Die Literatur über Langlebigkeit und Greisentum war so umfangreich und spezialisiert, das es für Sax zunächst schwierig war, seinen gewohnten Zugriff auf das Material zu organisieren. Neuere Arbeiten über den raschen Verfall bildeten den naheliegenden Ausgangspunkt, aber um Aufsätze über das Thema zu verstehen, mußte man auf ihre Vorgänger zurückgreifen und zu einem tieferen Verständnis der Langlebigkeitsbehandlungen als solcher zu gelangen. Dies war ein Gebiet, das Sax nie mehr als oberflächlich verstanden hatte, da er wegen seiner unordentlichen, biologisch nicht erklärbaren, geradezu wunderbaren Natur instinktiv davor zurückscheute. Wirklich ein Thema, das dem Herzen des großen Unerklärbaren sehr nahe war. Er hatte es fröhlich Hiroko und dem äußerst begabten Vladimir Taneev überlassen, der zusammen mit Ursula und Marina die ersten Behandlungen entworfen und deren Durchführung beaufsichtigt und seit damals viele bedeutende Veränderungen vorgenommen hatte.

Aber jetzt war Vlad tot. Und Sax war interessiert. Es war Zeit, in die Viriditas einzutauchen, in den Bereich des Komplexen.

Hier war ordentliches Verhalten, dort war chaotisches Verhalten. Und an der Grenze, sozusagen in ihrer Wechselwirkung, lag eine sehr ausgedehnte und verknäulte Zone, der Bereich des Komplexen. Dies war die Zone, wo Viriditas in Erscheinung trat, der Ort, wo Leben existieren konnte. Das Leben inmitten der Zone der Komplexität zu halten, war im allgemeinsten philosophischen Sinne das, worum sich die Langlebigkeitsbehandlungen bemüht hatten. Zu verhindern, daß verschiedene Einbrüche des Chaos (wie Aryhthmie) oder der Ordnung (wie bösartiges Zellwachstum) den Organismus verhängnisvoll zerstörten.

Aber inzwischen war etwas aufgetreten, das das gerontologisch behandelte Individuum von vernachlässigbarer Vergreisung zu extrem schnellem Altern überführte oder, noch verwirrender, direkt von der Gesundheit zum Tod führte - ganz ohne jedes Greisentum. Irgendein bisher nicht erkanntes Hereinbrechen von Chaos oder Ordnung in die Grenzzone des Komplexen. So erschien es ihm auf jeden Fall am Ende jeder langen Lektüresitzung der allgemeinsten Darstellungen des Phänomens, die er finden konnte. Und es schlug auch gewisse Forschungswege in der mathematischen Beschreibung der komplex-chaotischen Grenze vor, wie auch der Grenze zwischen Ordnung und Komplexität. Aber Sax verlor seine holistische Sicht des Problems in einem seiner Ausfälle, wobei der Gedankengang hinsichtlich der Substanz der Mathematik für immer verlorenging. Und wahrscheinlich (er versuchte, sich danach zu trösten) war es wohl eine allzu philosophische Sicht gewesen, um ihm irgendwie zu nützen. Die Erklärung schien schließlich doch nicht so auf der Hand zu liegen, sonst hätten die massiven konzertierten Bemühungen der medizinischen Wissenschaft es inzwischen herausgebracht. Im Gegenteil - es mußte etwas sehr Subtiles in der Biochemie des Gehirns stecken, einem Gebiet, das wie eine Hydra fünfhundert Jahren wissenschaftlicher Forschung widerstanden hatte, indem jede neue Entdeckung nur auf eine weitere Menge mysteriöser Köpfe hinwies...

