Sax nahm einen Solorover und fuhr damit den steilen kahlen Südhang von Pavonis Mons hinunter und dann quer über den Sattel zwischen Pavonis und Arsia Mons. Er umrundete den großen Kegel von Arsia Mons auf seiner trockenen Ostseite. Danach fuhr er die Südflanke von Arsia hinab und auf den Tharsis-Buckel selbst, bis er sich auf dem zerklüfteten Hochland von Daedalia Planitia befand. Diese Ebene war der Rest eines riesigen alten Einschlagbeckens, jetzt durch die unablässigen Winde fast völlig abrasiert, bis nichts davon geblieben war außer einer Anzahl areologischer Beobachtungen und Schlußfolgerungen, schwachen radialen Anordnungen von Auswurfschrammen und dergleichen, die auf Karten zu sehen waren, aber nicht in der Landschaft.
Wenn man darüberfuhr, sah es für das Auge dem Rest der südlichen Hochländer sehr ähnlich. Rauhes, buckliges, löchriges, zerklüftetes Land. Eine wilde Felsenlandschaft. Die alten Lavaströme waren als glatte, gelappte Kurven dunklen Gesteins zu erkennen wie auf und ab wogende Gezeiten. Helle und dunkle Windstriche markierten das Land und zeigten Staub verschiedener Gewichte und Konsistenzen an. Es gab helle lange Dreiecke auf den Südostseiten von Kratern und Felsblöcken, dunkle Zickzackbänder nordwestlich davon und dunkle Flecken an den Innenseiten der vielen randlosen Krater. Der nächste große Sturm würde alle diese Muster abändern.
Sax fuhr mit großem Vergnügen über die losen Steinwellen immer weiter nach unten und dann wieder hoch. Er las die Sandbilder der Staubstreifen wie eine Windkarte. Er reiste nicht in einem Felsenwagen mit seinem niedrigen Raum und seinem Hasten von einem Versteck zum nächsten, sondern im großen kastenartigen Wohnwagen eines Areologen, mit Fenstern auf allen vier Seiten des dreistöckigen Fahrerabteils. Es war wirklich ein sehr großes Vergnügen, in dem schwachen hellen Tageslicht dahin zu rollen, auf und ab, auf und ab über die von Sand gestreifte Ebene mit für den Mars sehr entfernten Horizonten. Es gab niemanden, vor dem er sich verstecken müßte, oder der ihn verfolgte. Er war ein freier Mann auf einem freien Planeten; und wenn er Lust hatte, könnte er mit seinem Wagen rund um die Welt fahren. Oder wohin er sonst wollte.
Es dauerte etwa zwei Tage, bis er den vollen Eindruck dieses Gefühls erkannte. Selbst dann war er sich noch nicht sicher, es verstanden zu haben. Es war eine Empfindung von Leichtigkeit, einer seltsamen Leichtigkeit, die ihn veranlaßte, den Mund wiederholt zu leichtem Lächeln ohne deutlichen Grund zu verziehen. Vorher war er sich nicht ausdrücklich eines Gefühls von Bedrängnis oder Angst bewußt gewesen, aber ihm schien, daß es das vielleicht seit 2061 gegeben hätte - vielleicht sogar in den Jahren davor. Sechsundsechzig Jahre der Furcht, ignoriert und vergessen, aber immer vorhanden - eine gewisse Spannung in der Muskulatur, eine kleine vergessene Angst im Kern der Dinge. »Sechsundsechzig Flaschen voller Furcht an der Wand - man reiche sie herum! - Sechsundsechzig Flaschen voller Furcht!«
Jetzt war das vorbei. Er war frei, seine Welt war frei. Er fuhr die vom Wind gezeichnete abschüssige Ebene hinunter; und früher an diesem Tage war Schnee in den Spalten erschienen und schimmerte wäßrig auf eine Weise, wie Staub das nie tat. Und dann Flechten. Er fuhr in die Atmosphäre hinunter. Und es gab jetzt keinen Grund, warum das Leben nicht so weitergehen könnte, indem es alle Tage in seinem Weltenlabor herumtrödelte und alles andere ebenso frei war wie das!
Das war ein tolles Gefühl.
Oh, sie konnten sich auf Pavonis streiten und würden das auch sicher tun. Tatsächlich überall. Sie waren ein höchst ungewöhnlich zanksüchtiger Haufen. Welche Soziologie konnte das erklären? Schwer zu sagen. Und auf jeden Fall hatten sie trotz ihres Haders kooperiert. Es hätte nur ein zeitweiliges Zusammenfallen von Interessen sein können; aber alles war jetzt nur zeitweilig, da so viele Traditionen gebrochen oder verschwunden waren. Es war nur geblieben, was John die Notwendigkeit des Schaffens< zu nennen pflegte; und Schaffen war hart. Nicht jedermann war darin so gut, wie sie es waren, während sie sich beklagten.
