Michel hatte sich immer gewünscht, eine Fahrt auf dem Großen Kanal zu unternehmen; und kürzlich hatte er Maya zugeredet, einen Umzug von Sabishii wieder nach Odessa zu versuchen, als eine Möglichkeit, gegen ihre mannigfachen mentalen Leiden anzukämpfen. Sie könnten sogar ein Apartment in dem gleichen Komplex nehmen, in dem sie vor der Zweiten Revolution gewohnt hatten. Das war der einzige Ort, den Maya außer Underhill, das auch nur zu besuchen sie sich weigerte, als Heimat betrachtete. Und Michel hatte den Eindruck, daß es ihr helfen könnte, in irgendeine Heimat zurückzukehren. Also Odessa. Maya war einverstanden, es machte ihr nichts aus. Und auch Michels Idee, über den Großen Kanal dorthin zu reisen, fand Anklang. Maya hatte keine Anstrengungen unternommen. Sie war in diesen Tagen keiner Sache sicher. Sie hatte fast keine Ansichten und kaum Wünsche. Das war das Problem.

Jetzt sagte Vendana, daß Jackies Kampagne längs des Großen Kanals in einem großen Kanalkreuzer von Norden nach Süden erfolgen würde, der zugleich als Hauptquartier vorgesehen war. Jetzt befanden sie sich dort, am nördlichen Ende des Kanals und bereit, in die Engstellen zu fahren.

Also ging Maya auf der Terrasse wieder zu Michel und sagte, als die Historiker sie verlassen hatten: »Also laß uns auf dem Großen Kanal nach Odessa reisen, wie du gesagt hast.«

Michel war entzückt. Es schien ihm die leichte Niedergeschlagenheit zu nehmen, die dem Tauchgang in das überflutete Burroughs gefolgt war. Er war über dessen Wirkung auf Maya erfreut gewesen; aber für ihn selbst war es vielleicht nicht so gut gewesen. Er war, was seine Erlebnisse betraf, ungewöhnlich schweigsam und irgendwie bedrückt, als ob er von alldem überwältigt wäre, das die große versunkene Stadt in seinem Leben bedeutete. Schwer zu sagen. Jetzt, als er sah, wie gut Maya auf die Erfahrung ansprach, und sie ihm zugleich in Aussicht stellte, den Großen Kanal zu sehen - nach Mayas Ansicht ein großer Spaß - mußte er lachen. Und das gefiel ihr. Michel dachte, daß Maya in diesen Tagen viel Hilfe brauchte; aber sie wußte recht gut, daß Michel es war, der sich sträubte.

 

Also gingen sie ein paar Tage später über eine Gangway auf das Deck eines großen schmalen Segelschiffs, dessen einziger Mast und Segel eine gebogene Einheit aus stumpfem weißem Material und wie ein Vogelflügel gestaltet war. Dieses Schiff war eine Art Passagierfähre, die ständig Runden in östlicher Richtung um das Nbrdmeer fuhr. Als alle an Bord waren, verließen sie mit Motorkraft den kleinen Hafen von DuMatheray und wandten sich bei ständiger Landsicht nach Osten. Das Mastsegel des Schiffs war in vielen verschiedenen Richtungen flexibel und beweglich. Es reckte sich in seinen Krümmungen wie der Flügel eines Vogels, wenn sein Computer peinlich genau darauf reagierte, die günstigsten Winde zu erfassen.

Am zweiten Nachmittag ihrer Fahrt in die Engstellen erschien das Elysium-Massiv vor ihnen über dem Horizont. Es ragte im Rosa des Alpenglühens vor dem hyazinthfarbenen Himmel auf. Auch die Küste des Festlandes erhob sich im Süden, als sie sich hochreckte und das große Massiv jenseits der Bucht sehen wollte: Steilufer wechselten mit Marschland, und dann folgte auf eine lange bräunliche Strecke eine immer höher werdende Meeresklippe. Deren horizontale rote Schichten waren durch schwarze und elfenbeinfarbene Einschlüsse unterbrochen, und die Leisten waren von Matten aus Meerfenchel und Gräsern gesäumt und in weißem Guano gestreift. Die Wellen schlugen auf den nackten Fels am Boden dieser Klippen auf und prallten zurück, wobei die Bögen der zurücklaufenden Strömung die ankommenden Fluten in rasch aufeinander folgenden Punkten hochgetriebenen Wassers schnitten. Kurzum, es war schön, hier zu segeln. Langes Gleiten die Wogen hinunter, der Wind, besonders nachmittags, ein Kraftwerk vor der Küste. Die Gischt, der salzige Tang in der Luft - denn das Nordmeer wurde salzig -, der Wind in ihrem Haar, das weiße Muster des Kielwassers, das über der indigo- farbenen See leuchtete. Herrliche Tage. Es weckte in Maya den Wunsch, an Bord zu bleiben, immer wieder um die Welt zu segeln, niemals zu landen und nichts zu verändern... Wie sie gehört hatte, gab es mittlerweile Leute, die so lebten - riesige, höchst autarke Treibhausschiffe, die in ihrer Talassokratie den großen Ozean befuhren...