Dennoch blieb er hartnäckig. Und nach einigen Wochen angespannter Lektüre verschaffte er sich gewiß eine bessere Orientierung auf dem Gebiet, als er sie je zuvor gehabt hatte. Früher hatte er den Eindruck gehabt, daß die Langlebigkeitsbehandlung auf einer recht einfachen Injektion der eigenen DNS beruhe, wobei die künstlich erzeugten Fasern die in den Zellen bereits vorhandenen verstärkten, so daß die sich im Laufe der Zeit einschleichenden Brüche und Fehler repariert und die Fasern allgemein gekräftigt wurden. Soweit stimmte das ja auch; aber die Langlebigkeitsbehandlung war noch mehr, ebenso wie das Altern mehr als nur ein Fehler der Zellteilung war. Sie war, wie man hätte voraussagen können, viel komplizierter als einfach das Zerbrechen von Chromosomen. Sie war ein ganzer Komplex von Prozessen. Und während man manche davon gut verstand, galt das nicht automatisch für alle. Alterungsprozesse fanden auf jeder Ebene statt: Molekül, Zelle, Organ, Organismus. Manche Alterung beruhte auf hormonalen Effekten, die für den jungen Organismus in seiner reproduktiven Phase positiv sind, aber später negativ für das nicht mehr reproduktive Wesen, wenn es für die Evolution keine Rolle mehr spielte. Manche Zeil-Linien waren praktisch unsterblich. Zellen des Knochenmarks und der Schleim im Gedärm ersetzten sich, solange ihre Umgebung lebendig war, ohne jedes Anzeichen für altersbedingte Veränderungen. Andere Zellen, wie die nicht ersetzten Proteine in der Linse des Auges, unterlagen Veränderungen, die durch Wärme oder Licht hervorgerufen wurden, und zwar so regelmäßig, um als eine Art biologischen Chronometers dienen zu können. Jede Zellreihe alterte mit unterschiedlicher Geschwindigkeit oder überhaupt nicht. Das war nicht bloß >eine Sache der Zeit< im Sinne Newtonscher absoluter Zeit, die entropisch auf einen Organismus einwirkt. Eine solche Zeit gab es nicht. Vielmehr handelte es sich um sehr viele Folgen spezieller physikalischer und chemischer Ereignisse, die sich mit verschiedenen Geschwindigkeiten und sich verändernden Effekten bewegen. Es gab eine phantastisch hohe Zahl von Mechanismen der Zellreparatur, die in jedem großen Organismus stecken, und ein Immunsystem von großer und variabler Kraft. Die Langlebigkeitsbehandlungen ergänzten oft die Prozesse oder ersetzten sie. Zu der Behandlung gehörten jetzt auch Ergänzungen der enzymatischen Photolyase, die Behebung von DNS-Schäden und Zusätze zu dem epiphysären Hormon-Melatonin, sowie Dehydroepiandrosterone, ein Steroidhormon, das von den Nebennierendrüsen produziert wird... Es gab jetzt ungefähr zweihundert solcher Komponenten bei der Langlebigkeitsbehandlung.

So viel, so komplex! Manchmal beendete Sax seine Tageslektüre und ging zu Odessas Strand hinunter, um mit Maya auf der Corniche zu sitzen und ein Burrito zu essen, den er betrachtete und dabei über alles nachdachte, was in seine Verdauung einging, über alles, das sie am Leben erhielt. Er fühlte seinen Atem, den er vorher überhaupt nicht beachtet hatte. Plötzlich kam er sich atemlos vor, verlor den Appetit und verlor den Glauben, daß irgendein so komplexes System länger als einen Moment existieren könnte, ehe es in urtümliches Chaos und die Trivialitäten der Astrophysik zusammenbrach. Wie ein Kartenhaus von hundert Stockwerken bei Wind. Man brauchte es nur irgendwo anzustoßen, und... Es war günstig, daß Maya nicht viel aktive Gesellschaft brauchte, weil er oft viele Minuten lang sprachlos saß, hingerissen in der Betrachtung seiner offenbaren Unfähigkeit.

Aber er war hartnäckig. So verhielt sich ein Wissenschaftler eben, wenn er mit einem Rätsel konfrontiert war. Und es gab andere, die bei der Forschung halfen und ihm voraus an den Grenzen arbeiteten und neben ihm auf verwandten Gebieten, angefangen mit der Virologie des Kleinen, in der die Untersuchungen über winzige Formen wie Prionen und Viroide immer noch kleinere Formen ans Licht förderten, die fast zu untergeordnet waren, um Leben genannt werden zu können: Viride, Viris, vis, vs - die alle für das große Problem von Bedeutung sein könnten... Den ganzen Weg bis hinauf zu großen organismischen Abkömmlingen wie Rhythmen der Gehirnwellen und deren Beziehung zum Herz und anderen Organen; oder die ständig abnehmenden Melatoninsekrete der Zirbeldrüse, eines Hormons, das viele Aspekte des Alterns zu regeln schien. Sax verfolgte das alles im Bemühen, durch seine spätere und hoffentlich größere Perspektive einen neuen Überblick zu gewinnen. Er mußte seiner Intuition hinsichtlich dessen, was wichtig erschien, folgen, und das studieren.

Natürlich half es nicht, daß ihm manche seiner besten Gedanken zu dem Thema im Moment ihres Abschlusses verloren gingen. Er mußte imstande sein, diese flüchtigen Gedanken aufzuzeichnen, ehe sie verschwanden! Er fing an, laut Selbstgespräche zu führen, auch in der Öffentlichkeit, in der Hoffnung, das würde ihm helfen, die Ausfälle zu verhindern. Aber das klappte nicht. Es war einfach kein verbaler Prozeß.

