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Mein literarisches Debüt bestand die Feuertaufe, und Don Basilio hielt Wort und gab mir die Chance, zwei weitere Erzählungen ähnlicher Art zu publizieren. Bald beschloss die Chefredaktion, meinem strahlenden Talent allwöchentlich Raum zur Entfaltung zu geben, vorausgesetzt, ich käme weiterhin pünktlich und zum selben Entgelt meinen Redaktionsverpflichtungen nach. Berauscht von Eitelkeit und Erschöpfung, verbrachte ich den Tag mit dem Umschreiben von Texten meiner Kollegen und dem hastigen Abfassen zahlloser Schreckensmeldungen, um danach die Nacht für mich zu haben. Mutterseelenallein im Redaktionssaal verfasste ich eine operettenhafte Abenteuerserie, die mir schon lange im Kopf herumging und die eine schamlose Kreuzung zwischen Dumas, Sue, Féval und Stoker darstellte: Die Geheimnisse von Barcelona lautete ihr Titel. Ich schlief täglich etwa drei Stunden und sah aus, als hätte ich das in einem Sarg getan. Diesen Hunger, der nichts mit dem Magen zu tun hat, sondern einen von innen her auffrisst, hatte Vidal nie gekannt, und er fand, ich verbrenne mir das Hirn und würde, wenn ich so weitermache, noch vor meinem zwanzigsten Geburtstag meine eigene Beerdigung feiern. Don Basilio, den mein Fleiß nicht störte, hatte andere Vorbehalte. Er druckte jedes Kapitel nur zähneknirschend ab, ärgerlich über das, wie er fand, Übermaß an krankhafter Phantasie und die unglückselige Vernachlässigung meines Talents zugunsten von Themen und Inhalten zweifelhaften Geschmacks.

Bald gebaren Die Geheimnisse von Barcelona einen kleinen Star des Fortsetzungsromans, eine Heldin, die ich mir ausgemalt hatte, wie man sich eine Femme fatale nur mit siebzehn Jahren ausmalen kann. Chloé Permanyer war die dunkle Fürstin der Vampire. Ihre Intelligenz war enorm und nur ihre Hinterlist größer, sie trug stets die revolutionärsten und teuersten Dessous und fungierte als Geliebte und linke Hand des geheimnisvollen Baltasar Morel. Dieser Morel war der Kopf der Unterwelt und wohnte in einer unterirdischen, von Automaten und makabren Reliquien bevölkerten Villa, deren geheimer Zugang sich in den Tunnels unter den Katakomben des Barrio Gótico befand. Chloés Lieblingsmethode, ihren Opfern den Garaus zu machen, bestand darin, sie durch einen hypnotischen Schleiertanz zu bezirzen und dann mit einem vergifteten Lippenstift zu küssen, der, während sie ihren Opfern in die Augen schaute, sämtliche Muskeln ihres Körpers lähmte und sie dann lautlos ersticken ließ – sie selbst schluckte vorher ein in Dom Pérignon Grand Cru aufgelöstes Gegengift. Chloé und Baltasar hatten ihren eigenen Ehrenkodex: Sie liquidierten nur Abschaum und befreiten die Welt von Mördern, Geschmeiß, Frömmlern, Fanatikern, dogmatischen Philistern und Kretins aller Art, die diese Welt im Namen von Fahnen, Göttern, Sprachen, Rassen oder anderen Idiotien, mit denen sie ihre Habgier und Schäbigkeit bemäntelten, für alle anderen zu einem Unort machten. Für mich waren die beiden wie alle echten Helden Antihelden. Don Basilio, dessen literarischer Geschmack im Goldenen Zeitalter der spanischen Dichtung stecken geblieben war, hielt das Ganze für einen Riesenunsinn, aber da die Geschichten gut aufgenommen wurden und er eine widerwillige Zuneigung für mich empfand, tolerierte er meine Extravaganzen als jugendlichen Überschwang.

