Sax kehrte etwas verblüfft zum Da-Vinci-Krater zurück. Dort hielten sie ihre alljährliche Partie Russisches Roulette ab, in der sie auf ein Jahr die Repräsentanten für die globale Legislatur und auch die verschiedenen Koop-Posten auswählten. Nach dem Ritual der aus einem Hut gezogenen Namen dankte man den Leuten, die im vorigen Jahr diesen Job getan hatten und tröstete die, auf welche dieses Jahr das Los gefallen war. Und die meisten von ihnen feierten wieder einmal, daß sie davongekommen waren.

Man hatte die Methode der Auslosung für administrative Jobs in Da Vinci gewählt, weil das der einzige Weg war, die Leute dazu zu bringen, sie zu übernehmen. Ironischerweise hatten sich die Techniker von Da Vinci nach allen ihren Bemühungen, jedem Bürger das Höchstmaß an Selbstmanagement zuteil werden zu lassen, als allergisch gegen die damit verbundene Arbeit erwiesen. Sie wollten nur ihre Forschung betreiben. »Wir sollten die Verwaltung ganz den Computern überlassen«, sagte Kouta Arai jedes Jahr zwischen den Schlucken aus einem Steinkrug mit schäumendem Bier. Aonia, die Dumarepräsentantin des vorigen Jahres, sagte zur diesjährigen Wahl: »Du gehst nach Mangala und sitzt herum und diskutierst; und der Stab tut die anfallende Arbeit. Das meiste davon ist an den Rat oder die Gerichtshöfe oder die Parteien abgegeben worden. Es sind die Apparatschiki des Freien Mars, die diesen Planeten wirklich betreiben. Aber es ist eine recht hübsche Stadt, in der Bucht kann man schön Bootfahren und im Winter Eissegeln.«

Sax ging weg. Jemand beklagte sich über die vielen neuen Hafenstädte, die am Südgolf entstanden, zu dicht, um noch behaglich zu sein. Politik in ihrer verbreitetsten Form: Klagen. Niemand will etwas tun, aber ein jeder genießt es, sich zu beklagen. Diese Art von Gerede würde etwa eine halbe Stunde lang weitergehen, um dann wieder auf die Arbeit zurückzukommen. Es gab eine Gruppe, die Sax schon am Ton ihrer Stimmen erkennen konnte. Er ging hinüber und bemerkte, daß sie über Fusion sprachen. Sax blieb stehen. Es schien, daß sie über neue Entwicklungen in ihren Labors bei der Konstruktion eines gepulsten Kernfusionsmotors erregt waren. Kontinuierliche Fusion war schon vor Jahrzehnten erzielt worden; aber dafür waren extrem massive Tokamaks erforderlich, Aggregate, die zu groß, zu schwer und zu kostspielig waren, um in den meisten Anwendungsbereichen benutzt werden zu können. Aber dieses Labor versuchte, viele kleine Treibstoffkügelchen in rascher Folge hinein implodieren zu lassen und die Resultate der Fusion als Energiequelle zu nutzen.

»Hat Bao zu euch darüber gesprochen?« fragte Sax.

»Nun ja, ehe sie abreiste, kam sie herüber, um mit uns über Plasmamuster zu reden. Das war nicht unmittelbar hilfreich. Dies hier ist wirklich makro im Vergleich mit dem, was sie macht; aber sie ist so verdammt schlau; und nachher sagte sie Yananda etwas, wie wir die Implosion versiegeln und trotzdem einen Platz für spätere Emission lassen können.«

Sie benutzten ihre Laser, um die Kügelchen von allen Seiten zugleich treffen zu können. Aber es mußte auch einen Auslaß für geladene Partikel geben. Bao hatte sich offenbar für das Problem interessiert; und jetzt kehrten sie wieder zu einer lebhaften Diskussion darüber zurück, was sie endlich erreicht zu haben glaubten. Und wenn jemand in den Kreis hereinschneite und die Lotterieergebnisse des Tages erwähnte, wiesen sie ihn an. »Ka, bitte keine Politik!«

Als Sax weiterging und halb den Gesprächen lauschte, die er im Vorbeigehen erhaschte, war er von neuem betroffen von dem unpolitischen Charakter der meisten Wissenschaftler und Techniker. Gegen Politik schienen sie allergisch zu sein. Das fühlte auch er. Das mußte er zugeben. Politik war unabweisbar subjektiv und kompromißlerisch, ein Prozeß, der völlig gegen den Kern der wissenschaftlichen Methode ging. Was war richtig? Diese Gefühle und Vorurteile waren an sich subjektiv. Man konnte versuchen, Politik als eine Art Wissenschaft zu sehen, etwa als eine lange Reihe von Experimenten über kommunales Leben, wobei alle Daten durchweg verunreinigt waren. So stellten Leute ein hypothetisches Regierungssystem auf, die Leute lebten es und prüften, wie sie sich damit fühlten. Dann änderten sie das System und starteten einen neuen Versuch. Im Laufe der Jahrhunderte schienen gewisse Konstanten oder Prinzipien aufgetaucht zu sein, während sie ihre Experimente und Paradigmen verfolgten und sukzessive nähere Approximationen von Systemen suchten, die Qualitäten wie physisches Wohlergehen, individuelle Freiheit, Gleichheit, Fürsorge für das Land, gelenkte Märkte, gesetzliche Regeln und allgemeines Mitgefühl förderten. Nach wiederholten Experimenten war klar geworden - zumindest auf dem Mars -, daß alle diese bisweilen widersprüchlichen Ziele am besten in einer Polyarchie realisiert werden konnten, einem komplexen System, in dem die Macht auf eine Anzahl von Institutionen verteilt war. Theoretisch schuf dieses System der geteilten Macht, teils zentralisiert und teils dezentralisiert, ein Höchstmaß an individueller Freiheit und kollektivem Wohlergehen durch Maximierung der Kontrolle, die das Individuum über das eigene Leben hatte.