Bei all dieser Arbeit waren die Begegnungen mit Maya ein Vergnügen. Jeden Abend, wenn er merkte, daß es dunkel wurde, pflegte er mit Lesen aufzuhören und ging die Stufentreppen der Stadt hinunter zur Corniche; und dort sah er auf einer von vier verschiedenen Bänken oft Maya, wie sie da saß und über den Hafen in die See schaute. Dann ging er zu einem der Lebensmittelstände hinten im Park, kaufte einen Burrito, Gyros oder Salat oder einen Corndog, kam herüber und setzte sich neben ihr hin. Sie nickte, und sie aßen dann, ohne viel zu sprechen. Danach betrachteten sie schweigend die See.

»Wie war dein Tag?« - »Okay, und deiner?« Er versuchte, nicht viel über seine Lektüre zu sprechen; und sie sagte nicht viel über ihre Hydrologie oder die Theaterproduktionen, zu denen sie ging, wenn die Dämmerung eingefallen war. Sie hatten sich eigentlich nicht viel zu sagen. Aber es war jedenfalls gesellig. Eines Abends flammte der Sonnenuntergang mit ungewöhnlichem Lavendelglanz, und Maya wunderte sich: »Ich möchte wissen, was für eine Farbe das ist.« Und Sax mutmaßte: »Lavendel?«

»Aber Lavendel ist doch gewöhnlich eher pastellfarben, nicht wahr?« Sax rief eine große Farbkarte auf, die er vor längerer Zeit gespeichert hatte, um damit die Farben des Himmels zu bestimmen. Maya murrte darüber; aber hielt sein Handgelenk dennoch hoch und verglich verschiedene Probequadrate mit dem Himmel. »Wir brauchen einen größeren Bildschirm.« Und dann fanden sie eine Farbe, die zu passen schien: Hellviolett. Oder irgendwo zwischen Hellviolett und Blaßviolett.

Danach hatten sie ein kleines Hobby. Es war wirklich bemerkenswert, wie verschieden die Farben der Sonnenuntergänge in Odessa waren und den Himmel, das Meer und die weißgetünchten Wände der Stadt beeinflußten. Eine endlose Variation. Viel mehr Variationen, als es Namen für sie gab. Die Armut der Sprache auf diesem Gebiet war für Sax eine ständige Überraschung. Sogar die Armut seiner Farbtafel. Das Auge konnte vielleicht zehn Millionen verschiedener Tönungen erkennen, wie er las. Das Handbuch, auf das er Bezug nahm, enthielt 1266 Beispiele. Und nur ein sehr kleiner Bruchteil davon hatte überhaupt einen Namen. Darum streckten sie an den meisten Abenden die Arme aus und probierten verschiedene Farben vor dem Himmel. Dann fanden sie einen Fleck, der recht gut paßte, und er trug keinen Namen. Dann erfanden sie Namen: der 11. des 2. Oktobers, Orange, Aphel Purpur, Limonenblatt, Fast Grün, Arkadijs Bart. Maya konnte immer so weitermachen. Sie war darin wirklich gut. Dann fanden sie manchmal eine Namensbezeichnung, die zum Himmel paßte (wenigstens für einen Augenblick) und lernten die wahre Bedeutung eines neuen Wortes kennen, die Sax befriedigte. Aber in dem Bereich zwischen Rot und Blau hatte das Englische überraschend wenig zu bieten. Die Sprache war eben einfach nicht für den Mars ausgerüstet. Eines Abends gingen sie in der Dämmerung nach einem malvenfarbenen Sonnenuntergang die Farbtafel methodisch durch, nur um zu sehen: Purpur, Magenta, Lilagrau, Amaranth, Aubergine, Malve, Amethyst, Pflaume, Violett, Heliotrop, Clematis, Lavendel, Indigo, Hyazinth, Ultramarin, und dann kamen sie zu den Worten für Blautöne. Es gab sehr viele davon. Aber für die rotblaue Spanne waren es, mit Ausnahme der vielen Modulationen der Liste, Königsviolett, Lavendelgrau und so weiter.