»Ihr Handwerk ist feiner ausgebildet als Ihr Geschmack, Martín. Die Krankheit, unter der Sie leiden, hat einen Namen, und der lautet Grand-Guignol, was für das Drama dasselbe ist wie Syphilis für die Geschlechtsteile. Sie zu bekommen mag ja lustvoll sein, aber von da an geht es nur noch bergab. Sie sollten die Klassiker lesen – oder wenigstens Don Benito Pérez Galdós, um Ihre literarischen Ambitionen zu schärfen.«

»Aber den Lesern gefallen die Erzählungen«, argumentierte ich.

»Das ist nicht Ihr Verdienst. Es ist das Verdienst der Konkurrenz, deren Texte so schlecht und pedantisch sind, dass schon ein Absatz von ihnen genügt, um einen Esel in einen scheintoten Zustand zu überführen. Würden Sie doch verdammt noch mal den Zustand der Reife erreichen und endlich vom Baum der verbotenen Frucht fallen!«

Ich nickte, scheinbar zerknirscht, aber insgeheim hätschelte ich dieses sündige Wort, Grand-Guignol, und sagte mir, jede Sache, wie unbedeutend sie auch sein mochte, brauche zur Verteidigung ihrer Ehre einen Vorkämpfer.

Schon wollte ich mich für den glücklichsten aller Sterblichen halten, als ich entdeckte, wie sehr es einigen Zeitungskollegen zu schaffen machte, dass der Benjamin und das offizielle Redaktionsmaskottchen seine ersten Schritte in der Welt der Belletristik getan hatte, wo doch ihr eigenes literarisches Streben seit Jahren im Elend eines grauen Limbus daniederlag. Dass die Leser diese bescheidenen Erzählungen verschlangen und mehr schätzten als alle anderen in den letzten zwanzig Jahren erschienenen Zeitungstexte, machte alles nur noch schlimmer. In wenigen Wochen sah ich, wie die, die ich kurz zuvor noch als meine Familie betrachtet hatte, in verletztem Stolz zu feindseligen Richtern wurden, welche mir den Gruß und jedes Wort versagten und entrüstet ihr verschmähtes Talent hinter meinem Rücken an spöttischen und verächtlichen Ausdrücken wetzten. Mein unfassliches Glück wurde mit Pedro Vidals Protektion, der Ignoranz und Dummheit unserer Abonnenten und unter Zuhilfenahme des weitverbreiteten, stets willkommenen nationalen Irrglaubens erklärt, Erfolg im Beruf sei der unwiderlegbare Beweis für Unfähigkeit und mangelnde Verdienste.

In Anbetracht dieser ebenso unerwarteten wie unheilvollen Wendung versuchte mich Vidal aufzumuntern, aber ich ahnte langsam, dass meine Tage in der Redaktion gezählt waren.

»Neid ist die Religion der Mittelmäßigen. Er stärkt sie, entspricht der sie zernagenden Unruhe, verdirbt letzten Endes ihre Seele und gestattet ihnen, die eigene Niedertracht und Gier zu rechtfertigen, bis sie glauben, diese seien Tugenden und die Himmelspforten stünden nur Unglücksraben wie ihnen offen, die durchs Leben ziehen, ohne eine weitere Spur zu hinterlassen als ihre hinterhältigen Bemühungen, all jene zu verachten, auszuschließen oder sogar, wenn möglich, zu vernichten, die durch ihre schiere Existenz ihre seelische und geistige Armut sowie ihre Unentschlossenheit bloßlegen. Selig der, den die Idioten anbellen, denn seine Seele wird ihnen nie gehören.«

»Amen«, pflichtete Don Basilio bei. »Wären Sie nicht reich geboren, hätten Sie Geistlicher werden müssen. Oder Revolutionär. Bei solchen Predigten sinkt selbst ein Bischof reumütig in die Knie.«

»Ja, ja, Sie haben gut lachen«, protestierte ich. »Aber der, den sie nicht riechen können, bin ich.«