Das hatte es auf sich mit der politischen Wissenschaft. In der Theorie eine feine Sache. Aber daraus folgte, daß die Menschen, wenn sie an die Theorie glaubten, eine angemessene Zeit der Ausübung ihrer Macht widmen mußten. Das war Selbstregierung. Eine Tautologie: Das Selbst regierte. Und das erforderte Zeit. »Jene, die die Freiheit schätzen, müssen die erforderliche Anstrengung unternehmen, sie zu verteidigen«, wie Tom Paine gesagt hatte - ein Faktum, das Sax kannte, weil Bela die schlechte Gewohnheit angenommen hatte, in den Hallen Plakate aufzustellen, auf denen so anregende Sprüchlein standen. »Wissenschaft ist Politik mit anderen Mitteln«, hatte eine andere, etwas mysteriöse Äußerung gelautet.

In Da Vinci aber wollten die meisten Leute ihre Zeit nicht auf diese Weise verbringen. »Der Sozialismus wird nie siegen«, hatte Oscar Wilde bemerkt (handschriftlich auf einem anderen Plakat zu finden), »er nimmt zu viele Abende in Anspruch.« So war es auch; und die Lösung bestand darin, daß man seine Freunde veranlaßte, ihre Abende für einen in Anspruch zu nehmen. Daher die Lotteriemethode bei der Wahl, ein kalkuliertes Risiko, weil man eines Tages den Job selbst aufgehalst bekommen könnte. Aber gewöhnlich lohnte sich das Risiko. Das zeigte die Fröhlichkeit bei der diesjährigen Party. Die Gäste strömten durch die Glastüren des Gemeindehauses ein und aus zu den freien Terrassen mit Blick auf den Kratersee und führten lebhafte Unterhaltungen. Auch die Einberufenen wurden allmählich, nachdem sie sich mit Kavajava und Alkohol getröstet hatten, wieder fröhlicher. Und vielleicht war dabei auch der Hintergedanke, daß Macht schließlich Macht bedeutet. Gut, es war eine auferlegte Pflicht, aber die diesmal an der Reihe waren, konnten immerhin die eine oder andere Kleinigkeit ausrichten, die ihnen sicher gerade jetzt einfiel - Rivalen Steine in den Weg legen, Leuten, die sie beeindrucken wollten, Gefälligkeiten erweisen etc. Somit hatte das System wieder einmal funktioniert. Es gab frische Persönlichkeiten, die den ganzen polyarchischen Apparat füllten, die Ausschüsse für Nachbarschaft, für Wasser, für Bauaufsicht, für Projektbeurteilung und für ökonomische Koordination, für die Koordination all dieser kleineren Körperschaften, und für die Beratung der globalen Delegierten - das ganze Netz kleiner Managementgruppen, die progressive Theoretiker der Politik in der einen oder anderen Variante seit Jahrhunderten immer wieder vorgeschlagen hatten. Darin waren einbezogen der fast vergessene Gewerkschaftssozialismus von Großbritannien, die Arbeiterfürsorge im einstigen Jugoslawien, Landbesitz in Kerala und so weiter. Und bisher schien es in dem Sinne zu funktionieren, daß die Ingenieure von Da Vinci wohl etwa ebenso selbstbewußt und zufrieden schienen, wie sie es während der ad hoc im Untergrund verbrachten Jahre gewesen waren, als alles (scheinbar) nach Instinkt oder, um genauer zu sein, nach dem allgemeinen Konsens der (damals viel kleineren) Bevölkerung von Da Vinci geschah.

Sie schienen glücklich zu sein. Draußen auf den Terrassen standen sie in langen Reihen bei großen Krügen mit Kavajava und Irish Coffee, in lebhaften Gruppen zusammengeballt, daß die Gesamtheit der Stimmen wie Wellenrauschen klang, so wie bei jeder Cocktailparty. All diese Stimmen zusammen bildeten einen erstaunlichen Sound. Ein Chor aus Gesprächen. Es war eine Musik, der außer Sax niemand bewußt lauschte, zumindest soweit er erkennen konnte. Aber beim Hinhören kam ihm die starke Vermutung, daß dieser Klang, wenn man ihn unbewußt vernahm, das war, was die Menschen auf Parties so fröhlich und gesellig machte. Man bringe zweihundert Leute zusammen, die so laut reden, daß jede Konversation nur von ihrer kleinen Gruppe vernommen werden kann - diese Musik machten sie!

Also war der Betrieb von Da Vinci ein gelungenes Experiment, trotz des Umstands, daß die Bürger kein Interesse daran zeigten. Andernfalls wären sie nicht so vergnügt gewesen. Vielleicht war es eine gute Strategie, die Regierung zu ignorieren. Vielleicht war eine gute Regierung dadurch definiert, daß man sie ohne Schaden ignorieren konnte, »damit ich endlich an meine eigene Arbeit gehen kann!«, wie ein fröhlich beschwipster vormaliger Chef eines Wassergremiums gerade sagte. Selbstregierung wurde nicht als ein Teil der eigenen Arbeit angesehen!

