Das Wasser der Isidis-Bucht hatte die Farbe eines blauen Flecks oder einer Clematisblüte und funkelte im Sonnenschein, der von den Wellen zurückgeworfen wurde, die gerade noch klein genug waren, um keine weißen Kämme zu tragen. Die Strömung kam von Norden, und der Kabinenkreuzer stampfte und rollte, als sie nordwestlich von DuMartheray Harbor dahinfuhren. Ein klarer Frühlingstag, Ls 51, m-Jahr 79, A.D. 2181.
Maya saß auf dem Oberdeck und sog die Seeluft und die Flut blauen Sonnenlichts ein. Es war eine Freude, sich draußen auf dem Wasser zu befinden, fern von all dem Dunst und Gerumpel der Küste. Es war wundervoll, daß die See auf keine Weise gezähmt oder verändert werden konnte, und wundervoll, wie sie immer gleich war, wenn man außer Sicht des Landes auf der blauen Wildnis schaukelte, ganz gleich, was dort auch geschehen mochte. Sie hätte jeden Tag, alle Tage weiter fahren können. Jedes Heruntergleiten von einem Wellenkamm war wie eine kleine Achterbahnfahrt der Seele.
Aber deshalb waren sie nicht hier. Vor ihnen brachen sich weiße Schaumkronen im einem breiten Fleck; und neben ihr bewegte der Steuermann das Rad um eine oder zwei Speichen und drosselte die Maschine auf wenige Umdrehungen pro Minute. Das weiße Wasser markierte die Spitze der Doppeldeckerkuppe, eines durch eine schwarze Boje gekennzeichneten Riffs, welche ein tiefes und rhythmisches Bumpern und Stoßen von sich gab. Rings um diese große nautische Kirchenglocke waren Vertäungsbojen verteilt. Der Pilot steuerte die erste an. Es lagen keine anderen Schiffe vor Anker. Nicht einmal am Horizont waren welche zu sehen. Es war, als wären sie in der Welt allein. Michel kam von unten herauf und trat neben sie, und legte die Hand auf ihre Schulter, als der Pilot das Ventil schloß und ein Matrose vom Bug aus unter ihnen mit einem Bootshaken zulangte und an der Boje anlegte, indem er ihr Andockseil daran befestigte. Der Pilot stellte den Motor ab, und sie trieben auf den Wogen rückwärts, bis das Halteseil sie mit einem lauten Klatschen und einem Fächer aus weißer
Gischt festhielt. Sie waren bei Burroughs vor Anker gegangen.
Unten in der Kabine legte Maya ihre Kleidung ab und zog einen elastischen orangefarbenen Trockenanzug an: Anzug und Kapuze, Stiefelchen, Tank und Helm und schließlich Handschuhe. Sie hatte eigens für diesen Abstieg Tauchen gelernt; und jedes Teil der Ausrüstung war noch neu. Die Sensation, sich unter Wasser zu befinden, war nicht ganz so neu, erinnerte sie an die Gewichtslosigkeit im Weltraum. Sobald sie daher über die Seite des Schiffs und ins Wasser geglitten war, stellte sich das vertraute Gefühl ein. Sie sank vom Gewichtsgürtel gezogen nach unten, merkte, daß das Wasser um sie kalt war, empfand es aber in keiner Weise als real. Das Atmen unter Wasser war eigenartig, funktionierte aber. Hinab ins Dunkel. Sie entspannte sich und schwamm hinunter, weg von dem kleinen Punkt des Sonnenlichts.
