle die gleichen Dinge durch.«

»Das ist wahr! Das ist wahr!«

Seltsam, daß dieser Umstand das Verhalten der Menschen nicht stärker beeinflußte.

Schließlich gingen sie zum Wohnwagenpark zurück. Als sie hindurchliefen, wurden sie langsamer, festgehalten durch die Spinnweben vergangener Erinnerungen. Es war kurz vor Sonnenuntergang. In den Tonnengewölben strömten Leute herum, die auf das Abendessen warteten. Die meisten waren während des Tages zu abgelenkt gewesen, um zu essen, und die Droge schien ein milder Appetitzügler zu sein. Aber jetzt waren die Leute ausgehungert. Maya hatte einen großen Eintopf gekocht und Kartoffeln geschält und dazu getan. Borschtsch? Bouillabaisse? Sie hatte auch daran gedacht, am Morgen einen Backofen in Gang zu setzen, und jetzt füllte der Geruch frischen Brotes die warme Luft der Tonnengewölbe.

Sie versammelten sich in dem großen Doppelgewölbe in der Südwestecke, dem Raum, in dem Sax und Ann zu Beginn des offiziellen Terraformens ihre berühmte Debatte geführt hatten. Hoffentlich würde das Ann nicht einfallen, wenn sie hereinkam. Dagegen sprach nur, daß auf einem kleinen Schirm in der Ecke ein Videoband der Debatte abgespielt wurde. Na schön. Sie würde kurz auf ihre alte Art nach Einbruch der Dunkelheit kommen. Diese Beständigkeit machte allen Spaß. Dadurch war es irgendwie möglich zu sagen: Hier sind wir; die anderen sind heute abend nicht da, sonst ist alles dasselbe. Eine gewöhnliche Nacht in Underhill. Man redete über Arbeit und verschiedene Plätze. Es gab Essen, und es waren die alten vertrauten Gesichter. Als ob Arkadij oder John oder Tatiana jeden Moment hereinspazieren könnten, so wie Ann es jetzt tat, genau pünktlich, mit den Füßen stampfend, um sie aufzuwärmen und die anderen ignorierend, genau wie immer.

Aber sie kam und setzte sich neben ihn. Sie aß ihr Mahl (ein Stew auf provenAalische Art, wie Michel es zu kochen pflegte) an seiner Seite. Mit ihrem gewohnten Schweigen. Dennoch schauten Leute her. Nadia beobachtete sie mit Tränen in den Augen. Anhaltende Sentimentalität. Das könnte ein Problem werden.

Später, beim Klappern von Tellern und Stimmgeräuschen, wobei anscheinend alle zugleich sprachen und es manchmal sogar möglich schien, daß man etwas verstand bei dem Lärm, beugte Ann sich zu Sax herüber und sagte:

»Wohin gehst du nachher?«

»Nun«, sagte er, plötzlich wieder nervös, »einige von Da Vinci haben mich eingeladen zum... zum Segeln. Um ein neues Boot auszuprobieren, das sie für meine... meine Segeltouren konstruiert haben5 Ein Segelboot. Auf Chryse G.«

»Ah.«

Schreckliches Schweigen, trotz all des Lärms.

»Kann ich mitkommen?«

Eine brennende Empfindung in der Gesichtshaut. Sehr merkwürdige Verkrampfung der Blutgefäße. Aber er mußte sich aufraffen zu sprechen. »O ja!«

 

Und dann saßen alle herum, dachten nach, plauderten, erinnerten sich und tranken Mayas Tee. Maya sah zufrieden aus und kümmerte sich um sie. Ziemlich spät in der Nacht, als fast alle noch in den Sesseln lagen oder sich über dem Heizgerät fläzten, beschloß Sax, zum Wohnwagenpark hinüberzugehen, wo sie ihre ersten paar Monate verbracht hatten.

Nadia war auch draußen. Sie lag auf einer Matratze. Sax zog eine andere von der Wand herunter. Ja, es war seine alte Matratze. Dann kam Maya und alle übrigen. Man mußte dem ängstlichen Desmond zureden und ihn auf einer Matratze in der Mitte unterbringen. Man sammelte sich um ihn, manche an ihren alten Plätzen. Andere schliefen in anderen Wohnwagen und belegten die leeren Matratzen, die Leute benutzt hatten, die jetzt dahingegangen waren. Ein einziger Wagen nahm jetzt leicht alle auf. Und irgendwann tief in der Nacht lagen sie alle da und sanken langsam in unruhigen Schlummer. Auch das war eine liebe und warme Erinnerung, als alle im Raum in ihren Betten einschliefen. So hatte sich das immer angefühlt, in einem Bad mit Freunden dahinzutreiben, müde vom Tagewerk, der ach so interessanten Arbeit, eine Stadt und eine Welt zu erbauen. Schlaf, Erinnerung, Schlaf, Körper. Dankbar in dem Moment versinken und träumen.