Obwohl es natürlich Leute gab, denen die Arbeit wirklich gefiel, das Zusammenspiel von Theorie und Praxis, der Disput, das Problemlösen, die Zusammenarbeit mit anderen, der Dienst an anderen als eine Art Geschenk, das endlose Reden, die Macht. Und diese Leute blieben noch, um zwei Amtszeiten zu absolvieren oder drei, sofern man es ihnen gestattete. Und dann übernahmen sie eine andere freiwillige Aufgabe, die sich anbot. Tatsächlich übernahmen die meisten dieser Leute mehr als eine Aufgabe zugleich. Bela zum Beispiel hatte behauptet, daß ihm die Leitung des Labors der Labore nicht gefiele; aber jetzt trat er direkt der freiwilligen Beratungsgruppe bei, in der immer die Gefahr bestand, daß einige Stellen unbesetzt blieben. Sax ging zu ihm hinüber.

»Würdest du Aonia beipflichten, daß Freier Mars eine dominierende globale Politik darstellt?«

»O gewiß, ohne Zweifel. Die sind einfach so groß. Und sie haben die ökologischen Gerichtshöfe im Griff und so einiges in ihrem Sinne hingekriegt. Ich denke, sie wollen alle neuen Asteroidenkolonien kontrollieren. Und im übrigen auch die Erde erobern. Alle politisch ehrgeizigen jungen Eingeborenen treten der Partei bei, wie Bienen sich der Blüte nähern.«

»Versuchen, andere Siedlungen zu dominieren... «

»Ja?«

»Das klingt nach Ärger.«

»Allerdings.«

»Hast du von dieser leichtgewichtigen Fusionsmaschine gehört, über die sie reden?«

»Ja, flüchtig.«

»Du solltest dich etwas mehr darum kümmern. Falls wir derartige Motoren in Raumschiffe montieren könnten... «

»Ja, Sax?«

»Ein so schneller Transport könnte die Vorherrschaft jeder anderen Partei knacken.«

»Meinst du?«

»Nun, es würde eine schwer zu kontrollierende Lage ergeben.«

»Ja, das nehme ich an. Hmm - gut, ich muß darüber nachdenken.«

»Jawohl. Denk daran: Wissenschaft ist Politik mit anderen Mitteln.«

»Allerdings, ganz gewiß.« Und Bela ging wieder zu den Bierkrügen, murmelte vor sich hin und begrüßte dann eine andere Gruppe, die sich ihm näherte.

So kam spontan jene bürokratische Klasse zum Vorschein, die der Schrecken so vieler Theoretiker gewesen war. Die Experten, die die Politik kontrollierten und vermutlich nie wieder loslassen würden. Aber wem sollten sie die auch hinterlassen? Wer sonst wollte sie haben? Niemand, soweit Sax sehen konnte. Bela konnte für immer im Beratungsausschuß bleiben, sollte er Lust dazu haben. Experte kommt vom lateinischen experiri, versuchen. Wie im Wort Experiment. Also handelte es sich um eine Regierung durch die Experimentatoren. Versuch durch die Versucher. Tatsächlich Regierung durch die daran Interessierten. Also eine weitere Art von Oligarchie, der Herrschaft weniger. Hatten sie aber eine andere Wahl? Wenn man Mitglieder in die regierende Körperschaft einberufen mußte, dann wurde der Begriff der Selbstherrschaft als Aspekt einer liberaler Regierungsform irgendwie widersprüchlich.

Hector und Sylvia, aus Baos Seminar, platzten in Saxens Träumerei und luden ihn ein, herunterzukommen und ihre Musikgruppe mit einer Auswahl von Liedern aus Maria dos Buenos Aires anzuhören. Sax sagte zu und folgte ihnen.

Außerhalb des kleinen Amphitheaters, wo die Darbietung stattfinden sollte, hielt Sax an einer Theke an und spendierte noch eine kleine Tasse Kava. Die Stimmung des Festivals stieg rund um sie an. Hector und Sylvia eilten nach unten, um sich vorzubereiten. Sie fieberten vor Erwartung. Sax beobachtete sie und erinnerte sich an seine kürzliche Begegnung mit Ann. Hätte er nur nachdenken können! Er war ja völlig unlogisch gewesen! Hätte er nur daran gedacht, wieder Stephen Lindblom zu werden, vielleicht hätte das geholfen. Wo war Ann jetzt, was dachte sie? Wanderte sie nur über die Oberfläche des Mars wie ein Geist, von einer Roten Station zur anderen? Was machten die Roten jetzt, wie lebten sie? Hatten sie vorgehabt, Da Vinci zu bombardieren, und hatte diese zufällige Begegnung einen Überfall aufgehalten? Nein, nein. Da draußen gab es immer noch Saboteure, die die Projekte störten. Aber innerhalb der legalen Grenzen des Terraformens hatten die meisten Roten irgendwie wieder in die Gesellschaft zurückgefunden. Unter den übrigen gab es eine politische Hauptrichtung, wachsam, leicht streitsüchtig und tatsächlich mehr an politischer Arbeit interessiert als die im Schnitt weniger ideologischen Normalbürger. Aber trotzdem durch gerade diese Tendenz normalisiert. Wo würde Ann hineinpassen? Mit wem tat sie sich zusammen?

Er brauchte sie nur anzurufen und fragen.

Aber er scheute sich davor. Er fürchtete sich, mit ihr zu sprechen! Zumindest über das Handgelenk. Und offenbar auch persönlich. Sie hatte nicht gesagt, was sie davon hielt, daß er ihr gegen ihren Willen die Behandlung verpaßt hatte. Kein Dank, kein Fluch. Nichts. Was dachte sie wohl?

Er seufzte und trank von seinem Kava. Da unten fingen sie an. Hector sang ein Rezitativ auf spanisch. Seine Stimme war so musikalisch und ausdrucksvoll, daß es fast war, als ob Sax ihn nur durch seine Stimme allein verstehen könnte.