Immer weiter abwärts. Vorbei an der Oberkante der Doppeldeckerkuppe, vorbei an ihren silbrigen oder kupferfarbenen Fenstern, die aussah wie Reihen von mineralischen Extrusionen oder wie die Einwegspiegel von Beobachtern aus einer anderen Dimension. Sie war rasch in die Finsternis getaucht und sank wie im Traum mit einem Fallschirm immer weiter nach unten. Michel und einige andere folgten ihr; aber es war so finster, daß sie sie nicht sehen konnte. Dann sank ein Roboterschleppnetz, das wie ein dickes Bettgestell aussah, an ihnen vorbei. Seine starken Scheinwerfer warfen lange Kegel kristalliner Flüssigkeit voraus, die sich in der Entfernung zu einem diffusen Zylinder verliefen. Er schwenkte mit, wenn der Apparat seine Lage änderte, wie jetzt, als er die metallischen Fenster einer entfernten Mesa streifte und dann den schwarzen Unrat auf den Dächern des alten Niederdorfs. Irgendwo da unten war der alte Niederdorfkanal verlaufen. Ein Schimmer weißer Zähne - die Bareiß-Säulen, unangreifbar weiß unter ihrer Diamantbeschichtung, halb begraben in schwarzem Sand und Dreck. Maya richtete sich auf und bewegte die Flossen ein paarmal vor und zurück, um den Abstieg aufzuhalten. Dann, drückte sie auf einen Knopf, der etwas Luft in einen Teil ihres Gewichtsgürtels drückte, um sie zu stabilisieren. Sie schwebte über den Kanal wie ein Gespenst. Ja, es war wie Scrooges Traum, das Schleppnetz eine Art roboterhaftes Weihnachten der Vergangenheit, das die ertrunkene Welt einer verlorener Zeit erhellte, der Stadt, die sie so sehr geliebt hatte. Plötzlich schössen ihr Pfeile des Schmerzes durch die Rippen. Sie war fast zu taub für jedes Gefühl. Es war zu seltsam und schwer zu glauben, daß dies Burroughs war, ihr Burroughs - jetzt ein Atlantis auf dem Grunde des Marsmeeres.
Bekümmert wegen ihres Mangels an Gefühl, stieß sie kräftig zu und schwamm den Kanalpark hinunter über die Salzsäulen und weiter nach Westen. Dort ragte zur Linken Hunt Mesa auf, wo sie und Michel versteckt über einem Tanzstudio gewohnt hatten, und dann nach oben zu dem breiten Boulevard der Großen Böschung. Voraus lag der Princess Park, wo sie in der Zweiten Revolution auf der Bühne gestanden und vor einer großen Volksmenge eine Rede gehalten hatte. Die Leute hatten genau dort gestanden, wo sie jetzt darüber schwamm. Dort drüben war es, wo sie und Nirgal zu den Menschen gesprochen hatten. Jetzt der schwarze Boden einer Bucht. All das war so lange her - ihr Leben. Sie hatten die Kuppel aufgeschnitten und die Stadt verlassen, danach überflutet und nie zurückgeschaut. Ja, Michel hatte sicher recht. Dieser Tauchgang war ein perfektes Abbild der finsteren Prozesse des Gedächtnisses. Und vielleicht würde er helfen, ihr Zugang zu verschaffen. Und dennoch... Maya fühlte ihre Benommenheit und zweifelte. Die Stadt war überflutet - gewiß. Aber sie war noch da. Man könnte zu jeder beliebigen Zeit den Deich wieder hochziehen und diesen Arm der Bucht leerpumpen. Und dann würde es die Stadt wieder geben, dem Meer entrissen und im Sonnenlicht dampfend, sicher eingeschlossen in einem Polder, als ob sie eine Stadt in den Niederlanden wäre. Man müßte die Straßen vom Schlamm befreien, Straßengras und Bäume pflanzen, die Innenräume der Mesas säubern, die Läden im Niederdorf und die breiten Boulevards, die Fenster putzen. Dann hätte man alles wieder: Burroughs auf dem Mars, an der Oberfläche und schimmernd. Das ließe sich machen, es wäre sogar sinnvoll in Anbetracht dessen, wieviele Ausgrabungen es in den neun Mesas gegeben hatte, und daß die Isidis-Bucht keinen anderen guten Hafen hatte. Nun, keiner würde es jemals unternehmen. Aber es wäre möglich. Und so war Burroughs keineswegs für immer Vergangenheit.