Eines Abends war der Himmel klar; und nachdem die Sonne hinter den Hellespontus Montes untergegangen war, die Luft über der See aber noch erhellte, verwandelte sie sich in ein sehr vertrautes rostbraunes Orange. Maya packte Sax heftig am Arm: »Schau, das ist Mars-Orange, das ist die Farbe des Planeten aus dem Weltraum, wie wir sie aus der Ares gesehen haben! Schau! Schnell, welche Farbe ist das?«

Sie sahen die hochgehaltenen Tafeln durch. »Paprikarot.« - »Tomatenrot.« - »Oxidrot, das sollte richtig sein, denn Eisen bewirkt ja auch diese Farbe.«

»Aber es ist ein wenig zu dunkel. Sieh hin!«

»Stimmt.«

»Bräunlichrot.«

»Rötlichbraun.«

Zimt, Sienna, Persisch Orange, Sonnenbrand, Kamel, Rostbraun, Sahara, Chromorange... Sie lachten. Nichts war genau richtig. Maya entschied: »Wir nennen es Mars-Orange.«

»Fein! Aber schau, wieviel mehr Namen es für diese Farben gibt als für die Purpurtöne. Warum das?«

Maya zuckte die Achseln. Sax las weiter im Begleitmaterial für die Tafel, um zu sehen, ob dort etwas darüber gesagt wurde. »Ah! Es scheint, daß die Stäbchen in der Netzhaut dazu tendierten, in den drei Grundfarben am besten zu sehen. Darum gibt es in der Nähe davon viele Unterscheidungen, während die dazwischen liegenden gemischt sind.« Dann fiel ihm in der sich purpurn färbenden Dämmerung ein Satz ein, der ihn so überraschte, daß er ihn laut vorlas:

»Rot und Grün bilden ein weiteres Paar, das man nicht simultan als Komponenten der gleichen Farbe erkennen kann.«

»Das stimmt nicht«, sagte Maya sofort. »Das ist nur, weil sie einen Farbkreis benutzen und diese beiden auf entgegengesetzten Seiten liegen.«

»Was meinst du? Daß es mehr Farben gibt als diese?«

»Natürlich. Künstlerfarben, Theaterfarben. Wenn man jemandem einen grünen Fleck und einen roten Fleck aufträgt, bekommt man wohl eine Farbe, und die ist nicht rot oder grün.«

»Aber was ist sie? Hat sie einen Namen?«

»Ich weiß nicht. Schau in das Farbenrad eines Künstlers!«

Und das tat er, und sie auch. Sie fand es zuerst: »Hier. Gebrannte Umbra, indisches Rot, Krapp-Alizarin... Das sind alles grünrote Mischungen.«

»Interessant! Rotgrüne Mischungen!... lauter grünrote Mischungen.«

Sie sah ihn an. »Wir sprechen hier über Farben, Sax, und nicht über Politik.«

»Ich weiß, ich weiß. Sei nicht albern!«

»Aber meinst du nicht, daß wir eine rotgrüne Mischung brauchen?«

»Politisch? Sax, es gibt schon eine rotgrüne Mischung. Das ist das Problem. Der Freie Mars hat die Roten an Bord genommen, um die Einwanderung zu stoppen, und darum sind sie so erfolgreich. Sie schließen sich zusammen und sperren den Mars für die Erde, und bald werden sie wieder Krieg mit ihnen führen. Ich sage dir, das kann ich kommen sehen. Wir rutschen wie auf einer Spirale hinein.«

»Hmm«, machte Sax ernüchtert. Er kümmerte sich in diesen Tagen nicht um die Politik des Sonnensystems, wußte aber, daß Maya, die ein sehr scharfes Auge für diese Dinge hatte, sich immer mehr Sorgen darüber machte - mit dem bei ihr üblichen sarkastischen Spritzer von Genugtuung angesichts des Nahens der Krise. Darum war es vielleicht nicht ganz so schlimm, wie sie meinte. Wahrscheinlich würde er sich bald wieder darum kümmern müssen. Aber inzwischen ...

»Das ist nicht Indigo, das ist Königsblau.«

»Aber sie sollten es nicht blau nennen, wenn etwas Rot darin ist.«

»Sollten sie nicht. Schau, Marineblau, Preußischblau, Königsblau - da ist überall Rot drin.«

»Aber jene Farbe am Horizont ist keine davon.«

»Nein, du hast recht. Nicht klassifizierbar.«

Sie vermerkten das auf ihren Karten. Ls 24, m-Jahr 91, September 2205 - eine neue Farbe. Und damit verging wieder ein Abend.