Ann, Ann, Ann. Dieses quälende Interesse an den Gedanken eines anderen war so lästig. Viel leichter war es, sich auf den Planeten zu konzentrieren, auf Steine und Luft, auf die Biologie. Das war eine Beschäftigung, die Ann selbst verstehen würde. Und die Ökopoesis hatte etwas fundamental Fesselndes an sich. Die Geburt einer Welt. Außerhalb ihrer Kontrolle. Dennoch fragte er sich, was sie daraus machte. Vielleicht würde er ihr wieder zufällig begegnen.

 

Inzwischen - die Welt. Er ging wieder zu ihr hinaus. Zerknittertes Land unter der blauen Kuppel des Himmels. Der gewöhnliche Himmel änderte im Frühling am Äquator seine Farbe von Tag zu Tag. Man brauchte eine Farbskala, um die Farbtöne auch nur näherungsweise zu bestimmen. An manchen Tagen war es tief violettblau, clematisblau, hyazinthenblau oder lapislazuli oder leicht purpurnes Indigo. Oder preußischblau, ein Pigment, das aus Cyaneisenverbindungen gemacht wurde - interessant, weil es da oben sicher viel eisenhaltiges Material gab. Eisenblau. Ein wenig mehr purpurn als der Himmel des Himalaya, wie man ihn auf Fotografien sieht oder auch der Himmel der Erde in so großen Höhen. Und in Verbindung mit dem felsigen Gelände sah es aus wie eine Landschaft in großer Höhe. Alles. Die Himmelsfarbe, der zerknitterte Fels, die kalte dünne Luft, die so rein und ruhig war. Alles war so hoch. Sax ging gegen den Wind, quer zum Wind oder mit dem Wind im Rücken und fühlte sich jedesmal anders. In seinen Nasenlöchern war der Wind leicht berauschend und überflutete ihm das Hirn. Er trat von Stein zu Stein auf von Flechten überkrustete Blöcke, als ob er auf einem privaten Fußweg wandelte, der magisch aus dem zerklüfteten Land auftauchte, auf und ab, jeder Schritt bloß ein Schritt, achtsam in Wahrnehmung des Augenblicks wandernd. Vom einem Moment zum nächsten und dann zum folgenden, jeder einzeln für sich, wie Baos Schleifen in der Raumzeit, wie die aufeinanderfolgenden Haltungen des Kopfs eines Finken und der kleinen Vögel, die von einer gequantelten Pose zur nächsten hüpften. Bei genauem Hinsehen schien es, als ob die Momente nicht regelmäßige Einheiten wären, sondern in ihrer Dauer verschieden, je nachdem, was in ihnen geschah. Der Wind ließ nach, keine Vögel in Sicht. Alles plötzlich still, bis auf das Summen der Insekten. Solche Augenblicke konnten manchmal mehrere Sekunden dauern. Wenn dagegen Sperlinge mit eine Krähe zankten, waren die Momente fast instantan. Man mußte genau hinsehen. Manchmal war es ein Fluß, manchmal das Platschen individueller Ruhepausen.

Erkenntnis. Es gab unterschiedliche Wege zur Erkenntnis. Aber keiner von ihnen war, wie Sax entschied, so befriedigend wie die direkte Sinneswahrnehmung. Hier draußen im strahlenden Frühlingslicht und dem kalten Wind kam er an den Rand einer Klippe und schaute hinab auf die ultramarine Fläche des Simud-Fjords, versilbert durch Myriaden Lichtsplitter, die vom Wasser blitzten. Die Klippen auf der anderen Seite waren Bänder aus Bodenschichten durchzogen, von denen einige zu grünen Leisten im Basalt geworden waren. Möwen, Papageientaucher, Seeschwalben, Lummen, Fischadler - alle wirbelten in den Luftstrudeln unter ihm auf und ab.

 

Während er die verschiedenen Fjorde erkundete, entdeckte er seinen Favoriten. Florentine, ein hübsches Oval aus Wasser direkt südöstlich von Da Vinci.

Ein Spaziergang auf den darüber liegenden niedrigen Küstenfelsen war immer malerisch. Auf Steinen wuchs dickes mattenartiges Gras. Es sah so aus, wie Sax sich die irische Küste vorstellte. Die Ecken des Landes wurden weich, als Humus und pflanzliches Leben die Spalten auszufüllen begann und sich an Hänge klammerte, die dem Schüttungswinkel trotzten, so daß man über Polster schritt, die zwischen den scharfen Zähnen noch kahler Felsen hochquollen.

Von der See her strömten Wolken gen Norden, und es regnete in gleichmäßig wiederkehrenden Sintfluten, die alles durchtränkten. Am Tag nach einem solchen Sturm dampfte die Luft, das Land gurgelte und tropfte, und bei jedem Schritt, der keinen festen Stein traf, quietschte Heide, Moor, Sumpf. Knorrige kleine Wälder in den tiefen Gräben. Aus dem Augenwinkel war ein schneller brauner Fuchs zu sehen, der hinter einen Wacholder flitzte. Vor ihm auf der Flucht, vor etwas anderem? Nicht festzustellen. Das war seine persönliche Angelegenheit. Wellen, die an die Meeresklippen stießen und zurückschlugen, bildeten mit den ankommenden Wellen Interferenzmuster, wie sie direkt aus einem physikalischen Wellentank kommen könnten. So schön - und so merkwürdig, daß die Welt mit der mathematischen Formulierung so übereinstimmte. Die irrationale Wirksamkeit der Mathematik steckte im Herzen des großen Unerklärbaren.

Jeder Sonnenuntergang war anders infolge der Schwebeteilchen in der oberen Atmosphäre. Sie stiegen so hoch auf, daß sie oft von der Sonne bestrahlt wurden, wenn bereits alles andere im großen Schatten der Dämmerung lag. Sax saß oft auf der westlichen Meeresklippe, hingerissen durch den Sonnenuntergang. Und dann blieb er während der Stunde der Dämmerung da und beobachtete, wie sich die Farben des Himmels änderten, wenn der Schatten des Planeten aufstieg, bis der ganze Himmel schwarz war. Danach erschienen bisweilen leuchtende Nachtwolken, dreißig Kilometer .über dem Planeten schwebende breite Streifen, die wie Perlmuttschalen schimmerten.