Aber vor ihnen lagen jetzt die schmaler werdenden Engstellen. Die Fahrt von DuMartheray war schon fast vorbei. Warum waren die guten Tage immer so kurz? Von Moment zu Moment, von Tag zu Tag - alle so erfüllt und, ach, so lieblich - und dann für immer vergangen, vergangen, ehe es möglich war, sie voll in sich aufzunehmen, und sie wirklich zu leben. Man segelte durch das Leben und schaute zurück auf das Kielwasser, die hohe See, den fliegenden Wind... Jetzt stand die Sonne tief, das Licht fiel schräg über die Meeresklippen und betonte all ihre wilden Unregelmäßigkeiten, ihre Überhänge, Höhlen und nackten Flächen, die direkt in die See abfielen, roter Fels in blauem Wasser, alles unberührt von Menschenhand (obwohl das Meer selbst ihr Werk war). Plötzlich zuckten in ihr strahlende Fragmente. Aber die Sonne war dabei zu verschwinden, und die Unterbrechung in den Meeresklippen markierte schon den ersten großen Hafen in der Meerenge, Rhodos, wo sie anlegen und den Abend erwarten würden. »Ah, ich lebe wieder«, sagte sie zu sich und wunderte sich, daß das hatte geschehen können. Michel und seine Tricks - man würde meinen, sie sei inzwischen gegen all jenen psychiatrisch-alchemistischen Hokuspokus immun geworden. Es war mehr, als ihr Herz ertragen konnte. Aber immerhin besser als die Dumpfheit, das war sicher. Und es hatte einen gewissen schmerzlichen Glanz, diese akute Empfindung. Sie konnte sie ertragen, vielleicht sogar irgendwie genießen, stückweise. Eine erhabene Intensität wohnte diesen Farben des späten Nachmittags inne. Alles war davon durchdrungen. Und unter einer solchen Flut nostalgischen Lichts wirkte der Hafen von Rhodos prachtvoll. Der große Leuchtturm auf dem Westkap, das Paar tönender Bojen rot und grün, backbord und steuerbord. Dann hinein in das dunkle Wasser eines Ankerplatzes und in die Ruderboote, in das entschwindende Licht, über schwarzes Wasser durch eine Menge exotischer Schiffe vor Anker, die alle verschieden waren. Der Schiffsbau steckte in einer Periode rapider Neuerung, wo neue Materialien fast alles möglich machten und die alten Konstruktionen neu erfunden und drastisch verändert wurden, um dann wieder aufgegriffen zu werden. Da ein Klipper, dort ein Schoner und da etwas mit Auslegern... Endlich legte man bei Dunkelheit in einem belebten hölzernen Dock an.

Hafenstädte in der Dämmerung waren alle gleich. Eine Corniche, ein schmaler gekrümmter Park, Baumreihen, ein Bogen baufälliger Hotels und Restaurants hinter den Werften... Sie stiegen in einem dieser Hotels ab und schlenderten dann durch das Dock, aßen unter einer Markise, genau, wie Maya es erwartet hatte. Sie entspannte sich in der bodenständigen Stabilität ihres Stuhls, beobachtete, wie flüssiges Licht sich in einer Schleife über das zähe Wasser des Hafens ergoß, hörte Michel zu den Leuten am Nachbartisch sprechen und kostete das Olivenöl und das Brot, die Käsesorten und den Ouzo. Es war seltsam, wie sehr Schönheit manchmal schmerzte - sogar Glück. Dennoch wünschte sie, das lässige Sichräkeln nach dem Essen in ihren harten Stühlen könnte für immer weitergehen.

Natürlich war das nicht der Fall. Sie gingen Hand in Hand nach oben zu Bett. Sie hielt Michel so fest, wie sie überhaupt konnte. Am nächsten Tage holten sie ihr Gepäck durch die Stadt zum inneren Hafen, gleich nördlich der ersten Kanalschleuse und brachten es in ein großes Kanalschiff, lang und luxuriös, wie ein zum Kreuzfahrtschiff gewordener Lastkahn. Sie waren zwei von etwa hundert Passagieren, die an Bord gingen. Darunter waren Vedana und einige ihrer Freunde. Und ferner waren, einige Schleusen vor ihnen, auf einem privaten Kanalschiff, Jackie und ihr Gefolge, die sich auch anschickten, nach Süden zu fahren. Während einiger Nächte würden sie in den gleichen am Kanal liegenden Städten anlegen. »Interessant«, sagte Maya gedehnt; und Michel machte dazu ein zugleich erfreutes und besorgtes Gesicht.

 

Das Bett des Großen Kanals war von einer Luftlinse eingeschnitten worden, die konzentriertes Sonnenlicht von der Soletta herunterstrahlte. Die Linse hatte sich sehr hoch in der Atmosphäre befunden, auf der thermischen Wolke von Gasen gleitend, die von dem geschmolzenen und verdampften Gestein hochgeschleudert wurde. Sie war in geraden Linien geflogen und hatte sich ihren Weg ohne die geringste Rücksicht auf topographische Details quer über das Land gebrannt. Maya erinnerte sich undeutlich, seinerzeit Bilder des Prozesses gesehen zu haben; aber die Fotos waren natürlich aus einiger Entfernung gemacht worden und hatten sie keineswegs auf die schiere Größe des Kanals vorbereitet. Ihr langes flaches Kanalschiff fuhr in die erste Schleuse, wurde durch das einströmende Wasser ein kurzes Stück angehoben, fuhr dann aus einem sich öffnenden Tor hinaus - und plötzlich waren sie in einem vom Wind gekräuselten, zwei Kilometer breiten See, der sich geradlinig nach Südwesten zur Hellas-See erstreckte, zweitausend Kilometer entfernt. Eine große Anzahl großer und kleiner Schiffe waren in beiden Richtungen unterwegs. Dabei hielten sich die kleineren entsprechend den Verkehrsregeln näher an den Ufern. Fast alle Fahrzeuge waren motorisiert, obwohl viele auch mit Reihen von Masten in Schonertakelung prahlten und einige der kleinsten Boote große dreieckige Segel hatten. »Dhaus«, sagte Michel und zeigte hinüber. Offenbar eine arabische Konstruktion.

Irgendwo weiter voraus war Jackies Propagandaschiff. Maya ignorierte es, konzentrierte sich auf den Kanal und schaute abwechselnd auf die beiden Ufer. Der fehlende Fels war nicht ausgehoben, sondern verdampft worden. Wenn man die Ufer betrachtete, konnte man das erkennen. Die Temperaturen unter dem konzentrierten Licht der Luftlinse hatten 5000 K erreicht, und das Gestein war einfach in seine atomaren Bestandteile zerfallen und in die Luft geschossen. Nach der Abkühlung war einiges Material auf die Ufer zurückgefallen und manches auch wieder in den Graben, wo es wie Lava kleine Teiche gebildet hatte. Darum hatte der Kanal ein flaches Bett erhalten und Ufer, die einige hundert Meter hoch und beide über einen Kilometer breit waren: Abgerundete schwarze Schlackendeiche, auf denen, abgesehen von den mit Sand gefüllten gelegentlich Rissen, nur sehr wenig wachsen konnte, so daß sie fast genauso kahl und schwarz waren wie nach ihrer Erkaltung vor vierzig m-Jahren. Das Kanalwasser sah unter den Ufern schwarz aus, in der Mitte des Kanals ging es zur Himmelsfarbe über oder vielmehr zu einer Tönung, die gerade ein wenig dunkler war als die des Himmels. Ohne Zweifel eine Folge des dunklen Bodens, mit den grünen Zickzackstreifen überall.