Aber sie hatten jetzt als Gruppe gewisse Fähigkeiten, als eine... Zivilisation. Der angesammelte Schatz wissenschaftlicher Kenntnisse wuchs in der Tat rapide; und dieses Wissen gab ihnen eine Menge von Kräften, die durch ein einzelnes Individuum kaum begreifbar waren, selbst in Umrissen nicht. Aber es waren große Kräfte, ob man sie verstand oder nicht. Gottgleiche Kräfte, wie Michel sie nannte, obwohl es nicht notwendig war, sie zu übertreiben oder das Problem zu verwirren. Es waren Kräfte in der materiellen Welt, real, aber durch die Realität beschränkt. Was nichtsdestoweniger erlauben könnte - so sah Sax es als möglich an -, daß sie, recht angewandt, schließlich dennoch eine anständige menschliche Zivilisation hervorbringen konnten. Nach all den Jahrhunderten des Versuchens. Und warum auch nicht? Warum nicht? Warum nicht das ganze Unternehmen auf dem höchstmöglichen Niveau ansiedeln? Sie konnten für einen jeden gerecht sorgen, sie konnten Krankheiten heilen, sie konnten das Greisenalter verzögern, bis sie tausend Jahre lang lebten, sie konnten das Universum verstehen von der Planckschen Länge bis zur kosmischen Distanz, vom Urknall bis zur Endzeit. All das war möglich und technisch zu erreichen. Und was jene anging, die meinten, daß die Menschheit den Ansporn des Leidens brauchte, um groß zu werden; nun, sie konnten ausziehen und aufs neue die Tragödien finden, die es, dessen war sich Sax gewiß, immer geben würde - verlorene Liebe, Betrug durch Freunde, Tod, schlechte Resultate im Labor. Inzwischen konnte der Rest von ihnen das Werk fortführen und an der Schaffung einer anständigen Zivilisation arbeiten. Das würden sie tun können! Es war wirklich erstaunlich. Sie hatten den Moment in der Geschichte erreicht, an dem es möglich war. Wirklich sehr schwer zu glauben. Das machte Sax mißtrauisch. In der Physik bekam man sofort Zweifel, wenn eine Situation irgendwie außergewöhnlich oder einzigartig zu sein schien. Die Chancen waren dagegen. Es schien auf eine manipulierte Perspektive hinzudeuten. Man sollte annehmen, daß die Dinge mehr oder weniger konstant sind und man in normalen Zeiten leben würde nach dem sogenannten Prinzip des Mittelmaßes. Sax hatte dieses Prinzip nie für besonders attraktiv gehalten. Vielleicht besagte es nur, daß Gerechtigkeit immer zu erzielen gewesen war. Auf jeden Fall gab es das, ein außergewöhnliches Moment, direkt unter seinen vier Fenstern, gebräunt unter der leichten Berührung der natürlichen Sonne. Mars und seine Menschenwesen, frei und mächtig.
Es war zu viel, um es zu fassen. Es entglitt seinem Geist. Dann fiel es ihm wieder ein und überraschte ihn durch eine Freude, die er ausdrücken wollte. »Ha! Ha!« Der Geschmack von Tomatensuppe und Brot; »Ha!« Das trübe Purpur des Dämmerungshimmels; »Ha!« Das Bild der Instrumentenkonsole, die schwach leuchtete und in den schwarzen Scheiben gespiegelt wurde. »Ha! Ha! Ha! O meine Güte!« Es war fast erschreckend. Schwindelerregend. Ka, würden die Yonsei sagen. Ka, vermutlich der Name des kleinen roten Volkes für den Mars - aus dem japanischen ka, welches Feuer bedeutet. Das gleiche Wort gab es auch in verschiedenen anderen Sprachen, einschließlich der protoeuropäischen. So etwa nannten es die Linguisten.
Vorsichtig begab er sich in das große Bett hinten im Abteil, lauschte dem Summen der Heizung und des elektrischen Systems des Rovers; und er lag selbst summend unter der dicken Decke, die die Wärme seines Körpers so rasch aufnahm; und legte den Kopf auf das Kissen und schaute hinaus zu den Sternen.
Am nächsten Morgen zog von Nordwesten ein Hochdrucksystem heran, und die Temperatur stieg auf 262 K. Er war bis zu fünf Kilometer über dem Niveau abgefahren, und der äußere Luftdruck betrug 230 Millibar. Nicht genug, um frei zu atmen. Darum legte er geheizte Oberflächenkleidung an, hängte sich einen kleinen Lufttank über die Schulter, legte dessen Maske über Nase und Mund und zog eine Schutzbrille über die Augen.
Selbst so gerüstet veranlagte ihn die starke Kälte, als er aus der Schleusentür ging und auf den Sand traf, so zu schnaufen und zu zappeln, daß sogar sein Sehvermögen behindert wurde. Das Pfeifen des Windes war laut, obwohl seine Ohren in der Kapuze steckten. Aber die Heizung des Anzugs tat ihre Arbeit, und als der Rest von ihm warm war, gewöhnte sich auch das Gesicht langsam an die Kälte.
Er zog die Schnur der Kapuze fest an und ging über das Land. Er trat von einem flachen Stein, die es hier überall gab, zum andern. Oft bückte er sich, um Risse zu untersuchen. Er fand Flechten und weit verstreute Proben anderen Lebens: Moose, kleine Büschel von Riedgras und gewöhnliches Gras. Es war sehr windig. Äußerst scharfe Böen trafen ihn vier- oder fünfmal in der Minute. Dazwischen lagen trügerisch ruhige Zwischenpausen. Die meiste Zeit war es ohne Zweifel ein windiger Platz, wobei die Atmosphäre in großen Massen südlich um den Komplex von Tharsis herumströmte. Hochdruckzellen luden einen großen Teil ihrer Feuchtigkeit beim Aufsteigen auf der Westseite ab. Tatsächlich war in diesem Moment der Horizont im Westen durch ein flaches Wolkenmeer verdunkelt, das mit dem entfernten Land verschwamm, das zwei oder drei Kilometer tiefer lag und vielleicht sechzig Kilometer weit weg war.