Der zinnfarbene Himmel eines dunstigen Tages. Der blumige Sonnenuntergang in voller Pracht. Die Wärme der Sonne auf der Haut, friedvoll an einem windstillen späten Nachmittag. Die Wellenmuster unten auf dem Meer. Das Gefühl des Windes und sein Anblick.

Aber einmal, inmitten einer Indigodämmerung unter der funkelnden Schar dicker unscharfer Sterne, wurde ihm unbehaglich. »Die schneeigen Pole des mondlosen Mars«, hatte Tennyson gerade ein paar Jahre vor deren Entdeckung geschrieben. Mondloser Mars. Es war in dieser Stunde gewesen, an der Phobos wie ein Leuchtfeuer über dem westlichen Horizont heraufgeschossen war. Ein Moment von Areophanie, wenn es je eine gegeben hatte. Furcht und Schrecken. Und er, Sax, hatte selbst die Entfernung der Satelliten vollendet. Sie hätten jede auf Deimos errichtete Militärbasis hochjagen können. Was hatte er gedacht? Er konnte sich nicht entsinnen. Ein gewisses Verlangen nach Symmetrie - runter, rauf. Aber Symmetrie war vielleicht eine Eigenschaft, die von Mathematikern mehr geschätzt wurde als von den übrigen Menschen. Hinauf. Irgendwo kreiste Deimos immer noch um die Sonne. »Hmm.« Er schaute auf sein Handgelenk. Eine Menge neuer Kolonien entstanden da draußen. Die Menschen höhlten Asteroiden aus und versetzten sie dann in Rotation, um in ihrem Innern eine Schwerewirkung zu erzielen und dann einzuziehen. Neue Welten.

Ein Wort fiel ihm ins Auge: Pseudophobos. Er schaute nach und las: Inoffizieller Name eines Asteroiden, der dem verlorenen Mond irgendwie nach Größe und Gestalt ähnelte. »Hmmm.« Sax tastete weiter und bekam ein Foto. Nun, die Ähnlichkeit war oberflächlich. Ein dreiachsiges Ellipsoid - aber waren das nicht alle? Die Form einer Kartoffel, die richtige Größe, an einem Ende hart verbeult, ein Krater wie Stickney. Es hatte darin eine hübsche kleine Siedlung dieses Namens gegeben. Was bedeutet ein Name? Man sagt, sie hätten das Pseudo fallen lassen. Einige Massenantriebe und Computer, ein Paar seitliche Düsen... der besondere Moment, da Phobos über den westlichen Horizont emporgeschossen war. »Hmmmmm«, brummte Sax.

 

Tage und Jahreszeiten vergingen. Sax betrieb Feldstudien und Meteorologie. Die Einwirkung atmosphärischen Drucks auf die Wolkenbildung. Das bedeutete Fahrten rund um die Halbinsel, dann ein Marsch, dann hinaus mit den Ballons und Drachen. Wetterballons waren elegante Gebilde. Instrumentenpackungen von weniger als zehn Gramm wurden von einer sechs Meter großen Hülle emporgehoben und waren so imstande, bis in die Exosphäre aufzusteigen.

Sax hatte seinen Spaß, wenn er die Hülle auf einem glatten Stück Sand oder Gras herrichtete, das obere Ende windabwärts von ihm, sich dann hinsetzte und die feine empfindliche Nutzlast in den Fingern hielt und danach den Hahn drehte, dekomprimierten Wasserstoff in den Ballon jagte, und dann zusah, wie er sich füllte und in den Himmel schnellte. Wenn er festhielt, wurde er fast auf die Füße gerissen und würde ohne Handschuhe an der Leine Schnitte in der Hand erleiden, wie er schnell gelernt hatte. Dann loslassen, wieder auf den Sand plumpsen und zusehen, wie der runde rote Fleck durch den Wind in die Höhe flatterte, bis er erst klein wie eine Nadelspitze und nicht mehr zu sehen war. Das geschah bei rund tausend Metern, je nach dem Dunst in der Luft. Einmal war es bereits bei nur 479 Metern passiert und einmal, an einem sehr klaren Tage, erst in 1352 Metern. Danach las er dann einige der Daten auf seinem Handgelenk ab und saß in der Sonne mit dem Gefühl, daß ein kleines Stück von ihm in den Raum hinaufsegelte. Seltsam, was einem Freude bereitete.

Die Drachen waren genauso schön. Sie waren etwas komplexer als die Ballons, aber im Herbst ein besonderes Vergnügen, wenn die Monsune jeden Tag stark und gleichmäßig bliesen. Man ging zu einer Meeresklippe im Westen hinaus, lief kurz gegen den Wind und brachte den Drachen in die Luft. Ein großer orangefarbener Kastendrache, der hin und her zuckte. Wenn er dann in den gleichmäßigeren Wind aufstieg, stabilisierte er sich; und Sax spulte ihn ab, wobei er die Verschiebungen des Windes als feines Zittern in den Armen fühlte. Oder aber er klemmte einen Spulenstab in eine Spalte, löste den Widerstand und beobachtete den Drachen, wie er hochstieg und davon flog. Die Leine war fast unsichtbar. Wenn die Spule abgelaufen war, summte die Leine; und wenn er sie zwischen die Finger nahm, teilten sich ihm die Schwankungen des Windes wie eine Art Musik mit. Der Drache blieb Wochen hintereinander oben - außer Sicht oder, wenn er tief genug gehalten wurde, eben noch erkennbar als winziger Fleck am Himmel. Während der ganzen Zeit sendete er Daten. Ein quadratischer Gegenstand war auf größere Entfernung besser zu sehen als ein runder der gleichen Fläche. Sein Kopf war ein drolliges Tier.