Der Obsidiansteg der zwei Ufer, die gerade Scharte aus dunklem Wasser dazwischen, Schiffe und Boote aller Größen, viele davon lang und schmal, um in den Schleusen möglichst viel Raum zu haben; dann alle paar Stunden eine Stadt am Ufer, in die Seite gehauen und sich dann auf der Höhe des Deichs ausbreitend. Die meisten Städte waren von den kanalsüchtigen Astronomen nach den Kanälen und Flüssen des klassischen Altertums benannt worden. Die ersten Städte, an denen sie vorbeikamen, lagen dem Äquator recht nahe und waren von Palmhainen eingefaßt, mit hölzernen Docks vor kleinen Uferdistrikten und in der Höhe liebliche Terrassen. Die meisten Städte lagen auf den ebenen Flächen der Deiche. Natürlich hatte die Linse bei ihrem geraden Schnitt ein Kanalbett gegraben, das direkt die Große Böschung bis auf die Hochebene von Hesperia hinaufführte - mit einem Höhenanstieg von rund vier Kilometern. Darum war der Kanal alle paar Kilometer durch einen Schleusendamm gesperrt. Diese Dämme hatten, wie in jenen Tagen überall, durchsichtige Wände und sahen so dünn aus wie Zellophan, waren aber um viele Größenordnungen stärker als nötig, um das Wasser zu halten. So sagte man. Maya fand diese Klarheit von Fensterscheiben anmaßend, als ein Stück der launischen Überheblichkeit, auf das eines Tages bestimmt die Strafe folgen würde, wenn eine der dünnen Wände wie ein Ballon platzte und eine verheerende Zerstörung anrichten würde und die Leute wieder auf den guten alten Beton und die Kohlefaser zurückgreifen würden.

Aber so erinnerte die Annäherung an jede Schleuse an die Fahrt auf eine Wassermauer zu, die aussah wie das Rote Meer, das sich vor den Israeliten geteilt hatte. Fische sprangen über ihren Köpfen umher wie primitive Vögel, ein surrealer Anblick, wie etwas aus einer Zeichnung von Escher. Dann in eine Schleuse hinein wie in einen Sarkophag aus Wasserwänden, bewohnt von diesen Vogelfischen; und dann immer weiter nach oben und hinaus auf ein neues Niveau des großen Stroms mit seinen geraden Seiten, der das schwarze Land durchschnitt. »Bizarr«, sagte Maya nach dem ersten Blick und auch nach dem zweiten und dritten. Und Michel grinste nur und nickte.

Am vierten Abend der Reise legten sie bei einer kleinen Stadt am Kanal an, die Naarses hieß. Auf der anderen Seite des Kanals befand sich eine noch kleinere Stadt namens Naarmalcha. Offenbar mesopotamische Namen. Ein Terrassenrestaurant oben auf dem Deich bot einen Ausblick, der den Kanal weit einsehbar machte und hinter dem Kanal auf die dürren Gebirge zu seiner Seite schwenken ließ. Voraus konnten sie sehen, wo der Kanal durch den Wall des Kraters Gale schnitt, der mit Wasser geflutet war. Gale war jetzt ein Buckel im Kanal, ein Halteplatz für Schiffe und Verladeplatz.

Nach dem Abendessen stand Maya auf der Terrasse und schaute durch die Lücke auf Gale. Aus der dunklen Dämmerung traten Vendana und einige Gefährten zu ihr. »Wie gefällt dir der Kanal?« fragten sie.

»Sehr interessant«, erklärte Maya knapp. Sie mochte es nicht, wenn man ihr Fragen stellte oder sie den Mittelpunkt einer Gruppe bildete. Das war zu sehr, als wäre man ein Schaustück im Museum. Sie würden nichts aus ihr herausbringen. Sie starrte sie an. Einer der jungen Männer unter ihnen gab auf und sprach eine Frau in ihrer Nähe an. Er hatte ein außerordentlich schönes Gesicht. Die Züge wirkten wie gemeißelt unter einer Fülle schwarzen Haares, ein freundliches Lächeln und unbewußtes Lachen. Alles in allem fesselnd. Jung, aber nicht so jung, daß er ungeformt wirkte. Er sah möglicherweise indisch aus - so dunkle Haut, so weiße regelmäßige Zähne, kräftig, schlank wie ein Windspiel, ein gutes Stück größer als Maya, aber nicht einer jener neuen Riesen - immer noch im menschlichen Maßstab, unbefangen, aber solide und anmutig. Sexy.

Sie bewegte sich langsam auf ihn zu, als die Gruppe zu der entspannteren Haltung einer Cocktailparty überging. Sie gingen umher, plauderten und schauten auf den Kanal und die Docks hinunter. Endlich erhielt sie eine Chance, mit ihm zu sprechen; und er reagierte nicht, als ob Helena von Troja oder die fossile Lucy näher gekommen wären. Es wäre herrlich, einen solchen Mund zu küssen. Das kam natürlich nicht in Frage, und eigentlich wollte sie es auch gar nicht. Aber sie dachte gern darüber nach; und der Gedanke wirkte anregend auf sie. Gesichter waren so mächtig.

Sein Name war Athos. Er kam von Licus Vallis, westlich von Rhodos. Sansei aus einer Seefahrerfamilie, die Großeltern griechisch und indisch. Er hatte geholfen, diese neue Grüne Partei zu gründen, überzeugt, daß der einzige Weg, dem Mahlstrom zu entkommen, darin bestünde, der Erde durch ihre Krise zu helfen. Die umstrittene Annäherung eines schweifwedelnden Hundes, wie er mit einem leichten, hübschen Lächeln einräumte. Jetzt war er von den Städten der Nepenthes-Bucht als Repräsentant zur Wahl aufgestellt und half, die Kampagnen der Grünen weithin zu koordinieren.