Dann saßen sie an einem Winterabend in der Stunde vor Sonnenuntergang auf der westlichsten Bank. Alles war still, das Hellas-Meer wie eine Glasscheibe, der Himmel wolkenlos, rein, sauber, klar; und als die Sonne sank, da verschob sich alles über das Spektrum ins Blaue, bis Maya von ihrem Nizza-Salat aufschaute und Sax am Arm packte. »O mein Gott, schau!« Sie schob ihren Papierteller beiseite, und beide standen sie instinktiv auf - wie alte Veteranen, wenn sie die Nationalhymne einer näherkommenden Parade hören. Sax verschlang seinen Hamburger mit einem Bissen, sagte: »Ah!« und schaute. Alles war blau, himmelblau, blau wie der Himmel der Erde, und durchtränkte alles während des größten Teils einer Stunde, überflutete ihre Netzhäute und die Nervenbahnen in ihren Gehirnen, die sich ohne Zweifel lange nach dieser Farbe gesehnt hatten, nach der für immer verlassenen Heimat.

 

Das waren schöne Abende. Aber bei Tag wurden die Dinge immer komplizierter. Sax gab das Studium von Ganzkörperproblemen auf und widmete sich nur noch dem des Gehirns. Das war so, als wolle man die Unendlichkeit halbieren, aber es schlug sich bei den Papieren, die er durchsehen mußte, nieder und es schien so, als wäre das Gehirn sozusagen das Herz des Problems. Es gab Veränderungen in einem überalterten Gehirn, die sowohl bei der Autopsie zu erkennen waren wie bei den verschiedenen Kontrollen des Blutstroms, in der elektrischen Aktivität, im Proteinverbrauch, Zuckerverbrauch, der Wärme und allen übrigen indirekten Tests, die man im Laufe der Jahrhunderte beim Studium des lebenden Gehirns während mentaler Aktivität jeder Art ersonnen hatte. Zu den beobachteten Veränderungen im überalterten Gehirn zählte die Verkalkung der Zirbeldrüse, durch die die Menge des von ihr produzierten Melatonins vermindert wurde. Zufuhr synthetischen Melatonins war Teil der Langlebigkeitsbehandlung. Aber natürlich wäre es besser, gleich zu Anfang die Verkalkung zu stoppen, weil sie wahrscheinlich noch andere Effekte hatte. Ferner gab es eine deutliche Zunahme von neurofibrillaren Verflechtungen, die Aggregate von Proteinfilamenten waren, die zwischen den Neuronen wuchsen und physischen Druck auf sie ausübten - vielleicht analog zu dem Druck, den Maya während ihrer presque vus meldete. Wer konnte das sagen? Dann wiederum sammelte sich Beta-Amyloid-Protein in den zerebralen Blutgefäßen und im interzellularen Raum um die Nerventerminals, wodurch abermals die Funktion behindert wurde. Und pyramidale Neuronen im frontalen Cortex und Hippocampus sammelten Calpain an, wodurch sie verwundbar gegenüber Kalziumzuflüssen wurden, die sie beschädigten. Und das waren Zellen, die sich nicht teilen, ebenso alt wie der Organismus selbst waren. Bei ihnen war ein Dauerschaden permanent, wie bei dem Schlag, den Sax erlitten hatte. Er hatte bei diesem Vorfall, an den er nicht gern zurück dachte, einen großen Teil seines Gehirns eingebüßt. Und auch die Fähigkeit der Moleküle, sich in diesen Zellen, die sich nicht teilen, zu ersetzen, könnte geschädigt werden - ein scheinbar kleiner, aber im Laufe der Zeit ebenso bedeutsamer Verlust. Autopsien von Menschen, die über zweihundert Jahre gelebt und an dem raschen Verfall gestorben waren, zeigten regelmäßig eine starke Verkalkung der Zirbeldrüse in Verbindung mit erhöhtem Calpain-Niveau im Hippocampus. Und Hippocampus wie Calpainspiegel spielten beide eine Rolle bei einigen führenden Modellen zur Gedächtnisfunktion. Das war ein interessanter Zusammenhang.

Aber das alles führte nicht weiter. Und niemand würde das Geheimnis allein durch das Literaturstudium lösen können. Aber die Experimente, die zur Aufklärung hätten beitragen können, waren wegen der Unzugänglichkeit des lebenden Gehirns nicht machbar. Man konnte Hühner, Mäuse, Ratten, Hunde, Schweine, Lemuren und Schimpansen töten; man konnte Individuen jeder Spezies der Schöpfung töten, auch die Gehirne ihrer Föten und Embryos sezieren, aber niemals das finden, wonach man suchte. Denn die Autopsie allein war für das Vorhaben unzureichend. Die verschiedenen Scans an lebenden Objekten waren genauso unvollkommen, da die in Betracht kommenden Prozesse entweder feinkörniger waren, als die Scans erkennen ließen, oder holistischer oder kombinatorischer oder wahrscheinlich alles zugleich.