Zu der ganzen Palette von Feindschaft und Eifersucht, die mir meine Bemühungen eintrugen, kam noch die triste Wirklichkeit, dass mein Gehalt, obwohl ich mir etwas darauf einbildete, ein Volksschriftsteller zu sein, nur eben ausreichte, um über die Runden zu kommen, mehr Bücher zu kaufen, als ich Zeit zum Lesen hatte, und in einer Pension eine elende Kammer zu mieten. Die Herberge war in einem Seitengässchen der Calle Princesa versteckt und wurde von einer frommen Galicierin geleitet, die auf den Namen Doña Carmen hörte. Doña Carmen forderte Diskretion und wechselte die Laken einmal monatlich, weshalb es für die Bewohner ratsam war, nicht den Versuchungen der Masturbation zu erliegen oder sich in schmutzigen Kleidern ins Bett zu legen. Die Zimmer auf die Anwesenheit weiblicher Personen zu kontrollieren erübrigte sich – selbst unter Todesdrohungen hätte sich keine Frau in Barcelona herabgelassen, dieses Loch zu betreten. Dort lernte ich, dass man im Leben, angefangen bei den Gerüchen, fast alles vergisst und dass, wenn ich in dieser Welt einen Wunsch hatte, es der war, nicht an einem solchen Ort sterben zu müssen. In besonders niedergeschlagenen Momenten, wie sie bei mir die Regel waren, sagte ich mir, außer einer Tuberkulose könne mich nur eines hier wegbringen: die Literatur – und wenn jemand daran zweifle, könne er sich meinetwegen mit einem Bimsstein wo kratzen, mir sei das egal.

Sonntags zur Gottesdienstzeit, wenn Doña Carmen zu ihrem wöchentlichen Rendezvous mit dem Allerhöchsten aufgebrochen war, nutzten die Gäste die Gunst der Stunde und versammelten sich im Zimmer unseres Veteranen, eines armen Schluckers namens Heliodoro, der als junger Mensch gern Matador geworden wäre, es aber nicht weiter als bis zum Stierkampfberichterstatter und Pissoirverantwortlichen auf der Sonnenseite der Plaza Monumental gebracht hatte.

»Die Kunst des Stierkampfes ist tot«, verkündete er immer. »Jetzt ist alles bloß noch das Geschäft von habgierigen Viehhändlern und seelenlosen Toreros. Das Publikum kann nicht unterscheiden zwischen dem Stierkampf für die dumpfen Massen und einer kunstvollen Muleta-Arbeit, die nur noch Sachverständige zu schätzen wissen.«

»Ach, hätte man Sie doch als Matador zugelassen, Don Heliodoro, es wäre alles ganz anders gekommen.«

»In diesem Land haben ja nur Nieten Erfolg.«

»Wem sagen Sie das.«

Auf Don Heliodoros wöchentlichen Sermon folgten die Lustbarkeiten. Am winzigen Fenster des Zimmers aufgereiht wie Schlackwürste, konnten die Insassen das Röcheln einer Bewohnerin des Nachbarhauses namens Marujita verfolgen, die wegen ihrer Scharfzüngigkeit und ihrer üppigen Paprikagestalt den Spitznamen Pfefferschote trug. Sie verdiente ihr Brot mit dem Scheuern einfacher Lokale, aber die Sonn- und Feiertage schenkte sie ihrem Freund, einem Priesterseminaristen, der mit dem Zug inkognito aus Manresa angefahren kam und sich hingebungsvoll dem Studium der Sünde widmete. Als sich meine Wohngenossen eben am Fenster zusammengepfercht hatten, um einen flüchtigen Blick auf Marujitas titanische Hinterbacken zu erhaschen, die sie bei jedem Stoß wie einen Kuchenteig an die Scheibe ihres Kellerfensters klatschen ließ, klingelte es an der Pensionstür. Da sonst niemand öffnen gehen und seinen Aussichtsplatz gefährden mochte, trennte ich mich von der Gruppe und ging zur Tür. Als ich aufmachte, sah ich mich einem ungewohnten und in diesem erbärmlichen Rahmen unwahrscheinlichen Anblick gegenüber. Don Pedro Vidal, wie er leibte, lebte und italienisch gekleidet zu sein liebte, stand lächelnd auf dem Treppenabsatz.