Benommen und immer stärker frierend drückte Maya mehr Luft in den Gewichtsgürtel, machte kehrt und schwamm längs des Kanalparks zurück zu der Leuchtboje. Wieder sichtete sie die Reihe von Salzsäulen, und etwas daran zog sie an. Sie stieß sich zu ihnen hinunter und schwamm dann dicht über den schwarzen Sand, wobei sie die geriffelte Oberfläche mit dem Zug nach unten durch ihre Flossen störte. Die Reihen der Bareiß-Säulen hatten den alten Kanal gesäumt. Sie wirkten baufälliger denn je, weil sie halb vergraben waren, ihre Symmetrie ruiniert war. Sie erinnerte sich an lange Nachmittagsspaziergänge im Park, nach Westen in die Sonne und dann zurück mit der Lichtflut im Rücken. Es war ein schöner Ort gewesen. Unten zwischen den großen Mesas war es gewesen, als ob man sich in einer gigantischen Stadt mit vielen Kathedralen aufhielte.
Dort hinter den Säulen war eine Reihe von Gebäuden. In ihnen wurzelte Seetang. Lange Stämme erstrecken sich ins Dunkel. Breite Blätter wiegten sich leicht in der langsamen Strömung. Vor der Front jenes Gebäudes, am Ende der Straße, war ein Straßencafe gewesen, zum Teil beschattet von einem Spalier mit Glyzinien. Die letzte Salzsäule diente als Kennzeichen, und Maya war sich ihrer Identifizierung sicher.
Sie schwamm mühsam in eine stehende Position, und die Zeit kehrte zu ihr zurück. Frank hatte ihr zugerufen und war weggelaufen, ohne Sinn und Verstand wie immer. Sie hatte sich angezogen, war ihm gefolgt und hatte dann hier über einen Kaffee gebeugt gesessen. Ja. Sie hatte ihm Vorhaltungen gemacht, und sie hatte sich genau hier mit ihm gestritten. Sie hatte ihn gescholten, weil er nicht nach Sheffield eilte. Sie hatte eine Kaffeetasse heruntergeworfen, und der Griff war abgebrochen und über den Boden gerollt. Frank war aufgestanden, und sie waren heftig diskutierend fortgegangen und wieder nach Sheffield zurückgekehrt. Aber nein, so war es nicht gewesen. Sie hatten gestritten, gewiß, aber dann den Streit beigelegt. Frank hatte über den Tisch gelangt und ihre Hand ergriffen; und ihr war ein großes Gewicht vom Herzen gefallen und ein kurzer Moment der Gnade war ihr geschenkt worden, weil sie verliebt war und geliebt wurde.
Das eine oder das andere. Aber was davon war es gewesen?
Sie konnte sich nicht erinnern. Konnte nicht sicher sein. So viel Streit mit Frank. So viele Versöhnungen. Es hätte beides geschehen sein können. Es war unmöglich, dem nachzuspürem, sich zu erinnern, was wann geschehen war. In ihrem Geist ging alles durcheinander, verwischte sich zu vagen Eindrücken und unzusammenhängenden Momenten. Die Vergangenheit entwand sich ihrem Griff. Leichte Geräusche, wie ein Tier, das Schmerzen litt - ah, das war ihre Kehle. Wimmernd, stöhnend. Benommen und dennoch stöhnend. Das war absurd. Was auch immer danach geschehen war, sie wollte es wiederhaben. »Fuh.« Sie war außerstande seinen Namen zu sagen. Es schmerzte, als ob jemand ihr eine Nadel ins Herz gestochen hätte. Ah - das war wirklich ein Gefühl! Es ließ sich nicht abstreiten. Sie keuchte, es tat so weh. Man konnte es nicht leugnen.
Sie pumpte langsam mit den Flossen, schwebte vom Sand hoch, weg von den Dächern, an denen sich Seetang festgesetzt hatte. Als sie damals elend an jenem Cafetisch saß, was hätte sie gedacht, wenn sie gewußt hätte, daß sie hundertzwanzig Jahre später darüberschwimmen würde - und Frank schon lange tot war?
Ende eines Traums. Desorientierung oder das Wechseln von einer Realität in eine andere. Das Schweben in dem dunklen Wasser brachte etwas von der Taubheit zurück. Aber da war er wieder, dieser nadelstichartige Schmerz tief drinnen.