Indessen waren einige Experimente und die daraus folgenden Modelle anregend. Der Aufbau von Calpain schien beispielsweise die Funktion der Gehirnwellen zu verändern. Dies und andere Faktoren lieferten Sax Ideen für seine weitere Forschung. Er begann, intensiv die Literatur über die Effekte kalziumbindender Proteinspiegel zu lesen, über Cortisteroide, über die Kalziumströme in den hippocampischen pyramidalen Neuronen und über die Verkalkung der Zirbeldrüse. Es schien synergistische Effekte zu geben, die sowohl das Gedächtnis als auch die allgemeine Gehirnwellenfunktion beeinflussen könnten, überhaupt alle körperlichen Rhythmen einschließlich Herzrhythmen. Sax fragte Maya: »Hatte Michel irgendwelche Gedächtnisprobleme? Vielleicht fühlte er, daß er ganze Gedankenkomplexe verlor, selbst sehr wichtige Gedanken?«

Maya zuckte die Achseln. Aber Michel war inzwischen schon fast ein Jahr tot.

»Ich kann mich nicht entsinnen.«

Das machte Sax nervös. Maya schien sich zurückzuziehen. Ihr Gedächtnis wurde jeden Tag schlechter. Selbst Nadia konnte nichts für sie tun. Sax kam mit ihr immer häufiger zusammen an der Corniche. Das war eine Gewohnheit, die sie beide offenbar genossen. Obwohl sie nie darüber sprachen. Sie saßen einfach da, aßen eine Kleinigkeit vom Kiosk, beobachteten den Sonnenuntergang und holten ihre Farbtafeln heraus, um zu sehen, ob sie eine neue Nuance erwischen konnten. Aber es kam ihnen nicht auf die Bemerkungen an, die sie auf den Tafeln eintrugen. Keiner von ihnen wäre sicher gewesen, ob die Farben, die sie sahen, wirklich neu waren oder nicht. Sax selbst hatte den Eindruck, daß er seine Ausfälle häufiger erlebte, vielleicht vier bis acht jeden Tag, obwohl er nicht sicher sein konnte. Er machte sich zur Gewohnheit, in seinem Handy ständig eine Aufnahmefrequenz laufen zu lassen, die durch seine Stimme aktiviert wurde; und anstatt zu versuchen, seinen vollen Gedankengang zu beschreiben, sprach er bloß ein paar Worte, von denen er hoffte, daß sie später eine bessere Erinnerung an das auslösen würden, was er gedacht hatte. Am Ende des Tages setzte er sich dann gespannt und hoffnungsvoll hin und hörte ab, was der Computer während des Tages eingefangen hatte. Meistens waren es Gedanken, an die er sich erinnerte. Aber gelegentlich hörte er sich sagen: »Synthetische Melatonine könnten ein besseres Antioxidans sein als natürliche, weil es dann nicht genug freie Radikale gibt«, oder: »Viriditas ist ein fundamentales Mysterium. Es wird nie eine große vereinheitlichte Theorie geben«, ohne daß er sich erinnerte, so etwas gesagt zu haben, und oft nicht einmal daran, was es bedeuten könnte. Aber immerhin waren die Äußerungen manchmal anregend und ihre Bedeutungen auswertbar.