Unter den Füßen gab es nur stellenweise Schnee, der einige beschattete Spalten und Löcher füllte. Diese Schneebänke waren so hart, daß er darauf herumspringen konnte, ohne eine Spur zu hinterlassen. Windplatten, zum Teil geschmolzen und wieder gefroren. Eine ausgezackte Platte zerbrach unter seinen Füßen, und er fand sie mehrere Zentimeter stark. Darunter war Pulver oder Granulat. Seine Finger waren trotz der geheizten Handschuhe kalt.
Er richtete sich wieder auf und wanderte ohne Karte über das Gestein. Einige tiefere Löcher enthielten Eispfützen. Gegen Mittag stieg er in eines davon hinunter und aß seinen Lunch an dem Eis-Teich. Dabei hob er die Luftmaske an, um von einem Riegel aus Honig und Getreide abzubeißen. In einer Höhe von 4,5 Kilometer betrug der Luftdruck 267 Millibar. Die Sonne stand tief am Nordhimmel, ein heller Punkt, umgeben von Zinn.
Das Eis in dem Teich war stellenweise klar, wie ausgestattet mit kleinen Fenstern, die einen Blick auf den schwarzen Boden gestatteten. Überall war das Eis blasig oder rissig oder weiß von Reif. Die Bank, auf der er saß, war eine Rundung aus Kies, mit Flecken braunen Bodens und schwarzer toter Vegetation, die in einem Wall darauf lagen, offenbar eine Bodengrenze über der Schicht aus Kies. Das ganze Ufer war nicht mehr als vier Meter lang und einen breit. Der feine Kies hatte die Farbe von Umbra, scheckigem Umber oder... Er müßte eine Farbtafel hinzuziehen. Aber nicht jetzt.
Der Bodenwall war von kleinen blaßgrünen Rosetten aus winzigen Grashalmen punktiert. Längere Halme standen in klumpigen Büscheln hier und da. Die meisten größeren Halme waren tot und hellgrau. Ganz nahe an dem Teich waren Flecken von dunkelgrünen fleischigen Blättern mit dunkelgrünen Rändern. Wo das Grün ins Rot überging, ergab sich eine Farbe, die er nicht benennen konnte, ein dunkles glänzendes Braun, das irgendwie mit den beiden es bildenden Farben gefüllt war. Es schien, daß er bald doch eine Farbkarte aufrufen müßte. Als er sich später im Freien umsah, erschien eine solche ungefähr einmal in der Minute auf dem Display seines Handys. Unter manchen dieser zweifarbigen Blätter waren wachsartige, fast weiße Blüten verborgen. Ferner lagen da einige Tangarten mit roten Stielen und grünen Nadeln, wie angeschwemmtes Seekraut en miniature. Wieder diese Mischung von Rot und Grün, die ihn hier direkt in der Natur anstarrte.
Ein fernes, vom Wind verwehtes Summen. Vielleicht die Harfentöne von Felsen, vielleicht das Brummen von Insekten. Schwarze Mücken, Bienen... In dieser Luft würden sie nur etwa 30 Millibar CO2 auszuhalten haben, weil so wenig Partialdruck in sie eindrang und an mancher Stelle die innere Sättigung ausreichte, um etwas mehr davon draußen zu halten. Bei Säugetieren würde das wohl nicht so gut funktionieren. Aber sie könnten imstande sein, 20 Millibar zu vertragen; und wenn Pflanzenleben auf allen geringen Höhen des Planeten gedieh, könnte der Kohlendioxidgehalt recht bald auf 20 Millibar sinken. Dann konnten sie auf die Lufttanks und Gesichtsmasken verzichten und auf dem Mars Tiere freisetzen.
Im schwachen Summen der Luft schien er ihre Stimmen zu hören, immanent oder aufsteigend, die in dem nächsten großen Aufschwung von Viriditas kommen würden. Das Summen ferner Stimmen; der Wind; der Friede dieses kleinen Teichs auf seinem steinigen Moor; das nirgalische Vergnügen, das er an der scharfen Kälte hatte... »Ann sollte das hier sehen!« murmelte er.
Nachdem die Raumspiegel nun fort waren, war alles, was er hier sah, dem Untergang geweiht. Dies war die Obergrenze der Biosphäre; und mit dem Verlust an Licht und Wärme würde die Obergrenze sinken, zumindest zeitweilig, vielleicht für immer. Das gefiel ihm nicht; und es schien möglich, daß es Wege geben könnte, für das verlorene Licht einen Ausgleich zu finden. Schließlich war das Terraformen vor dem Erscheinen der Spiegel recht gut vorangekommen. Die Spiegel waren nicht notwendig gewesen. Und es war gut, nicht von etwas so Zerbrechlichem abhängig zu sein; und besser, sich davon jetzt frei zu machen als später, wenn große Tierpopulationen zusammen mit den Pflanzen bei dem Rückschlag hätten sterben können.