Maya fragte Vendana später: »Werden wir in einigen Tagen das Wahlkampfboot des Freien Mars einholen?«

»Ja. Wir planen, bei einer Versammlung in Gale über sie zu diskutieren.«

 

Als sie dann die Gangway hinauf zum Schiff gingen, wandten sich die jungen Leute von ihr ab und scharten sich auf dem Vorderdeck zusammen, um die Party fortzusetzen. Maya war vergessen, sie gehörte nicht dazu. Sie blickte ihnen nach und ging dann zu Michel in ihrer kleinen Kabine nahe dem Heck. Sie kochte vor Erregung. Sie konnte nichts dagegen tun, obwohl sie schockiert war, wenn es geschah. »Ich hasse sie«, sagte sie zu Michel. Und einfach deswegen, weil sie jung waren. Sie hätte das als Haß gegen deren Gedankenlosigkeit, Stupidität, Gefühllosigkeit und ihren ausgeprägten Provinzialismus tarnen können. Das stimmte auch alles. Aber außerdem haßte sie auch ihre Jugend, nicht einfach ihre physische Vollkommenheit, sondern ihr Alter, die schiere Chronologie, die Tatsache, daß sie alles noch vor sich hatten. In der Erwartung lag das Beste, lag alles.

Manchmal erwachte sie aus unbestimmten Träumen, in denen sie nach der aerodynamischen Abbremsung aus der Ares auf den Mars hinunterblickten, und den Orbit in Vorbereitung des Abstiegs stabilisierten. Dann war sie schockiert durch den jähen Rücksturz in die Gegenwart; und sie erkannte, daß das damals der schönste aller Augenblicke gewesen war, diese Woge von Erwartung, die sie trug, als alles da unter ihnen lag und alles möglich schien. Das war Jugend.

»Betrachte sie als Mitreisende«, riet ihr Michel von neuem, wie schon mehrfach zuvor, wenn Maya ihm ihre Gefühle gebeichtet hatte. »Sie werden nur so lange jung sein, wie wir es waren. Ein Schnipsen mit den Fingern - nicht wahr? Und dann sind sie alt und dann dahin. Das machen wir alle durch. Der Abstand eines Jahrhunderts macht auch nur einen Dreck aus. Und von allen Menschen, die jemals existiert haben und die es jemals geben wird, sind diese Menschen die einzigen, die gleichzeitig mit uns leben. Nur die Tatsache, gleichzeitig am Leben zu sein, macht uns alle zu Zeitgenossen. Und deine Zeitgenossen sind die einzigen, die dich wirklich verstehen können.«

»Ja, du hast recht«, sagte Maya. Das war so. »Aber ich hasse sie trotzdem.«

 

Das Brennen der Luftlinse war überall etwa gleich tief gegangen. Als es daher über den Gale-Krater hinweggezogen war, hatte es einen breiten Streifen durch den Rand an den nordöstlichen und südwestlichen Hängen geschnitten. Aber diese Schnitte waren höher als das Kanalbett anderswo, so daß schmalere Schnitte ausgetieft und Schleusen installiert wurden, wodurch der Krater zu einem hohen See wurde, eine Knolle in der endlosen Qecksilbersäule des Kanals. Das Lowell- System der alten Nomenklatur war hier aus irgendeinem Grunde außer Kraft; und die Schleusen im Nordosten wurden von einer kleinen geteilten Stadt namens Bird's Trenches flankiert, während die größere Stadt an den südwestlichen Schleusen Banks hieß. Sie bedeckte die Schmelzzone des Brandes und stieg dann in breiten gebogenen Terrassen auf den nicht geschmolzenen Rand von Gale mit Blick auf den See im Innern auf. Es war eine wilde Stadt. Mannschaften und Passagiere vorbeikommender Schiffe stapften die Gangwayplanken hinunter, um sich an dem mehr oder weniger ständigen Festivitäten, die in der Stadt stattfanden, zu beteiligen. An diesem Abend richtete sich diese Party auf die Ankunft der Kampagne Freier Mars. Ein großer Rasenplatz, der auf einer weiten Felsbank über der Seeschleuse hockte, war dicht gedrängt voller Menschen, die auf die Reden warteten, die von einer Bühne auf einem flachen Dach über der Plaza aus gehalten werden sollten. Andere ignorierten den Tumult und machten Einkäufe, gingen spazieren, saßen über der Schleuse und tranken oder aßen Speisen, die sie an kleinen verräucherten Ständen gekauft hatten; oder sie tanzten oder machten sich auf den Weg, um die oberen Bereiche der Stadt zu erkunden.

Während der ganzen Wahlkampfreden stand Maya auf einer Terrasse oberhalb der Bühne, wo sie einen Blick auf den Bereich dahinter hatte, wo Jackie und der übrige Führerstab des Freien Mars sich herumtrieben, schwatzten oder lauschten, während sie darauf warteten, im Scheinwerferlicht an die Reihe zu kommen. Da waren Antar und Ariadne, sowie einige andere, die Maya mehr oder weniger aus neueren Nachrichtenvideos erkannte. Beobachtung aus der Entfernung konnte so aufschlußreich sein. Da unten sah sie all die Dynamik der Dominanz von Primaten, über die sich Frank so oft geäußert hatte. Zwei oder drei Männer waren auf Jackie fixiert und, auf andere Weise, etliche Frauen. Ein Mann namens Mikka gehörte in diesen Tagen dem Globalen Exekutivkomitee an, ein Anführer der Partei Mars Zuerst. Diese war eine der ältesten politischen Parteien auf dem Planeten, die gemäß den Wettbewerbsbedingungen der Erneuerung des ersten Marsvertrages gebildet worden war. Maya erinnerte sich vage, daß sie einmal Mitglied gewesen war.

Jetzt war die Marspolitik in ein Schema verfallen, das irgendwie parlamentarischen Strukturen in Europa ähnelte, mit einem breiten Spektrum kleiner Parteien, von denen einige sich zu zentristischen Koalitionen zusammenfanden - in diesem Falle Freier Mars, die Roten und die Matriarchie von Dorsa Brevia, während andere sich einklinkten oder Lücken füllten oder zu den Seiten auswichen. Sie alle schoben sich in zeitweiligen Allianzen hin und her, um ihre kleinen Angelegenheiten zu fördern. Bei dieser Konstellation war Mars Zuerst so etwas wie der politische Flügel der Roten Saboteure geworden, die noch in der Wildnis lebten. Sie waren eine widerlich eigennützige Organisation ohne Skrupel, die aus keinem überzeugenden ideologischen Grund in den Freien Mars eingegliedert war. Da mußte irgendein Schacher im Gange sein. Oder etwas Persönliches. Die Art, wie Mikka Jackie folgte und sie ansah, ein Liebhaber oder erst vor ganz kurzer Zeit entlassener früherer Liebhaber. Darauf hätte Maya gewettet. Außerdem hatte sie dahingehende Gerüchte gehört.