Michel rief an, ohne über etwas Besonderes zu sprechen. Das war für Sax die anstrengendste Konversation überhaupt. Das Bild Michels blickte nach unten und rechts, und wenn er sprach, wurde deutlich, daß seine Gedanken woanders waren, daß er unglücklich war und daß Sax irgendwie die Führung übernehmen mußte.

»Komm zu Besuch und mach mit mir einen Spaziergang!« sagte Sax wieder. »Ich meine, das solltest du wirklich tun.« Wie konnte er das noch betonen? »Ich denke wirklich, das solltest du machen.« Dinge verbinden. »Da Vinci ist wie die Westküste Irlands. Das Ende von Europa, lauter grüne Klippen über einer großen Wasserfläche.«

Michel nickte unsicher.

Dann war er ein paar Wochen später da und ging durch eine Halle in Da Vinci. »Ich würde ganz gern das Ende von Europa sehen.«

»Braver Bursche.«

So machten sie zusammen einen Tagesausflug. Sax fuhr ihn bis westlich der Shalbatana-Klippen. Dann stiegen sie aus und wanderten nach Norden auf Simshai Point zu. Es war ein großes Vergnügen, den alten Freund in dieser schönen Gegend bei sich zu haben. Der Anblick eines jeden der Ersten Hundert war eine willkommene Unterbrechung in seiner Routine, ein seltenes Ereignis, das er schätzte. Die Wochen pflegten in ihrer behaglichen Ruhe zu vergehen, und dann erschien plötzlich einer der alten Familie, und es war wie eine Heimkehr ohne Heim, das ihn auf den Gedanken brachte, er sollte vielleicht eines Tages nach Sabishii oder Odessa ziehen, so daß er ein so wundervolles Gefühl öfter erleben könnte.

Und am besten gefiel ihm die Gesellschaft von Michel. Obwohl Michel an diesem Tag zerstreut und anscheinend bekümmert hinterher ging. Sax bemerkte das und überlegte, was er tun konnte, um ihm zu helfen. Michel hatte ihm in den langen Wochen seiner Rückkehr zur Sprache so, viel Hilfe erwiesen, hatte ihn gelehrt, wieder zu denken und alles anders zu sehen. Es wäre schön, wenn er etwas tun könnte, um dieses Geschenk, wenigstens teilweise, zu entgelten.

Nun, das würde nur geschehen, wenn er etwas tat. Darum gab er, nachdem sie angehalten hatten und Sax den Drachen herausgeholt und zusammengesetzt hatte, Michel die Spule.

»Hier!« sagte er. »Ich werde den Drachen bereithalten. Du läufst und spulst sie ab. Dorthin, gegen den Wind.« Und er hielt den Drachen, während Michel über die grasbewachsenen Hügel ging, bis die Leine straff war. Sax ließ den Drachen los, als Michel zu laufen anfing; und dahin ging er, immer höher und höher.

Michel kam grinsend zurück. »Hier, faß die Leine an! Du kannst den Wind spüren.«

»Ah!« sagte Sax. »So geht das.« Und die fast unsichtbare Leine brummte zwischen seinen Fingern.

Sie setzten sich hin, öffneten Saxens Korb und holten das von ihm zusammengepackte Picknick heraus. Michel wurde mit einemmal wieder ganz still.

Sax fragte, während sie aßen, beiläufig: »Macht dir etwas Sorgen?«

Michel schwenkte ein Stück Brot, schluckte und sagte: »Ich denke, ich werde wieder in die Provence zurückkehren.«

»Endgültig?« fragte Sax schockiert.

Michel runzelte die Stirn. »Nicht unbedingt. Aber zu einem Besuch. Ich fing gerade an, meinen letzten Besuch dort zu genießen, als wir abreisen mußten.«

»Auf der Erde ist es nicht einfach.«

»Stimmt. Aber ich fand die Anpassung erstaunlich problemlos.«

»Hmm.« Sax hatte die Rückkehr in die Erdschwere nicht gefallen. Die Evolution hatte gewiß ihre Körper darauf eingestellt; und er war sicher, daß ein Leben bei 0,38 Ge allerhand medizinische Probleme schuf. Aber er war jetzt an das Gefühl der Marsschwere so sehr gewöhnt, daß er sie niemals mehr bemerkte. Und falls doch, dann war es ein gutes Gefühl.

»Ohne Maya?« fragte er.

»Ich nehme an, daß es sein muß. Sie will nicht gehen. Sie sagte, sie würde eines Tages mitkommen, aber es heißt immer: später, später. Sie arbeitet für die Koop-Kreditbank in Sabishii und hält sich für unentbehrlich. Nun, das ist nicht fair. Sie will einfach nichts davon vermissen.«

»Kannst du nicht da, wo du lebst, eine Art von Provence schaffen? Einen Olivenhain pflanzen?«

»Das ist nicht dasselbe.«

»Gewiß, aber...«

Sax wußte nicht, was er sagen sollte. Er fühlte kein Heimweh nach der Erde. Was das Leben mit Maya anging, so konnte er es sich nur wie das Leben in einer beschädigten unberechenbaren Zentrifuge vorstellen. Der Effekt würde ziemlich der gleiche sein. Daher vielleicht Michels Verlangen nach festem Boden, nach dem Kontakt mit der Erde.