Aber selbst so war es eine Schande. Diese tote Pflanzensubstanz würde am Ende mehr Dünger ergeben; und doch wog das Leid von Tieren schwerer. Das war wenigstens anzunehmen. Wer wußte, wie Pflanzen fühlen? Wenn man sie genau anschaute, wie sie in all ihrer detaillierten Gliederung wie komplexe Kristalle leuchteten, waren sie ebenso geheimnisvoll wie jede andere Art von Leben. Und jetzt machte ihre Anwesenheit hier alles, was er sehen konnte, die ganze Fläche zu einem großen Fjellfeld, das sich wie ein Teppich langsam über das Gestein breitete. Sie zerlegten die verwitterten Mineralien und verbanden sich mit ihnen zu den ersten Böden. Ein sehr langsamer Prozeß. In jedem bißchen Boden steckte große Komplexität. Und der Anblick dieses Fjellfeldes war das Lieblichste, das er je gesehen hatte.
Nun zum Wetter. In der ganzen Welt herrschte Wetter. Der erste gedruckte Gebrauch dieses Wortes war, recht passend, 1665 in einem Buch über Stonehenge aufgetreten. »Die Witterung so vieler Jahrhunderte.« Auf dieser steinernen Welt. Witterung. Sprache als die erste Wissenschaft, exakt und dennoch vage oder vieldeutig. Dinge zusammenwerfen. Der Geist als Wetter. Oder bewettert.
Über den nahen Hügel im Westen kamen Wolken heran. Ihre Unterseiten ruhten auf einer thermischen Schicht so gleichmäßig, als ob sie auf Glas drückten. Bänder wie gesponnene Wolle wiesen den Weg nach Westen.
Sax stand auf und kletterte aus der Senke des Teichs empor. Heraus aus dem Schutz des Lochs, in den erschreckend starken Wind. Die Kälte intensivierte sich, als ob in eben dieser Sekunde eine Eiszeit mit voller Kraft zugeschlagen hätte. Das machte natürlich der Faktor der Windabkühlung. Wenn die Temperatur 262 K betrug und der Wind mit etwa siebzig Kilometern in der Stunde blies, mit Böen, die viel schneller waren, dann würde der Faktor der Abkühlung durch Wind eine Temperatur erzeugen, die etwa 250 K entsprach. Was das richtig? Das war wirklich sehr kalt dafür, sich ohne Helm im Freien aufzuhalten. Und tatsächlich wurden seine Hände taub. Auch seine Füße. Und sein Gesicht war schon gefühllos wie eine dicke Maske vor seinem Kopf. Er erschauerte, und sein Lidschlag schien sich zu verkleben, weil seine Tränen festfroren. Er mußte zu seinem Wagen zurückkehren.
Er stapfte über den steinigen Grund, erstaunt über die Macht des Windes, die Kälte so zu verstärken. Er hatte eine derartige Windkälte seit seiner Kindheit nicht mehr erlebt und seither vergessen, wie kalt es einem wurde. Er stolperte in den Windstößen auf eine leichte Erhöhung der alten Lava und blickte den Hang hinauf. Dort war sein Rover - groß, lebhaft grün und schimmernd, ungefähr zwei Kilometer höher, wie ein Raumschiff. Ein sehr willkommener Anblick.
Aber jetzt flog der Schnee horizontal an ihm vorbei und gab eine dramatische Demonstration der großen Windgeschwindigkeit. Kleine Körnchen klapperten gegen seine Schutzbrille. Er ging blind weiter in Richtung Rover, hielt den Kopf gesenkt und beobachtete, wie der Schnee über die Felsen wirbelte. Es war so viel Schnee in der Luft, daß er glaubte, seine Brille würde sich beschlagen. Aber nach einem sehr mühsamen Unternehmen, sie innen abzuwischen, wurde klar, daß die Kondensation tatsächlich draußen in der Luft stattfand. Feiner Schnee, Nebel, Staub - das war schwer zu sagen.
Er stapfte weiter. Als er das nächste Mal aufblickte, war die Luft so dick, daß er nicht bis zum Rover sehen konnte. Da war nichts zu machen, als weiter zu drängen. Es war ein Glück, daß der Anzug gut isoliert war und eingenähte Heizelemente hatte, denn selbst bei auf höchste Kraft gestellter Wärme schnitt die Kälte in seine linke Seite, als ob er der Zugluft voll ausgesetzt wäre. Die Sicht betrug nur etwa zwanzig Meter und änderte sich rasch, je nachdem, wieviel Schnee gerade in dem Moment vorbeirauschte. Er befand sich in einer amorphen, sich ausdehnenden und zusammenziehenden weißen Blase, die mit fliegendem Schnee durchsetzt war und dem, was eine Art von gefrorenem Nebel oder Dunst zu sein schien. Es schien, als ob er sich mitten in dem Sturm selbst befände. Seine Beine waren steif. Er schlang die Arme um die Brust und steckte seine behandschuhten Hände in die Achselhöhlen. Es gab keine Möglichkeit zu erkennen, ob er noch in der richtigen Richtung ging. Er schätzte aber, daß er noch auf dem gleichen Kurs war wie zu dem Zeitpunkt, als die Sicht verschwand. Es schien aber auch, daß er schon eine ausreichend weite Strecke zum Rover gegangen war.