Die Reden handelten alle von dem schönen, wundervollen Mars und wie er in Gefahr war, durch Übervölkerung ruiniert zu werden, falls er sich nicht künftiger Einwanderung von der Erde verschlösse. Um diesen Gesichtspunkt hervorzuheben ließ sich jetzt wirklich viel anführen, wie die Hochrufe und der Beifall aus der Menge bewiesen. Ihre Haltung war höchst heuchlerisch, da die meisten der Applaudierenden von terranischen Touristen lebten und sie alle Immigranten oder deren Kinder waren. Aber sie jubelten trotzdem. Das war ein gutes Wahlkampfthema. Besonders, wenn man das Kriegsrisiko ignorierte und die enorme Größe der Erde und ihre Vorherrschaft in der menschlichen Zivilisation. Das so gering zu schätzen ... Nun, das spielte keine Rolle. Diesen Leuten war die Erde völlig egal, und sie verstanden sie auch gar nicht. Darum ließ ihr Trotz Jackie, die für einen freien Mars eintrat, nur noch tapferer und schöner erscheinen. Die Ovationen für sie waren laut und anhaltend. Sie hatte eine Menge gelernt seit ihren ungeschickten Reden während der zweiten Revolution. Sie war recht gut geworden. Sehr gut.

Als danach die Sprecher der Grünen auftraten und für einen offenen Mars argumentierten, versuchten sie, über die Gefahr der Politik eines geschlossenen Mars zu reden. Aber die Reaktion war natürlich viel weniger enthusiastisch als zuvor für Jackie. Die von ihnen vertretene Position klang nach Feigheit, um es offen zu sagen; und der Wunsch nach einem offenen Mars wirkte naiv. Vor der Ankunft in Banks hatte Vendana Maya eine Gelegenheit angeboten zu sprechen; aber die hatte abgelehnt und war jetzt in ihrer Meinung bestätigt. Sie beneidete diese Redner nicht um ihre unpopuläre Stellung vor einer dahinschwindenden Menge.

Danach hielten die Grünen eine kleine Zusammenkunft zur Manöverkritik ab, und Maya äußerte sich zu ihrem Auftritt recht scharf. »Ich habe noch nie eine solche Inkompetenz erlebt. Ihr versucht, sie zu verängstigen, klingt aber nur furchtsam. Der Stock ist nötig für den Esel, aber ihr braucht auch eine Rübe. Die Möglichkeit des Krieges ist der Stock, aber ihr müßt ihnen Gründe dafür geben, warum sie es unterstützen sollten, weiterhin Terraner heraufkommen zu lassen, ohne daß ihr euch wie Idioten anhört. Ihr müßt sie daran erinnern, daß wir alle terranischer Herkunft sind. Wir sind hier immer Immigranten. Ganz können wir die Erde niemals hinter uns lassen.«

Dazu nickten sie. Athos unter ihnen sah nachdenklich aus. Danach nahm Maya Vendana beiseite und quetschte sie über Jackies neuerliche Liaisonen aus. Mikka war wirklich kürzlich ein Partner gewesen und war es wahrscheinlich immer noch. Mars Zuerst war noch stärker gegen Einwanderung eingestellt als die größere Partei. Maya nickte. Allmählich erkannte sie die Umrisse eines Plans.

Als die Manöverkrititik vorbei war, ging Maya mit Vendana, Athos und den übrigen in die Innenstadt, bis sie an einer großen Band vorbeikamen, die Sheffield-Sound spielte. Für Maya war diese Musik nur Lärm: zwanzig verschiedene Trommelrhythmen zugleich auf Instrumenten gedroschen, die nicht als Schlagzeug oder überhaupt für musikalische Anwendung bestimmt waren. Aber sie dienten ihren Zwecken, da sie unter dem Gepolter und Radau imstande waren, die jungen Grünen unauffällig in die Nähe von Antar zu führen, den sie auf dem Tanzboden gesichtet hatte. Als sie näher bei ihm waren, konnte sie sagen: »Oh, da ist Antar! Hallo, Antar! Das sind die Leute, mit denen ich fahre. Wir sind offenbar direkt hinter euch, mit dem Ziel Hell's Gate und dann Odessa. Wie läuft die Kampagne?«

Und Antar war wieder ganz der graziöse Prinz, ein Mann, dem man schwer widersprechen konnte, selbst wenn man wußte, wie reaktionär er war und wie sehr er unter dem Einfluß der arabischen Nationen der Erde gestanden hatte. Jetzt mußte er sich gegen diese alten Verbündeten wenden - ein weiterer gefährlicher Teil seiner gegen Einwanderer gerichteten Strategie. Es war seltsam, wie die Führung des Freien Mars sich entschlossen hatte, den Mächten der Erde zu trotzen und gleichzeitig zu versuchen, all die neuen Niederlassungen im äußeren Sonnensystem zu dominieren. Hybris. Oder vielleicht fühlten sie sich einfach bedroht. Der Freie Mars war immer die Partei der jungen Eingeborenen gewesen; und wenn jetzt ein unbeschränktes Einwanderungsgesetz Millionen neuer Issei hereinbrächte, würde der Status des Freien Mars gefährdet sein, nicht nur die Supermajorität, sondern auch seine einfache Mehrheit. Diese neuen Horden mit all ihren alten, noch funktionierenden fanatischen Doktrinen - Kirchen und Moscheen, Flaggen, versteckten Feuerwaffen, offenen Fehden -, das war wirklich ein Grund für den Freien Mars, seine Position neu zu überdenken; denn seit der intensiven Einwanderung der letzten Dekade waren die Neuankömmlinge dabei, eine zweite Erde aufzubauen, die genauso hirnrissig war wie die erste. John wäre verrückt geworden, und Frank hätte gelacht. Und Arkadij hätte erklärt, Ich habe es euch doch gleich gesagt und eine Revolution vorgeschlagen. Ihr erinnert euch?