»Du solltest gehen«, sagte Sax. »Aber warte noch ein wenig! Wenn sie diesen gepulsten Antrieb auf den Raumschiffen bekommen, könntest du sehr rasch dort sein.«

»Aber das könnte echte Probleme mit der Erdenschwere bewirken. Ich denke, man braucht die Monate der Reise, um sich darauf vorzubereiten.«

Sax nickte. »Was du brauchtest, ist eine Art Exoskelett. Du würdest dich darin etwas gestützt fühlen - vielleicht wie bei einem geringeren Ge. Diese neuen Vogelanzüge, von denen ich gehört habe, müssen die Fähigkeit haben, sich zu etwas wie ein Exoskelett zu versteifen, sonst würde man nie die Flügel in Position halten können.«

»Ein sich ständig verlagernder Rückenschild aus Carbonfasern«, erwiderte Michel lächelnd. »Eine fliegende Schale.«

»Ja. Du könntest imstande sein, so etwas zu tragen, um damit umherzugehen. Das wäre nicht so schlimm.«

»Also erst ziehen wir auf den Mars, wie du sagst, wo wir hundert Jahre lang Schutzanzüge tragen müssen. Und wenn wir dann alles soweit verändert haben, daß wir draußen in der Sonne sitzen können, ohne uns den Arsch abzufrieren, dann ziehen wir wieder auf die Erde, wo wir wieder hundert Jahre lang Schutzanzüge tragen müssen.«

»Oder für immer danach«, sagte Sax. »Ja. Du hast recht.«

Michel lachte. »Nun, vielleicht werde ich dann gehen. Wenn es so wird.« Er schüttelte den Kopf. »Eines Tages werden wir alles tun können, was wir wollen, he?«

Die Sonne stach auf sie herunter. Der Wind raschelte über die Grashalme. Jeder Halm hatte einen grünen Lichtstreifen. Michel redete einige Zeit über Maya, erst jammerte er, dann übte er Rücksicht und dann zählte er ihre guten Eigenschaften auf, die sie unentbehrlich und zur Quelle aller Erregung im Leben machten. Sax nickte brav bei jeder Äußerung, ganz gleich, wie sehr sie der zuvor gekommenen widersprach. Es kam ihm vor, als ob er einem Rauschgiftsüchtigen lauschte. Aber so waren die Menschen nun einmal, und er war selbst nicht weit von solchen Widersprüchen entfernt.

Nachdem sich das Schweigen hingezogen hatte, sagte Sax: »Was glaubst du, wie Ann jetzt diese Art Landschaft sieht?«

Michel zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht. Ich habe sie seit Jahren nicht gesehen.«

»Hat sie nicht die Behandlung für Gehirnplastizität bekommen?«

»Nein. Sie ist stur, nicht wahr? Sie will sie selbst bleiben. Aber ich fürchte, in dieser Welt... «

Sax nickte. Wenn man alle Lebenszeichen in der Landschaft als Verunreinigungen ansah, als einen schrecklichen Schimmel, der die reine Schönheit der mineralischen Welt überzog, dann wäre auch das Sauerstoffblau des Himmels betroffen. Es würde einen verrückt machen. Selbst Michel dachte so: »Ich fürchte, sie wird nie geistig gesund sein, nicht wirklich.«

»Ich weiß.«

Andererseits - wer waren sie, daß sie so redeten? War Michel verrückt, weil er von einer Gegend auf einem anderen Planeten fasziniert war oder verliebt in eine sehr schwierige Person? War Sax verrückt, weil er nicht mehr gut sprechen konnte und Schwierigkeiten mit allerhand geistigen Operationen hatte, als Ergebnis eines Schlags und experimentellen Heilungsversuchs? Er glaubte nein, in beiden Fällen. Aber er glaubte fest, daß er durch Hiroko aus einem Sturm gerettet wurde, ganz gleich, was Desmond sagte. Man könnte das als ein Zeichen von - na ja - rein mentalen Ereignissen interpretieren, die eine äußere Realität zu haben schienen. Das wurde oft als ein Symptom von Verrücktheit zitiert, wie sich Sax erinnerte. »Wie jene Leute, die glauben, Hiroko gesehen zu haben«, murmelte er vage, um zu sehen, was Michel sagen würde.

»Ach ja«, sagte Michel. »Magisches Denken ist eine sehr hartnäckige Form des Denkens. Laß dich nie durch deinen Rationalismus blind machen gegenüber der Tatsache, daß unser meistes Denken magischen Charakter hat. Und daß es so oft archetypischen Mustern folgt, wie in Hirokos Fall, der wie die Geschichte von Persephone oder Christus ist. Ich nehme an, wenn jemand auf diese Art stirbt, dann ist der Schock des Verlustes fast unerträglich; und dann erfordert es nur einen trauernden Freund oder Jünger, um vom Verlust der Gegenwart einer Person zu träumen und dann aufzuwachen mit dem Schrei, sie gesehen zu haben. Und binnen einer Woche ist dann jeder überzeugt davon, daß der Prophet wieder da und überhaupt niemals gestorben ist. Und so ist es mit Hiroko, die regelmäßig gesichtet wird.«

Ich habe sie aber wirklich gesehen, wollte Sax sagen. Sie hat meine Hand gepackt.

Aber dennoch war er tief verwirrt. Michels Erklärung ergab Sinn. Und sie paßte sehr gut zu der von Desmond. Diese Männer vermißten Hiroko beide sehr, wie Sax annahm, und waren trotzdem mit der Tatsache ihres Verschwindens und deren wahrscheinlichster Erklärung konfrontiert. Und ungewöhnliche mentale Ereignisse konnten in überaus verständlicher Weise im Streß einer physischen Krise auftreten. Vielleicht hatte er halluziniert. Aber nein - das stimmte nicht. Er konnte sich genau erinnern, wie es geschah, lebendig in jedem Detail!