Auf dem Mars gab es keine Kompasse. Es gab aber APS-Systeme in dem Apparat an seinem Handgelenk und im Wagen. Außerdem konnte er auf seinem Handy eine detaillierte Karte abrufen und dann den direkten Weg zum Wagen gehen. Das schien eine beträchtliche Anstrengung zu sein, was ihn auf die Idee brachte, daß sein Denken, wie sein Körper, durch die Kälte beeinflußt würde. Aber schließlich war es doch keine zu große Mühe.
So hockte er sich im Windschatten eines Felsblocks hin und versuchte diese Methode. Die Theorie dahinter war offenbar korrekt, aber die Instrumentierung ließ etwas zu wünschen übrig. Der Bildschirm am Handgelenk war nur fünf Zentimeter groß, so klein, daß er die Punkte darauf kaum erkennen konnte. Endlich fand er einen Wegpunkt, ging eine Weile und nahm einen anderen Fixpunkt. Aber merkwürdigerweise zeigten seine Resultate, daß er etwa in einem rechten Winkel zu der Richtung ging, die er kurz zuvor gewählt hatte.
Das war entnervend bis zum Wahnsinn. Sein Körper bestand darauf, daß er den richtigen Weg ging. Sein Verstand (jedenfalls ein Teil davon) war sich ziemlich sicher, daß es besser war, den Anzeigen des Handys zu vertrauen und anzunehmen, daß er irgendwo vom Kurs abgekommen war. Aber sein Gefühl widersprach dem. Der Boden war immer noch geneigt, was das Gefühl seines Körpers bestätigte. Der Widerspruch war so stark, daß er einen Anfall von Schwindel bekam. Das innere Drehmoment verkrampfte ihn so, daß es tatsächlich schwer war zu stehen, als ob jede Zelle seines Körpers sich zur Seite krümmte entgegen dem Druck, welchen ihm das Armband angab. Die physiologischen Effekte einer rein kognitiven Dissonanz. Es war erstaunlich. Es ließ einen fast an die Existenz eines inneren Magneten im Körper glauben, wie in der Epiphyse von Zugvögeln. Aber es gab kein nennenswertes Magnetfeld. Vielleicht war seine Haut für Sonnenstrahlen in dem Maße empfindlich, daß sie die Stellung der Sonne auf den Punkt genau angeben konnte, selbst wenn der Himmel überall ein dickes Grau zeigte. Es mußte etwas derartiges sein; denn sein Gefühl, richtig orientiert zu sein, war so stark!
Endlich verging die Übelkeit der Desorientierung, und schließlich stand er auf und ging in die vom Armband angezeigte Richtung, nur um es zu versuchen und sich besser zu fühlen. Dabei fühlte er sich schrecklich, mit leichter Schlagseite nach rechts, aber man mußte den Instrumenten mehr vertrauen als den Instinkten. Das war Wissenschaft. Und so kämpfte er sich weiter, überquerte den Hang und wandte sich, ungeschickter denn je, etwas aufwärts. Seine fast gefühllosen Füße stießen an Felsen, die er nicht sah, selbst wenn sie direkt unter ihm waren. Er stolperte ab und zu. Es war erstaunlich, wie sehr Schnee die Sicht behindern konnte.
Nach einer Weile hielt er an und versuchte wieder, den Rover durch APS zu orten. Sein Armband schlug jetzt eine völlig neue Richtung vor - nach hinten links.
War es möglich, daß er an dem Wagen vorbeigegangen war? War es das? Er wollte nicht wieder zurückgehen, diesmal gegen den Wind. Aber jetzt war das offenbar der Weg zum Rover. Also duckte er den Kopf in die beißende Kälte und machte weiter. Seine Haut war in einem seltsamen Zustand. Sie schmerzte unter den Heizelementen, die im Zickzack seinen Anzug durchzogen, und war überall taub. Auch seine Füße waren gefühllos. Das Gehen wurde immer schwieriger. Auch in seinem Gesicht hatte er kein Gefühl mehr. Er brauchte einen Schutzraum.
Er hatte eine neue Idee. Er rief Aonia auf Pavonis an und bekam augenblicklich Verbindung.
»Sax! Wo bist du?«
Er sagte: »Deshalb rufe ich ja an. Ich befinde mich in einem Sturm in Daedalia. Ich kann meinen Wagen nicht finden. Ich überlegte, ob du nach meinem APS und dem meines Rovers schauen kannst. Und sehen, ob du mir sagen kannst, in welche Richtung ich gehen soll!«
Er hielt das Armband direkt ans Ohr. »Ka jetzt, Sax.« Das klang, als ob auch Aonia riefe. Sie sei gesegnet! Ihre Stimme war eine seltsame Ergänzung zur Szene. »Nur eine Sekunde, laß mich nachsehen... Okay! Da bist du. Und dein Wagen auch! Was machst du so weit im Süden? Ich glaube nicht, daß ich sehr schnell zu dir kommen kann. Besonders, wenn ein Sturm tobt.«
»Es stürmt fürchterlich. Darum habe ich ja angerufen«, erwiderte er.