Und so bemühte er sich weiter. Dabei sah er erneut, so frisch wie in seinen ersten Studienjahren, daß die Struktur der Wissenschaft schön war. Sie war sicherlich eine der größten Leistungen des menschlichen Geistes, eine Art von staunenswertem Parthenon des Geistes, ein Werk in ständigem Fortschritt wie ein symphonisches episches Gedicht aus Tausenden von Versen, das von ihnen allen gemeinsam in einer gigantischen fortdauernden Zusammenarbeit verfaßt wurde. Die Sprache des Epos war Mathematik, weil diese die Sprache der Natur selbst zu sein schien. Es gab keinen anderen Weg; die aufregende Verbindung von Naturerscheinungen war nur mittels mathematischer Ausdrücke großer Komplexheit und Subtilität zu erklären. Und so erkundeten ihre Gesänge in dieser wunderbaren Familie von Sprachen die mannigfachen Manifestationen der Realität auf den verschiedenen Gebieten der Wissenschaft. Jede Disziplin erarbeitete sich ihr Standardmodell, um Dinge zu erklären, die sich alle in einiger Distanz um die Grundlagen der Partikelphysik gruppierten, je nachdem, welches Niveau oder welcher Maßstab untersucht wurde, so daß alle Standardmodelle sich hoffentlich einmal in einer kohärenten größeren Struktur zusammenschlössen. Diese Standardmodelle waren von der Art wie die Paradigmen von Thomas Kuhn, aber in Wirklichkeit (da Paradigmen ja aus einem Vorgang des Modellierens entstanden) elastischer und variabler, ein dialogischer Prozeß, an dem Tausende von Geistern während der vergangenen Jahrhunderte gearbeitet hatten. Darum waren Gestalten wie Newton oder Einstein oder Vlad nicht die isolierten Riesen, als die sie der Öffentlichkeit erscheinen, sondern nur die höchsten Gipfel einer großen Gebirgskette, wie Newton selbst es klar zu machen versucht hatte mit seiner Bemerkung, daß er auf den Schultern von Riesen stünde. In Wahrheit war das Werk der Wissenschaft eine Gemeinschaftsarbeit, die noch vor die Geburt der modernen Wissenschaft zurückreichte, bis hin zur Vorgeschichte, wie Michel immer betont hatte. Ein ständiger Kampf um Erkenntnis. Jetzt war sie natürlich sehr strukturiert und gegliedert, um über die Fähigkeit jedes einzelnen Individuums hinaus alles zu erfassen.

Aber das beruhte nur auf ihrer erdrückenden Quantität. Die eindrucksvolle Blüte der Struktur war durchaus nicht besonders unverständlich. Man konnte immer noch gewissermaßen irgendwo innerhalb dieses Parthenons spazieren gehen und damit wenigstens die Gestalt des Ganzen erfassen und sich aussuchen, wo man studieren und einen Beitrag leisten wollte. Man konnte zuerst den Dialekt der für die Untersuchung relevanten Sprache erlernen, was an sich schon ein gewaltiges Unterfangen war, etwa wie in der Theorie der Superstrings oder des stufenweise rekombinierenden Chaos. Danach konnte man die Sekundärliteratur durchsehen in der Hoffnung, das synkretistische Werk von jemandem zu finden, der lange an der vordersten Front gearbeitet hatte und imstande war, eine kohärente Darstellung für Außenstehende über den Stand des Feldes zu geben. Diese Arbeit, die als >graue Literatur< bezeichnet wurde, und als ein Freizeitvergnügen oder als ein Zugeständnis des Verfassers bewertet wurde, war dennoch oft von großem Wert für jemanden, der von außen kam. Mit einer allgemeinen Übersicht (obwohl man sie sich besser als eine Untersicht vorstellte, da die aktuellen Arbeiter da oben in den undeutlichen Dachsparren und dem Gebälk des Baus tätig waren) konnte man sich dann zu den Zeitschriften hocharbeiten, zu der von Fachleuten überwachten weißen Literatur<, wo die laufenden Arbeiten verzeichnet waren. Und man konnte die Zusammenfassungen lesen und ein Gefühl dafür bekommen, wer welchen Teil des Problems anging. Öffentlich und ausführlich. Und bei jedem vorliegenden wissenschaftlichen Problem bildeten diejenigen, die aktuell an der Grenze Fortschritte machten, eine besondere Gruppe von Synthetikern und Innovatoren, die in der ganzen Welt nicht mehr als ein Dutzend Leute zählte. Sie erfanden einen neuen Jargon ihres Dialekts, um ihre neuen Erkenntnisse mitzuteilen, diskutierten über Resultate, schlugen neue Wege der Untersuchung vor und gaben einander Jobs in Labors, trafen sich bei Konferenzen, die ausdrücklich dem Thema gewidmet waren, um miteinander zu diskutieren. Sie waren in allen Medien. Und dort ging in den Labors und den Konferenzbars die Arbeit als ein Dialog zwischen Leuten voran, die wußten, worauf es ankam, die die reine harte Arbeit der Experimente leisteten und über die Experimente nachdachten.

Und diese ganze weite Struktur einer Kultur stand im vollen Licht der Sonne da. Zugänglich für jeden, der sich beteiligen wollte, der willens und fähig war, die Arbeit zu leisten. Es gab keine Geheimnisse und keine verschlossenen Läden. Und wenn jedes Labor und jedes Spezialgebiet seine Politik hatte, so war das eben Politik. Und letztendlich konnte diese Politik die Struktur selbst nicht materiell in Mitleidenschaft ziehen, jenes mathematische Gebäude ihres Verständnisses der Welt der Phänomene. Das hatte Sax immer so verinnerlicht, und keine soziologische Analyse, nicht einmal die verwirrende Erfahrung des Terraformungsprozesses auf dem Mars, hatten ihn je in diesem Glauben wanken gemacht. Wissenschaft war ein soziales Konstrukt, aber sie bildete auch, und das war der wichtigste Punkt daran, ihren eigenen Raum, der nur mit der Realität konform ging. Das war ihre Schönheit. Wahrheit ist Schönheit, wie der Dichter gesagt hat, als er über die Wissenschaft sprach. Und so war es auch. Der Dichter hatte recht gehabt (was nicht immer zutraf).