Aber die Erde mußte ernsthafter und realistischer behandelt werden als auf diese Weise. Man konnte sie nicht einfach ausklammern und ignorieren. Und im Moment war Antar liebenswürdig, besonders liebenswürdig, als ob er dächte, daß Maya ihm für irgend etwas nützlich sein könnte. Und da er sich immer in Jackie's Nähe aufhielt, war Maya nicht überrascht, als plötzlich Jackie und etliche andere an seiner Seite waren und ein jeder sie begrüßte. Maya nickte Jackie zu, die makellos zurücklächelte. Maya zeigte auf ihre neuen Begleiter und stellte sie einzeln vor. Als sie zu Athos kam, sah sie, daß Jackie ihn beobachtete, der ihr seinerseits bei der Vorstellung einen freundlichen Blick zuwarf. Rasch, aber ganz beiläufig erkundigte sich Maya nach Zeyk und Nazik, die anscheinend an der Küste der Acheron-Bucht lebten. Die beiden Gruppen bewegten sich langsam auf die Musik zu und hätten sich im Weitergehen völlig vermischt; und es wäre zu laut gewesen, um irgend ein Gespräch zu führen, denn man konnte nichts außer der eigenen Stimme hören. Maya sagte zu Antar: »Mir gefällt dieser Sheffield-Sound. Hilf mir, zur Tanzfläche durchzukommen!«

Das war offenbar eine List; denn sie brauchte keine Hilfe, um durch das Gedränge zu kommen. Aber Antar ergriff ihren Arm und merkte nicht, daß Jackie zu Athos sprach, oder tat so, als ob er es nicht bemerke.

Das war für ihn sowieso eine alte Geschichte. Aber dieser Mikka, der aus der Nähe sehr groß und kräftig wirkte, vielleicht skandinavischer Herkunft, und etwas hitzköpfig aussehend, verfolgte die Gruppe jetzt mit saurer Miene. Maya verzog den Mund, befriedigt, daß der erste Schritt gelungen war. Wenn Mars Zuerst noch isolationistischer war als Freier Mars, dann könnten Unstimmigkeiten zwischen ihnen umso nützlicher sein.

Also tanzte sie mit mehr Begeisterung, als sie seit Jahren empfunden hatte. Wenn man sich allein auf die Baßtrommeln konzentrierte und sich an deren Rhythmen hielt, dann war es wirklich wie das Klopfen eines erregten Herzens. Und über diesem fundamentalen Grundbaß war das Plappern der verschiedenen Holzblöcke, Küchengeräte und runden Steine nicht mehr als ein Magenknurren oder flüchtiger Gedanke. Das ergab einen gewissen Sinn. Keinen musikalischen Sinn, wie sie ihn verstand, aber irgendwie rhythmischen Sinn. Tanzen, schwitzen, beobachten, wie Antar elegant dahinglitt. Er mußte ein Narr sein, zeigte das aber nicht. Jackie und Athos waren verschwunden. Ebenso Mikka. Vielleicht würde er zu einer Nova explodieren und sie alle umbringen. Maya grinste und drehte sich im Tanz.

Michel kam herbei, und Maya schenkte ihm ein breites Lächeln und eine verschwitzte Umarmung. Er machte ein zufriedenes, aber neugieriges Gesicht. »Ich dachte immer, du magst diese Art von Musik nicht.«

»Doch, manchmal schon.«

 

Südwestlich von Gale stieg der Kanal durch eine Schleuse nach der anderen auf bis zu den Gebirgen von Hesperia. Dort, wo er östlich vom Tyrrhena-Massiv das Hochland überquerte, blieb er ungefähr auf einer Höhe von vier Kilometern, die man jetzt oft als fünf Kilometer über dem Meeresniveau bezeichnete.

Darum bestand kein großer Bedarf an Schleusen. Sie fuhren Tag um Tag mit Motorkraft über den Kanal oder segelten unter der Reihe kleiner Mastsegel des Schiffs dahin. Sie hielten bei einigen Städten am Ufer und fuhren an anderen vorbei. Oxus, Jaxartes, Scamander, Simois, Xanthus, Steropes, Polyphemus. Überall hier machten sie Halt und hielten gleichmäßig Schritt mit der Kampagne des Freien Mars und auch mit den meisten anderen nach Hellas fahrenden Kanalschiffen und Yachten. Die Landschaft dehnte sich nach beiden Horizonten ohne Veränderung aus. Das erschien so, obwohl die Linse in dieser Region gelegentlich durch exotischere Materialien als den gewöhnlichen basaltischen Regolith geschnitten hatte, so daß durch das Verdampfen und Ausfällen einige Variationen und Streifungen von Obsidian oder Eisenschwarz an den Deichen vorgekommen waren. Stellen von strahlender glänzender Farbe, von marmorierten porphyrgrünen Streifen, scharfem Schwefelgelb, klumpigen Konglomeraten, sogar eine ausgedehnte Strecke klarer Glasbänke, die sich auf beiden Seiten des Kanals befanden, unterbrachen den Blick auf das Hochland dahinter und reflektierten den Himmel. Diese Strecke, genannt Glasbänke, war natürlich hochentwickelt. Zwischen den Städten verliefen an den Seiten des Kanals palmenbeschattete Mosaikwege, die Palmen in riesigen keramischen Töpfen, dahinter Villen, umgeben von Rasenflächen und Hecken. Die Städte der Glasbänke waren weißgetüncht, hell mit Pastelljalousien, Blumenkästen an den Fenstern und Türen und blauglasierten Ziegeldächern, sowie langen Neonreklamen über blauen Markisen in den Restaurants am Ufer. Es war eine Art von Traum-Mars, das Kanalclichee eines alten Märchenlandes. Aber dennoch nicht weniger schön, da seine Unverstelltheit Teil des Vergnügens war.

Die Tage ihrer Passage durch dieses Gebiet waren warm und windstill, die Oberfläche des Kanals so glatt wie die Ufer - eine Welt aus Glas. Maya saß auf dem Vorderdeck unter einer grünen Markise und beobachtete die Frachtkähne und Schaufelradboote der Touristen, die ihnen entgegen kamen. Alle waren an Deck, um den Anblick der Glasbänke und der sie schmückenden bunten Städte zu genießen. Dies war das Herz der Touristenindustrie des Mars, das bevorzugte Ziel von Besuchern ferner Welten; lächerlich, aber wahr. Und man mußte zugeben, daß es hübsch war. Beim Anblick der vorbeiziehenden Szenerie kam Maya auf den Gedanken, daß, ganz gleich wer die nächste Wahl gewinnen würde, und wie auch immer der Kampf um die Einwanderung ausfallen mochte, diese Welt wahrscheinlich weiterbestehen würde, glänzend wie ein Spielzeug in der Sonne. Dennoch hoffte sie, daß ihr erster Schritt funktionieren würde.