»Okay! Du befindest dich ungefähr dreihundertfünfzig Meter westlich von deinem Wagen.«
»Genau westlich?«
»...und etwas südlich. Aber wie willst du dich zurechtfinden?«
Sax überlegte. Das Fehlen eines Magnetfelds auf dem Mars hatte ihn vorher nie so sehr als Problem betroffen. Aber jetzt war es soweit. Er konnte annehmen, daß der Wind direkt von Westen kam. Aber das war bloß eine Vermutung. »Kannst du die nächsten Wetterstationen fragen und mir sagen, aus welcher Richtung der Wind kommt?« sagte er.
»Sicher; aber für lokale Variationen würde das nicht sehr hilfreich sein! Hier, nur eine Sekunde, ich bekomme etwas Hilfe von den anderen.«
Es vergingen lange eisige Momente.
»Sax, der Wind kommt aus Westnordwest! Also mußt du mit dem Wind im Rücken gehen und ein wenig nach links.«
»Ich weiß. Sei still, bis du siehst, welchen Kurs ich einschlage. Und dann korrigiere ihn!«
Er ging weiter, zum Glück fast mit Rückenwind. Nach fünf oder sechs qualvollen Minuten piepte sein Handy.
»Du bist richtig auf Kurs!« sagte Aonia.
Das war ermutigend, und er fuhr mit etwas mehr Geschwindigkeit fort, obwohl der Wind ihm durch seine Rippen bis ins Mark drang.
»Okay, Sax! Sax?«
»Ja.«
»Du und dein Wagen, ihr seid genau auf dem gleichen Fleck!«
Aber es war kein Wagen zu sehen.
Sein Herz stockte in der Brust. Die Sicht betrug noch etwa zwanzig Meter, aber kein Wagen. Er mußte rasch Unterschlupf finden. »Geh in zunehmender Spirale um den Punkt, an dem du jetzt bist!« schlug die kleine Stimme auf dem Handgelenk vor. Theoretisch eine gute Idee; aber er schaffte es nicht, sie auszuführen. Er konnte sich nicht gegen den Wind wenden. Er starrte düster auf die schwarze Plastik-Konsole seines Armbands. Er konnte hier keine Hilfe mehr bekommen.
Einen Moment konnte er Schneebänke links von sich erkennen. Er schlurfte hinüber, um nachzusehen, und entdeckte, daß der Schnee im Lee einer schulterhohen Böschung lag - ein Merkmal, das er sich nicht erinnerte, vorher gesehen zu haben. Aber im Gestein waren einige radiale Brüche, die durch den Aufstieg von Tharsis entstanden waren; und dies mußte einer davon sein, welcher eine Schneebank schützte. Schnee war ein sehr starker Isolator. Obwohl er als Schutz wenig echten Reiz bot. Aber Sax wußte, daß Bergsteiger sich oft darin eingruben, um draußen Nächte zu überstehen. Er schützte vor dem Wind.
Er stieg auf den Boden der Schneebank und trat mit einem tauben Fuß dagegen. Es war, als ob er gegen Stein treten würde. Eine Schneehöhle zu graben schien außer Frage zu stehen. Aber die Anstrengung als solche konnte ihn etwas erwärmen. Am Fuß der Schneebank war es weniger windig. Also trat er und trat, und schließlich wurde sichtbar, daß sich unter einem dicken Batzen von Windplatten das übliche Pulver befand. Vielleicht war eine Schneehöhle doch noch möglich. Er buddelte weiter.
»Sax, Sax!« rief die Stimme von seinem Handgelenk. »Was machst du?«
»Ich mache eine Schneehöhle. Ein Biwak.«
»O Sax, wir fliegen zu Hilfe! Wir können morgen früh auf jeden Fall bei dir sein. Also halt aus! Wir werden weiter zu dir sprechen.«
»Fein!«
Er setzte Tritt nach Tritt und grub. Auf den Knien schöpfte er harten körnigen Schnee und stieß ihn in wirbelnden Flocken über sich. Es war schwer, sich zu bewegen und zu denken. Er bedauerte bitter, sich so weit vom Rover entfernt zu haben, als er von der Landschaft um jenen Eisteich so gefesselt war. Es war eine Schande zu sterben, wenn die Dinge so interessant wurden. Frei, aber tot. In dem Schnee war jetzt eine kleine Kuhle, ein längliches Loch im Windschatten. Er setzte sich müde hin und drängte sich in den freigewordenen Raum, auf der Seite liegend und mit den Stiefeln stoßend. Der Schnee fühlte sich gegen den Rücken seines Anzugs fest an und wärmer als der scharfe Wind. Er begrüßte das Erschauern in seinem Rumpf und empfand eine vage Angst, als es aufhörte. Es war ein schlechtes Zeichen, wenn man zu kalt war, um zu zittern.
Sehr müde, sehr kalt. Er schaute auf sein Armband. Es war vier Uhr nachmittags. Er war gerade etwas mehr als drei Stunden im Sturm marschiert. Er müßte noch weitere fünfzehn oder zwanzig Stunden überleben, ehe er erwarten konnte, gerettet zu werden. Oder vielleicht würde am Morgen der Sturm nachgelassen haben und der Standort des Rovers deutlicher geworden sein. So oder so mußte er die Nacht überleben, indem er sich seine Schneehöhle grub. Oder sich wieder hinauswagen und den Rover finden. Er konnte sicher nicht weit entfernt sein. Aber bis der Wind nachließ, konnte er es sich nicht leisten, nach ihm Ausschau zu halten.