Und so hatte sich wieder einmal .gezeigt, daß Michel, der alte Alchemist, recht gehabt hatte. Sie schaute sich nach ihm um. Er war zu seinen eigenen Reisen davongeschwommen. Es war schon ziemlich viel Zeit vergangen. Die anderen hatten sich im Lichtkegel vor der Boje eingefunden und wirkten wie tropische Fische an einem dunklen kühlen Tag, die in der Hoffnung auf Wärme vom Licht angezogen werden. Traumhafte, langsame Schwerelosigkeit. Sie dachte an John, wie er nackt vor schwarzem Raum und kristallenen Sternen schwebte. Ah - es gab noch zu viel zu fühlen. Man konnte nur eine einzige Scherbe der Vergangenheit auf einmal ertragen. Diese ertrunkene Stadt; aber sie hatte sich hier auch mit John geliebt, irgendwo in einer Unterkunft in den ersten Jahren; mit John, mit Frank, mit jenem Ingenieur, an dessen Namen sie sich selten erinnern konnte, ohne Zweifel daneben auch noch mit anderen - alle vergessen oder beinahe. Eingekapselt sie alle. Kostbare Schmerzen, die das Gefühl hinterließ, waren stets in ihr geblieben, bis der Tod sie trennte. Hinauf, immer weiter nach oben zwischen den bunten tropischen' Fischen mit ihren Armen und Beinen hindurch zurück ins Tageslicht, blauen Sonnenschein, o Gott, ja - mit knallenden Ohren und einem Schwindelgefühl, vielleicht durch Stickstoffnarkose, Tiefenrausch. Oder der Rausch menschlicher Tiefe, der Weise, wie sie damals immer weiter gelebt hatten, wie Riesen die Jahre durchpflügt hatten, ja, und an was sie sich klammerten.
Michel schwamm ihr von unten herauf nach. Sie machte einen Stoß und wartete dann. Sie wartete, umarmte ihn und drückte ihn fest an sich. Oh, wie liebte sie die Festigkeit seines Körpers in ihren Armen, diesen Beweis der Realität. Sie drückte: Michel, ich danke dir, du Zauberer meiner Seele. Ich danke dir, Mars, für das, was in uns ausdauert, möge es auch ertrunken oder verkrustet sein. Hinauf in die glorreiche Sonne, in den Wind. Streife den Anzug mit kalten ungeschickten Fingern ab, zieh ihn aus und entsteige ihm wie eine Schmetterlingspuppe, nicht bewußt der Macht weiblicher Nacktheit über das männliche Auge. Wenn du plötzlich ihrer gewahr wirst, schenke ihm die aufregende Vision von Fleisch im Sonnenlicht, von Sex am Nachmittag. Atme tief in den Wind, voller Gänsehaut und dem Schock, am Leben zu sein.
»Ich bin immer noch Maya«, erklärte sie Michel mit klappernden Zähnen. Sie drückte ihre Brüste und trocknete sie ab. Ein herrliches Gefühl von trockenem Stoff auf feuchter Haut. Sie zog ihre Kleider an und keuchte vor der Kälte des Windes. Michels Gesicht war das Bild von Beglückung, Vergottung, jene Maske der Freude des alten Dionysos, der laut über das Gelingen seines Plans lachte, über die Verzückung seiner Freundin und Gefährtin. »Was hast du gesehen?«
»Das Cafe - den Park - den Kanal - und du?«
»Hunt Mesa, das Tanzstudio - Thoth Boulevard - Tafelberg.« In der Kabine hatte er eine Flasche Champagner auf Eis. Er ließ den Korken springen; und der schoß hinaus in den Wind und landete sanft auf dem Wasser und schwamm dann auf den blauen Wellen davon.