 

Als sie weiter nach Süden fuhren, legte der südliche Herbst einen kühlen Hauch in die Luft. An den einst basaltischen Ufern begannen Hartholzbäume zu erscheinen, deren Blätter rot und gelb flammten. Und eines Morgens bedeckte eine dünne Eisschicht das Wasser zu den Ufern hin. Wenn sie oben auf dem Westufer standen, konnten sie die Vulkane Tyrrhena Patera und Hadriatica Patera über den Horizont ragen sehen wie flache Fujis. Hadriatica stellte den gebänderten Maibaum weißer Gletscher auf schwarzem Fels zur Schau, den Maya das erste Mal von der anderen Seite aus gesehen hatte, als sie aus Dao Vallis heraufkam, wo sie vor so langer Zeit ihre Tour durch das überflutete Hellas-Becken gemacht hatte. Mit jenem jungen Mädchen - wie war doch ihr Name? Eine Verwandte von jemandem, den sie kannte.

Der Kanal durchschnitt die Drachenbuckelberge von Hesperia Dorsa. Die Städte entlang des Kanals verloren ihren äquatorialen Charakter, wurden strenger und mehr zu den Gebirgen passend. Städte des Wolgaufers, Neu-Englands Fischerdörfer, aber mit Namen wie Astapus, Aeria, Uchronia, Apis, Eunostos, Agathadaemon, Kaiko... immer weiter führte sie das breite Band des Wassers nach Südwesten, so gerade wie ein Kompaßkurs Tag für Tag, bis es schwer war, sich zu erinnern, daß dies der einzige Kanal war, daß nicht ein Netz solcher Kanäle existierte. Oh, es gab einen weiteren großen Kanal bei Boone's Neck; aber der war kurz und breit und dehnte sich jedes Jahr weiter aus, da Schleppleinen und die nach Osten gerichtete Strömung an ihm zerrten. Eigentlich kein Kanal mehr, sondern eher eine künstlich angelegte Meeresstraße. Nein, der Traum von den Marskanälen war allein hier verwirklicht worden. Und während man hier ruhig über das Wasser fuhr und der Blick auf alles andere durch die hohen Ufer abgeschnitten war, lag in der Luft ein Gefühl von Romantik, ein Gefühl, das ihre politischen und persönlichen Querelen verblassen ließ.

So etwa fühlte sich der Ausklang eines Abends unter den pastellfarbenen Neonlampen einer Stadt neben dem Kanal an. In Anteus schlenderte Maya die Uferpromenade entlang und schaute hinab auf große und kleine Schiffe, auf junges Volk, das trank und fröhlich schwatzte, da und dort briet man Fleisch in Kohlenbecken, die an die Reling geklammert waren und über dem Wasser hingen. Auf einem breiten Dock, das in den Kanal ragte, war ein Freiluftcafe, von dem der klagende Gesang einer Zigeunergeige ertönte. Maya kehrte instinktiv dort ein und sah erst im letzten Augenblick Jackie und Athos allein an einem Tisch der Kanalseite sitzen, vornübergebeugt, daß sich ihre Stirnen fast berührten. Maya wollte gewiß eine so vielversprechende Szene nicht stören; aber ihr abruptes Stehenbleiben fiel Jackie ins Auge, so daß sie aufschaute und dann hochschreckte. Maya wandte sich zum Gehen, sah aber, daß Jackie sich anschickte herüberzukommen.

Eine weitere Szene, dachte Maya, nicht sonderlich unzufrieden mit der Aussicht. Aber Jackie lächelte, und Athos war an ihrer Seite und beobachtete alles mit großen unschuldigen Augen. Entweder hatte er keine Ahnung von ihrer Vorgeschichte, oder er wußte seine Miene gut zu beherrschen. Maya vermutete das letztere, einfach wegen des Ausdrucks in seinem Blick, der etwas zu harmlos war, um echt zu sein. Ein Schauspieler.

»Dieser Kanal ist schön, nicht wahr?« sagte Jackie.

»Eine Touristenfalle«, erwiderte Maya. »Aber eine hübsche. Und sie hält die Touristen sauber beisammen.«

»Mach schon!« sagte Jackie lachend. Sie ergriff Athos Arm. »Wo ist dein Sinn für Romantik?«

»Mein Sinn für Romantik?« fragte Maya, erfreut über diese öffentliche Zurschaustellung von Zuneigung. Die alte Jackie hätte das nicht getan. Es war wirklich ein Schock zu sehen, daß sie nicht mehr jung war. Es war töricht von Maya gewesen, nicht daran zu denken; aber ihr Zeitgefühl war so durcheinander, daß ihr eigenes Gesicht im Spiegel sie immer wieder entsetzte. Sie erwachte jeden Morgen im falschen Jahrhundert. Darum war das Bild von Jackie, wie sie matronenhaft Athos am Arm hielt, genauso unmöglich. Das war doch das frische, gefährliche Mädchen von Zygote, die junge Göttin von Dorsa Brevia!

»Jeder hat einen Sinn für Romantik«, sagte Jackie. Die Jahre machten sie nicht weiser. Wieder eine chronologische Diskontinuität. Vielleicht hatte die häufige Behandlung für Langlebigkeit ihr Gehirn in Mitleidenschaft gezogen. Seltsam, daß nach so anhaltendem Gebrauch der Behandlungen überhaupt irgendwelche Zeichen des Alterns übrig geblieben waren. Woher kam das eigentlich, wenn keine Zellteilungsfehler mehr auftraten? In Jackies Gesicht gab es keine Falten. Man konnte sie in mancher Hinsicht irrtümlich für fünfundzwanzig halten. Und die Miene fröhlicher Boonescher Zuversicht saß so tief wie eh und je. Dies war der einzige Zug, in dem sie John wirklich ähnelte - glühend wie das Neonschild des Cafes über ihnen. Aber trotz alledem sah man ihr ihre Jahre an, irgendwie an den Augen oder an einer psychischen Gestalt, die aller medizinischen Manipulation zum Trotz am Werke war.

Und dann kam eine von Jackies vielen Assistentinnen auf sie zugerannt, kam keuchend, japsend zum Stehen, zog Jackies Arm von Athos weg und schrie bebend: »Sie ist tot.«

»Wer?« fragte Jackie scharf zurück.