Er mußte in der Schneehöhle warten. Theoretisch würde er eine Nacht im Freien überstehen, obwohl es im Moment so kalt war, daß er das kaum glauben konnte. Die Nachttemperaturen fielen auf dem Mars drastisch. Vielleicht würde der Sturm in der nächsten Stunde nachlassen, so daß er den Rover finden und vor der Dunkelheit erreichen könnte.
Er sagte Aonia und den anderen, wo er war. Sie klangen sehr besorgt, konnten aber nichts tun. Er fühlte Unruhe in ihren Stimmen.
Es schien viele Minuten zu dauern, bis ihm etwas anderes einfiel. Wenn man unterkühlt war, dann wurde der Blutstrom zu den Gliedern stark reduziert.
Vielleicht galt das auch für den Cortex, indem das Blut vorzugsweise ins Kleinhirn floß, damit dieses bis zum Ende seine Aufgabe erfüllen konnte.
Es verging mehr Zeit. Anscheinend war die Dunkelheit nahe. Er sollte wieder rufen. Ihm war zu kalt. Es schien etwas nicht zu stimmen. Vorgerücktes Alter, Höhenlage, Kohlendioxidniveau - irgendein Faktor, oder eine Kombination solcher, machte es schlimmer, als es sein sollte. Er konnte in einer einzigen Nacht durch seine ungeschützte Lage sterben. Und eben das schien er gerade zu tun. So ein Sturm! Vielleicht durch den Verlust der Spiegel. Bevorstehende Eiszeit. Aussterben.
Der Wind machte seltsame Geräusche, wie Rufe. Ohne Zweifel starke Böen. Wie schwache Rufe: »Sax! Sax! Sax!«
Hatten sie jemanden eingeflogen? Er schaute hinaus in den Sturm. Die Schneeflocken fingen irgendwie das späte Licht ein und flogen über ihm wie weißes Rauschen.
Dann sah er zwischen seinen von Eis verkrusteten Wimpern eine Gestalt aus der Dunkelheit auftauchen. Klein, rund, mit Helm. »Sax!« Der Klang war verzerrt. Er kam aus einem Lautsprecher im Helm der Gestalt. Die Techniker von Da Vinci waren sehr erfinderische Leute. Sax versuchte zu antworten, stellte aber fest, daß er zum Sprechen zu schwach war. Es erforderte bereits eine gewaltige Anstrengung, bloß die Stiefel aus dem Loch zu ziehen. Aber das schien das Auge der Gestalt auf sich zu ziehen, denn diese wandte sich um und marschierte zielstrebig durch den Wind. Sie bewegte sich wie ein geschickter Seemann auf einem schwankenden Deck und schlängelte sich durch die Windstöße. Dann erreichte sie ihn, bückte sich und packte Sax am Handgelenk. Durch die Visierscheibe sah er ihr Gesicht so deutlich wie durch ein Fenster. Es war Hiroko. Sie zeigte ihr flüchtiges Lächeln und zog ihn aus seiner Höhle. Sie zerrte so stark, daß die Knochen seiner linken Hand schmerzhaft knackten.
»Au!« krächzte er.
Draußen im Wind war die Kälte wie der Tod persönlich. Hiroko zog seinen linken Arm über die Schulter und führte ihn an der niedrigen Böschung vorbei direkt in die Zähne der Windsbraut, wobei sie sein Handgelenk genau oberhalb des Handys festhielt.
Er murmelte: »Mein Rover ist in der Nähe«, lehnte sich kräftig auf sie und bewegte seine Beine schnell genug, um feste Fußabdrücke zu machen. Es war so gut, sie wiederzusehen. Ihre solide kleine Statur, sehr kräftig wie immer.
Sie sagte über Lautsprecher: »Er ist da drüben. Du bist ziemlich nahe dran.«
»Wie hast du mich gefunden?«
»Wir haben deine Spur verfolgt, als du von Arsia herunterkamst. Als dann heute der Sturm zuschlug, habe ich dich gesucht und gesehen, daß du außerhalb deines Rovers warst. Danach kam ich heraus, um zu sehen, wie es dir ging.«
»Danke!«
»Du mußt bei Stürmen vorsichtig sein!«
Dann standen sie vor seinem Rover. Sie ließ sein Handgelenk los, das schmerzhaft pochte. Sie drückte ihre Visierscheibe gegen seine Schutzbrille und sagte: »Rein mit dir!«
Er kletterte vorsichtig die Stufen zur Tür des Rovers empor, öffnete sie und fiel hinein. Er drehte sich unbeholfen zur Seite, um für Hiroko Platz zu machen; aber sie war nicht in der Tür. Er lehnte sich in den Wind zurück und schaute sich um. Sie war nicht zu sehen. Es war dunkel. Der Schnee sah schwarz aus. Er rief: »Hiroko!«
Keine Antwort.