Und so bewegte Sax sich weiter in der großen Struktur, behaglich, fähig und auf mehreren Ebenen zufrieden.

 

Aber er begann auch zu verstehen, daß, so schön und mächtig die Wissenschaft auch sein mochte, das Problem des biologischen Alterns vielleicht zu schwierig war. Nicht so kompliziert, daß es nie gelöst werden würde, aber einfach zu schwierig, als daß es zu seinen Lebzeiten gelöst werden würde. Es war tatsächlich noch eine offene Frage, wie groß das Problem tatsächlich war. Das Verständnis von Materie, Raum und Zeit war unvollkommen; und es war nie auszuschließen, daß es sich immer wieder in Metaphysik auflöste, wie die Spekulationen über den Kosmos vor dem Urknall oder über Dinge kleiner als Strings. Andererseits könnte die Welt fortschrittlicheren Erklärungen zugänglich sein, bis sie schließlich (vom String bis zum Kosmos) in den Bereich des großen Parthenons gerückt würde. Beide Resultate waren möglich, das Urteil war noch nicht gefallen. Die nächsten tausend Jahre könnten die Geschichte erzählen.

Die Ausfälle machten Sax zu schaffen. Und manchmal litt er an Atemnot. Bisweilen schien sein Herz zu heftig zu schlagen. Nachts schlief er selten. Und zu allem Überfluß war Michel tot, so daß Sax in seiner Meinung über den Sinn der Dinge unsicher wurde und er eigentlich eines Gefährten bedurfte, der ihn stabilisieren konnte. Wenn er es schaffte, überhaupt über alles auf der Ebene des Sinnes nachzudenken, stellte er fest, daß er sich in einem Rennen befand. Er und jeder andere, aber besonders die Spezialisten, die akut an diesem Problem arbeiteten. Um es zu lösen, mußten sie eine der größten unerklärlichen Fragen beantworten - und Zeit im Übermaß hatten sie nicht.

Und eines Tages, als er sich nach einem Tag vor seinem Bildschirm mit Maya auf eine Bank setzte und an die Unermeßlichkeit dieses wachsenden Zweiges des Parthenons dachte, erkannte er, daß dies ein Rennen war, das er nicht gewinnen konnte. Vielleicht konnte es die menschliche Spezies eines Tages gewinnen; aber es schien noch ein langer Weg zu sein. Es war keine große Überraschung. Das wußte er. Er hatte es immer gewußt. Daß er die derzeit größte Manifestation des Problems benennen konnte, hatte ihm nicht seine Tiefe verschleiert. Der >schnelle Verfall< war bloß ein Name, ungenau, allzu einfach, tatsächlich kein wissenschaftlicher Terminus, sondern vielmehr ein Versuch (wie der >Urknall<), die Realität zu verkleinern und zu begrenzen als noch nicht verstanden. In diesem Fall war das Problem einfach der Tod. Tatsächlich ein rascher Verfall. Und angesichts der Natur von Leben und Zeit war das ein Problem, das kein lebender Organismus jemals wirklich lösen würde. Verschiebungen ja, Lösungen nein. »Die Realität selbst ist sterblich.«

»Natürlich«, sagte Maya, versunken in den Anblick des Sonnenuntergangs.

Er brauchte ein einfacheres Problem. Nicht ein Schritt in Richtung auf größere Probleme durfte es sein, sondern ein vorläufiger Schritt, auf etwas zu, das er lösen könnte. Gegen die Ausfälle ankämpfen. Das war sicher ein Problem, das, bereit untersucht zu werden, auf der Hand lag. Sein Gedächtnis brauchte Hilfe. Die Arbeit daran könnte sogar Licht auf den raschen Verfall werfen. Denn sterben würden alle. Aber sie könnten zumindest mit intakten Erinnerungen sterben.

Also lenkte er die Hauptgewichtung fortan auf das Gedächtnisproblem und gab den raschen Verfall und alle übrigen Themen des Alterns auf. Er war ja schließlich doch sterblich.