Aber sie weigerte sich, mehr darüber zu sagen. Sie wollte nicht die Geschichte ihres Tauchgangs erzählen. Die anderen taten das, und dann war sie irgendwie an der Reihe; und die Leute auf dem Schiff sahen sie an wie Geier, erpicht darauf, ihre Erlebnisse hineinzuschlichten. Sie trank ihren Champagner, saß still auf dem Oberdeck und betrachtete die langen Wellen. Wellen sahen auf dem Mars merkwürdig aus: groß und träge, eindrucksvoll. Sie gab Michel mit einem Blick zu versehen, daß es ihr gut ging und daß er recht getan hatte, sie nach unten zu schicken. Darüber hinaus Schweigen. Mögen sie ihre eigenen Erfahrungen haben, um sich daran zu laben, die Geier.
Das Schiff kehrte zum Hafen DuMartheray zurück, der eine kleine halbmondförmige Bucht unter der Moräne des DuMartheray-Kraters nutzte. Der Hang der Moräne war mit Häusern und Grünzeug bis hinauf zum Rand bedeckt.
Sie stiegen aus und gingen zur Stadt hinauf, speisten in einem Restaurant am oberen Ende und betrachteten den strahlenden Sonnenuntergang über dem Wasser der Isidis-Bucht. Der Abendwind fiel von der Böschung herunter und pfiff fern der Küste. Er rührte das Wasser auf und sprühte in weißen Fahnen Gischt über die Brandungskämme, die von kurzen Regenbogensegmenten durchzogen waren. Maya saß dicht bei Michel und hatte eine Hand auf seine Schulter gelegt. Jemand sagte: »Seltsam zu sehen, wie die Salzsäulen da unten immer noch schimmern. «
»Und die Fensterreihen in den Mesas! Hast du diese zerbrochene gesehen? Ich wollte hineingehen und mich umschauen, hatte aber Angst.«
Maya machte eine Grimasse und konzentrierte sich auf den Augenblick. Die Leute an der anderen Seite des Tisches redeten mit Michel über ein neues Institut, das die Ersten Hundert und andere frühe Kolonisten betraf, eine Art Museum, ein Archiv mündlich überlieferte Geschichten, Komitees zum Schutz der frühesten Gebäude etc. und auch ein, Programm zur Hilfe für superalte frühe Siedler... Natürlich waren diese ernsten jungen Männer (und Männer konnten so ernst sein) besonders an Michels Hilfe interessiert, wie sie sagten, besonders dabei, alle noch lebenden der Ersten Hundert zu finden und irgendwie zu registrieren. Sie sagten, es seien jetzt dreiundzwanzig. Michel war natürlich sehr entgegenkommend und schien auch wirklich an dem Projekt interessiert zu sein.
Maya hätte diese Idee nicht stärker hassen können. Ein Kopfsprung in die Trümmer der Vergangenheit als eine Art von Riechsalz, abstoßend aber kräftigend - fein. Das war akzeptabel und sogar gesund. Sich aber auf die Vergangenheit zu fixieren und zu konzentrieren, das war abscheulich. Sie hätte die ernsten jungen Männer mit Vergnügen über das Geländer gestoßen. Inzwischen sagte Michel zu, alle restlichen Ersten Hundert zu befragen, damit das Projekt in Gang kommen konnte. Maya stand auf, ging ans Geländer und stützte sich darauf. Unten auf dem dunkel werdenden Wasser spritzten immer noch helle Gischtflocken von jeder Wellenkrone.
Eine junge Frau kam herbei geschlendert und lehnte sich neben ihr an die Brüstung. Während sie ins Wasser schaute, sagte sie zu Maya: »Mein Name ist Vendana. Ich bin für dieses Jahr die lokale politische Agentin der Grünen Partei.« Sie hatte ein schönes Profil, klar und ausgeprägt in klassisch indischem Stil. Olivfarbene Haut, schwarze Augenbrauen, lange Nase und kleiner Mund. Intelligente scharfe braune Augen. Es war seltsam, wieviel man allein in den Gesichtern lesen konnte. Maya bekam allmählich den Eindruck, daß sie auf den ersten Blick alles Wesentliche über eine Person wüßte. Das war eine nützliche Fähigkeit, wenn man bedachte, daß so viel von dem, was die jungen Eingeborenen in diesen Tagen sagten, sie verwirrte. Sie brauchte diese erste Erkenntnis.