Aber er stellte fest, daß es ein Fragment war, so wie man sich im Wachen an das Fragment eines Traums erinnert, während sich alles andere mit einem fast greifbaren Strahl wie etwas Glitschiges und schwer Faßbares dem Zugriff entzieht. Zum Beispiel konnte er sich nicht richtig erinnern, was unmittelbar vor Hirokos Erscheinung geschehen war oder danach. Keine Details.

Er schlug nervös die Zähne aufeinander. Es gab offensichtlich alle Arten von Wahnsinn. Ann wanderte für sich allein durch die alte Welt; die übrigen von ihnen stolperten in der neuen Welt herum wie Gespenster, bemüht, das eine oder andere Leben zu konstruieren. Vielleicht stimmte das, was Michel sagte, daß sie nämlich mit ihrer Langlebigkeit nicht zurecht kamen, und daß sie weder wußten, was sie mit ihrer Zeit anfangen sollten noch, wie man ein Leben aufbaute.

Nun gut - ruhig. Hier waren sie und saßen auf den Meeresklippen von Da Vinci. Es war nicht nötig, sich mit diesen Dingen zu überarbeiten, nicht wirklich. Wie Nanao gesagt hätte: Was fehlt denn jetzt? Sie hatten gut gefrühstückt, waren satt, ihren Durst gelöscht, saßen draußen in Sonne und Wind und sahen zu, wie ein Drache hoch oben in das dunkle Samtblau aufstieg. Alte Freunde, die sich plaudernd auf dem Gras niedergelassen hatten. Was fehlte da jetzt? Seelenfrieden? Nanao hätte gelacht. Die Anwesenheit anderer alter Freunde? Nun, dafür würde es andere Tage geben. Jetzt, in diesem Moment, waren sie zwei alte Waffenbrüder, die auf einer Meeresklippe saßen. Nach all den Jahren des Kampfes konnten sie hier den ganzen Nachmittag sitzen, wenn sie wollten, einen Drachen steigen lassen und reden. Über ihre alten Freunde und das Wetter sprechen. Es hatte eine Menge Ärger gegeben, es würde wieder Ärger geben. Aber jetzt waren sie hier.

»Wie würde John das alles gefallen haben.« sagte Sax zögernd. Es war so schwer, von diesen Dingen zu sprechen. »Ich frage mich, ob er es geschafft hätte, daß Ann sich das ansieht. Nicht so, wie ich das sehe. Es ist einfach, es zu sehen, als wäre es etwas Gutes. Sehen, wie schön es auf seine eigene Art ist. An und für sich und die Art, wie es sich selbst organisiert. Wir versuchen jetzt, es in die eine oder andere Richtung zu drängen, aber die gesamte Biosphäre - organisiert sich selbst. Daran ist nichts unnatürlich.«

»Nun...«, wandte Michel ein.

»Das ist es nicht! Wir können herumfummeln, wie wir wollen. Wir sind aber nur wie der Zauberlehrling. Es hat alles ein eigenes Leben angenommen.«

»Aber das Leben, das es zuvor hatte. Das ist es, was Ann so verehrt. Das Leben der Felsen und des Eises.«

»Leben?« fragte Sax.

»Irgendeine Art träger mineralischer Existenz. Nenne es, wie du willst. Eine Areophanie in Stein. Übrigens, wer sagt, daß diese Steine nicht ihre eigene Art langsamen Bewußtseins haben?«

»Ich denke, Bewußtsein hat mit Gehirn zu tun«, erwiderte Sax steif.

»Vielleicht, aber wer kann das sagen? Und wenn nicht Bewußtsein so, wie wir es definieren, dann zumindest Existenz. Ein Wert an sich, einfach, weil etwas existiert.«

»Das ist ein Wert, den es noch hat.« Sax hob einen Stein von der Größe eines Baseballs auf. Breccienartiger Auswurf, dem Aussehen nach zu urteilen. Ein Schotterkegel. So alltäglich wie Dreck, sogar eigentlich noch häufiger als Dreck. Er betrachtete ihn genau. Hallo, Stein! Was denkst du? »Ich meine, das ist doch alles noch hier.«

»Aber es ist nicht dasselbe.«

»Nichts ist immer dasselbe. Von Moment zu Moment ändert sich alles. Was mineralisches Bewußtsein angeht, so ist das für mich zu mystisch. Nicht, daß ich grundsätzlich ein Gegner allen Mystizismus wäre, aber dennoch... «

Michel lachte. »Sax, du hast dich mächtig verändert, bist aber immer noch Sax.«

»Das möchte ich auch hoffen. Aber ich glaube, daß Ann auch keine Mystikerin ist.«

»Was dann?«

»Ich weiß nicht. Ich weiß nicht. Eine so... so reine Wissenschaftlerin, daß sie es nicht verträgt, wenn die Daten verunreinigt werden? Ich nehme an, das ist eine etwas komische Art, es zu formulieren. Eine Scheu vor den Phänomenen. Weißt du, was ich damit meine? Verehrung dessen, was ist. Damit leben und es verehren, aber nicht versuchen, es zu verändern und zu beschmutzen, zu zerstören. Ich weiß nicht. Aber ich möchte wissen.«

»Du willst immer wissen.«

»Richtig. Aber dies möchte ich mehr wissen als die meisten anderen Dinge. Mehr als alles, das ich mir ausdenken kann. Gewiß!«

»Ach, Sax! Ich verlange nach der Provence, du verlangst nach Ann.« Michel grinste. »Wir sind beide verrückt! «

Sie lachten. Photonen regneten auf ihre Haut. Das meiste Licht schoß durch sie hindurch. Hier waren sie, transparent für die Welt.