Die junge, früh alternde Frau sagte kläglich: »Zo.«

»Zo?«

»Ein Flugunfall. Sie ist ins Meer gestürzt.«

Das sollte sie mäßigen, dachte Maya.

»Natürlich«, sagte Jackie.

»Aber die Vogelanzüge«, protestierte Athos. Auch er wurde älter. »Hat man nicht...?«

»Davon weiß ich nichts.«

»Das spielt auch keine Rolle«, sagte Jackie und brach das Gespräch ab. Später hörte Maya einen Augenzeugenbericht über den Unfall, und das Bild blieb für immer ihrer Erinnerung eingeprägt. Die zwei Flieger kämpften in den Wellen wie nasse Libellen. Sie blieben an der Oberfläche, so daß ihnen nichts geschehen wäre, hätte sie nicht eine der großen Wogen des Nordmeeres erfaßt und gegen den Fuß einer Klippe geschleudert. Danach waren beide leblos in der Gischt getrieben.

Jackie war in sich gekehrt und nachdenklich. Sie und Zo hatten einander nie sehr nahe gestanden, wie Maya gehört hatte. Manche sagten, daß sie sich sogar haßten. Aber das eigene Kind. Man erwartete nicht, seine Kinder zu überleben; das empfand sogar die kinderlose Maya instinktiv so. Aber sie hatten allen Regeln abgeschworen. Biologie hatte für sie keine Bedeutung mehr. Und da waren sie nun. Wenn Ann Peter bei dem fallenden Kabel verloren hätte; wenn Nadia und Art jemals Nikki verloren hätten... selbst Jackie, wie verrückt sie auch sein mochte, mußte das so empfinden.

Und sie empfand es auch so. Sie dachte scharf nach, um den Ausweg zu finden. Aber dazu würde es nicht kommen. Und dann würde sie eine andere Person sein. Altern hatte überhaupt nichts mit Zeit zu tun. »O Jackie«, sagte Maya und streckte eine Hand aus. Jackie kniff die Augen zu, und Maya zog die Hand zurück. »Es tut mir leid.«

Aber gerade dann, wenn man am meisten Hilfe braucht, ist die Isolierung am stärksten. Maya hatte das in der Nacht von Hirokos Verschwinden gelernt, als sie versucht hatte, Michel zu trösten. Man konnte nichts tun.

Maya schob die schniefende Assistentin fast schroff beiseite und nahm sich dann zusammen: »Warum begleitest du Ms. Boone nicht zu eurem Schiff zurück? Und dann halte ihr die Menschen für eine Weile vom Leib!«

Jackie war noch in Gedanken verloren. Ihre Geste gegenüber Maya war rein instinktiv gewesen. Sie war bestürzt und ungläubig, und diese Ungläubigkeit absorbierte alle ihre Bemühungen. Was sollte man von einem menschlichen Wesen auch anderes erwarten?

Vielleicht war es noch schlimmer, wenn man sich schon nicht mit dem Kind verstanden hatte - schlimmer, als wenn man es geliebt hätte, o Gott! »Geh«, sagte Maya zu der Assistentin und befahl Athos mit einem Blick, Jackie zu helfen. Er würde gewiß Eindruck auf sie machen - auf eine oder andere Weise. Man führte sie weg. Sie hatte immer noch den schönsten Rücken der Welt und hielt sich wie eine Königin. Das würde sich ändern, wenn die Nachricht eindrang.

Später befand Maya sich am südlichen Ende der Stadt, wo die Lichter sich verloren und hinter dem bestirnten Schimmer des Kanals schwarze Haufen von Schlacke lagen. Es sah aus wie die Akte eines Lebens, wie die Weltlinie eines Menschen. Helle Neonschnörkel, die sich über eine Landschaft auf den schwarzen Horizont zu bewegten. Über dem Kopf und unten Sterne. Eine schwarze Bahn, über die sie lautlos glitten.

Sie ging zu ihrem Schiff zurück. Stapfte die Planke hoch. Es war bekümmernd, so für einen Feind zu empfinden, einen Feind durch dieses Unglück zu verlieren. »Wen soll ich jetzt hassen?« schrie sie Michel zu.

»Na ja«, sagte Michel schockiert. Dann in tröstendem Ton: »Ich bin sicher, daß du jemanden finden wirst.«

Maya lachte kurz, und Michel zwang sich zu einem kurzen Lächeln. Dann zuckte er mit finsterer Miene die Achseln. Er war weniger als sonst jemand durch die Behandlung beschwichtigt worden. Unsterbliche Geschichten in sterblichem Fleisch - darauf hatte er immer bestanden. Er hatte mit seiner morbiden Einstellung völlig recht. Hier eine weitere Illustration dieses Punktes.

»So fordert das Allzumenschliche letztlich sein Recht«, sagte er.

»Sie war eine Närrin mit all diesen Risiken, nach denen sie verlangte.«

»Sie hatte nicht daran geglaubt.«

Maya nickte. Zweifellos richtig. Es glaubten nur noch wenige an den Tod, besonders die Jungen hatten das nie getan, schon vor den Tagen der Behandlung nicht. Und jetzt weniger denn je. Aber ob man daran glaubte oder nicht, er wurde immer niederdrückender, am meisten" natürlich bei den Super-Alten. Neue Krankheiten oder alte Krankheiten, die zurückgekehrt waren oder gar ein rapider holistischer Verfall ohne erkennbare Ursache - der hatte Helmut Bronski und Derek Hastings in den letzten Jahren umgebracht. Leute, die Maya kennengelernt hatte, wenn auch nicht näher. Jetzt hatte ein Unfall jemanden betroffen, die so viel jünger war als sie. Es machte keinen Sinn, da nur jugendliche Sorglosigkeit als Grund in Frage kam. Ein Unfall. Ein Zufall.

»Willst du immer noch, daß Peter herjcommt?« fragte Michel aus einem anderen Gedankengang heraus. War das seine Realpolitik? Ah, er wollte sie ablenken. Sie lachte beinahe wieder.

Sie sagte: »Laß uns Kontakt mit ihm aufnehmen und sehen, ob er kommen kann«, erwiderte sie. Aber das war nur, um Michel zu beruhigen. Ihr Herz war nicht dabei.

Das war erst der Anfang einer Reihe von Todesfällen.