Die Grünheit allerdings verstand sie, oder glaubte sie zu verstehen. Das war eigentlich ein archaischer politischer Ausdruck, könnte man meinen, da der Mars jetzt völlig grün war - grün und blau. »Was wünschst du?«
Vendana sagte: »Jackie Boone und der Freie Mars stelleAi Kandidaten für Ämter aus diesem Gebiet auf und reisen als Wahlkämpfer für die bevorstehenden Wahlen umher. Wenn Jackie wieder die Parteiführung bekommt und wieder Mitglied des Exekutivrates wird, wird sie weiter an dem Plan des Freien Mars arbeiten, um jede weitere Einwanderung von der Erde zu unterbinden. Das ist ihre Idee, und sie treibt sie stark voran. Sie behauptet, daß alle terranischen Emigranten anderswohin im Sonnensystem umgeleitet werden könnten. Das stimmt zwar nicht, ist aber eine Haltung, die an gewissen Stellen sehr gut ankommt.
Den Terranern gefällt das natürlich nicht. Falls der Freie Mars bei einem isolationistischen Programm große Gewinne erzielt, nehmen wir an, daß die Erde sehr übel reagieren wird. Die Erdbewohner haben jetzt schon Probleme, die sie kaum bewältigen können. Sie benötigen das wenige von uns, das wir ihnen geben können. Und sie werden es als einen Bruch des Vertrags bezeichnen, den ihr abgeschlossen habt. Sie könnten es deswegen sogar bis zum Krieg treiben.«
Maya nickte. Sie hatte seit Jahren eine zunehmende Spannung zwischen Erde und Mars gefühlt - ungeachtet Michels Versicherungen. Sie hatte gewußt, daß das kommen würde. Sie hatte es vorausgesehen.
»Jackie hat viele Gruppen hinter sich stehen, und der Freie Mars hat jetzt seit Jahren eine überwältigende Mehrheit in der globalen Regierung. Sie haben inzwischen die Umwelthöfe gewonnen. Diese Höfe werden sie bei jedem Einwanderungsverbot decken, das sie vorschlagen könnte. Wir aber wollen die Politik beibehalten, die durch den Vertrag festgelegt ist, den ihr ausgehandelt habt, oder die Immigrationsquoten sogar noch etwas erhöhen, um der Erde soviel zu helfen, wie wir können. Aber Jackie läßt sich schwer aufhalten. Um dir die Wahrheit zu sagen, wir wissen nicht recht, wie. Darum dachte ich daran, dich zu fragen.«
Maya war überrascht. »Wie man sie aufhalten kann?«
»Ja. Oder ganz allgemein, dich zu bitten, uns zu helfen. Ich denke, man wird sie persönlich aufs Korn nehmen müssen.«
Und sie wandte den Kopf, um Maya mit einem wissenden Lächeln anzusehen.
In dem ironischen Lächeln, das diesen klassischen kleinen Mund mit seinen vollen Lippen anhob, lag etwas vage Vertrautes, etwas, das, obwohl offensiv, dem großäugigen Enthusiasmus der jungen Historiker weit vorzuziehen war, die Michel belästigten. Und als Maya darüber nachdachte, sah die Aufforderung immer besser aus. Es war zeitgenössische Politik, eine Beschäftigung mit der Gegenwart. Die Trivialität der aktuellen Szene sagte ihr gewöhnlich nicht zu; aber jetzt hatte sie den Eindruck, daß die Politik des Augenblicks immer unbedeutend und stupide aussah; erst später gewann sie das Aussehen respektabler Staatskunst und geschichtlicher Größe. Und dieses Thema konnte wichtig werden, wie die junge Frau gesagt hatte. Und natürlich würde alles (ohne daß ihr das klar bewußt war), was man Jackie in den Weg legen konnte, seine eigene Befriedigung bieten. »Erzähl mir mehr darüber!« sagte Maya und bewegte sich auf dem Balkon außer Hörweite der anderen. Und die junge Frau folgte ihr.