Er schloß die Tür der Schleuse, plötzlich erschrocken. Sauerstoffmangel. Er setzte die Schleuse unter Druck und fiel durch die innere Tür in den kleinen Umkleideraum. Es war fürchterlich warm, die Luft ein Dampfstrahl. Er zupfte vergeblich an seiner Kleidung und kam nicht voran. Dann machte er sich methodischer dran. Brille und Gesichtsmaske herunter. Die waren mit Eis verkrustet. Ah! Vielleicht war seine Luftzufuhr in dem Rohr zwischen Tank und Maske durch Eis behindert. Er holte einige Male tief Luft, und überstand sitzend einen neuen Schwindelanfall. Dann zog er an seiner Kapuze und öffnete den Reißverschluß des Anzugs. Das Ausziehen der Stiefel überstieg fast seine Kräfte. Dann der Anzug. Sein Unterzeug war kalt und klamm. Seine Hände brannten wie Feuer. Das war ein gutes Zeichen, ein Beweis dafür, daß er keine wesentlichen Erfrierungen erlitten hatte. Dennoch war es eine Qual.
Seine ganze Haut begann sofort am ganzen Körper gleichzeitig zu jucken. Woher kam das bloß? Rückkehr der Empfindung zu unterkühlten Nerven? Was auch immer es war - es schmerzte fast unerträglich. »Au!«
Trotzdem war er in bester Stimmung. Nicht nur, daß er eben dem Tod entronnen war; das war ganz nett. Aber daß Hiroko lebte! Das war eine unglaublich gute Nachricht. Viele seiner Freunde waren schon seit langem der festen Überzeugung, daß sie und ihre Gruppe vor dem Angriff auf Sabishii geflohen waren und sich durch das Labyrinth des Berges in ihr System verborgener Schlupfwinkel zurückgezogen hatten. Sax war sich nie sicher gewesen. Es gab nichts, das diese Theorie stützte. Und in den Sicherheitskräften gab es Elemente, die durchaus fähig waren, eine Gruppe von Dissidenten zu ermorden und sich ihrer Leichen zu entledigen. Aber er hatte diese Meinung für sich behalten und sich kein Urteil gebildet. Er konnte sich einfach nicht sicher sein.
Aber jetzt wußte er Bescheid. Er war Hiroko in den Weg geraten, und sie hatte ihn vor dem Tod durch Erfrieren gerettet oder Ersticken, je nachdem, was zuerst gekommen wäre. Der Anblick ihres fröhlichen und irgendwie unpersönlichen Gesichts, ihrer braunen Augen, das Gefühl ihres Körpers, der ihn stützte, ihre über sein Handgelenk geklammerte Hand... Er würde davon einen blauen Fleck bekommen. Vielleicht sogar eine Zerrung. Er bog die Hand und von dem Schmerz tränten ihm die Augen. Das brachte ihn zum Lachen. Hiroko!
Nach einiger Zeit ließ das brennende Gefühl auf seiner Haut nach. Obwohl sich seine Hände geschwollen und roh anfühlten und er keine richtige Kontrolle über seine Muskeln hatte, kam er im Grunde auf einen normalen Zustand zurück. Oder einen ungefähr normalen.
»Sax! Sax! Wo bist du? Antworte uns, Sax!«
»Ah, hallo! Ich bin wieder in meinem Wagen.«
»Hast du ihn gefunden? Hast du deine Schneehöhle verlassen?«
»Ja. Ich sah in der Ferne meinen Wagen durch eine Lücke im Schnee.«
Sie waren froh, das zu hören.
Er saß da und hörte kaum ihrem Geschwätz zu und fragte sich, warum er spontan gelogen hatte. Irgendwie war ihm nicht wohl, über Hiroko zu sprechen. Er nahm an, daß sie versteckt bleiben wollte. Vielleicht war es das. Ihr Deckung zu geben...
Er versicherte seinen Genossen, daß es ihm gut gehe, und schaltete die Verbindung ab. Er zog einen Stuhl in die Küche und setzte sich darauf. Er wärmte Suppe und trank mit heftigem Schlürfen, weil er sich sofort die Zunge verbrannt hatte. Vom Frost angegriffen, verbrüht, wackelig, leicht schwindlig, plötzlich weinend, höchst verdutzt... trotz alledem war er sehr, sehr glücklich. Natürlich ernüchtert durch den Anruf und verwirrt oder sogar beschämt durch seine Dummheit, draußen geblieben zu sein und sich verirrt zu haben und das alles. Das war alles sehr ernüchternd; und dennoch war er glücklich. Er hatte überlebt und noch besser: Hiroko auch. Das bedeutete ohne Zweifel, daß ihre ganze Gruppe mit ihr überlebt hatte und auch das halbe Dutzend der Ersten Hundert, das von Anfang an mit ihr gewesen war: Iwao, Gene, Rya, Raul, Ellen, Evgenia... Sax ließ ein Bad ein und setzte sich in das warme Wasser. Er füllte langsam heißeres Wasser nach, als sich das Innere seines Körpers erwärmte. Und er kehrte zu dieser wundervollen Erkenntnis zurück. Ein Wunder - natürlich kein Wunder -, aber es hatte dieselbe Qualität unerwarteter und unverdienter Freude.
Als er merkte, daß er im Bad einzuschlafen drohte, trocknete er sich ab und hinkte auf empfindlichen Füßen zum Bett, kroch unter die Decke und fiel mit den Gedanken an Hiroko in tiefen Schlaf. Er träumte von Liebesspielen mit ihr in den Bädern von Zygote, von dem warmen, entspannten Luxus ihrer Stelldicheins im Badehaus, spät in der Nacht, wenn alle anderen schliefen. Von ihrer um sein Handgelenk geklammerten Hand, die ihn hochzog. Seine linke Hand tat ziemlich weh. Und das machte ihn glücklich.