»Es werde Licht«, sagte er und trat ein, ohne meine Einladung abzuwarten.

Er blieb stehen, um sich den Raum anzusehen, der in diesem Loch als Speisesaal und Marktplatz diente, und seufzte angewidert.

»Vielleicht gehen wir besser in mein Zimmer«, schlug ich vor.

Auf dem Weg dorthin gellten die Jubelschreie und Hochrufe meiner Zimmernachbarn zu Ehren von Marujita und ihrer Sexualakrobatik durch die Wände.

»Welch heiterer Ort«, bemerkte Vidal.

»Darf ich Sie in die Präsidentensuite bitten, Don Pedro?«

Wir traten ein, und ich schloss die Tür. Nachdem er mein Zimmer mit einem summarischen Blick bedacht hatte, setzte er sich auf den einzigen vorhandenen Stuhl und sah mich verdrießlich an. Ich konnte mir unschwer vorstellen, welchen Eindruck meine bescheidene Klause in ihm hervorgerufen hatte.

»Wie finden Sie es?«

»Ganz reizend. Ich möchte ebenfalls gleich herziehen.«

Pedro Vidal lebte in der Villa Helius, einem monumentalen Jugendstilkasten mit drei Stockwerken und Turm, der sich an der Kreuzung von Calle Abadesa Olzet und Calle Panamá an die ansteigenden Hügelflanken von Pedralbes schmiegte. Das Haus war ihm vor zehn Jahren von seinem Vater geschenkt worden, in der Hoffnung, sein Sohn würde ein braver Bürger werden und eine Familie gründen, was Vidal schon seit Jahren hinauszögerte. Das Leben hatte ihn mit vielen Talenten gesegnet, darunter dem, seinen Vater mit jeder Geste und jedem Schritt zu enttäuschen und zu verletzen. Den Sohn mit unerwünschten Elementen wie mir sympathisieren zu sehen machte alles noch schlimmer. Ich erinnere mich, wie ich einmal, als ich meinem Mentor einige Unterlagen von der Zeitung nach Hause brachte, in einem der Salons der Villa Helius auf den Patriarchen des Vidal-Clans stieß. Als er mich erblickte, hieß er mich ein Glas Selters und ein sauberes Tuch holen, um ihm einen Fleck vom Revers zu reiben.

»Ich glaube, Sie irren sich, Señor. Ich bin kein Dienstbote.«

Ich erhielt ein Lächeln, das alles auf der Welt an seinen Platz rückte, ohne dass Worte nötig gewesen wären.

»Der sich irrt, bist du, mein Junge. Du bist ein Dienstbote, ob du es weißt oder nicht. Wie heißt du?«

»David Martín, Señor.«

Der Patriarch kostete meinen Namen aus.

»Befolge meinen Rat, David Martín. Verlass dieses Haus und geh dahin zurück, wo du hingehörst. So ersparst du dir und mir viele Probleme.«

Ich gestand es Don Pedro nie, aber ich lief auf der Stelle in die Küche, holte Selters und Lappen und reinigte eine Viertelstunde lang das Jackett des bedeutenden Mannes. Der Schatten des Clans war lang, und wie sehr Don Pedro auch den charmanten Bohémien spielte, sein ganzes Leben war eine Verlängerung der Familienbande. Die Villa Helius lag passenderweise fünf Minuten vom großen väterlichen Anwesen entfernt, das den oberen Abschnitt der Avenida Pearson beherrschte, ein kathedralengleicher Wirrwarr aus Balustraden, Freitreppen und Mansarden, der aus der Ferne auf ganz Barcelona hinabschaute wie ein Kind auf seine verstreuten Spielsachen. Jeden Tag wurden zwei Dienstboten und eine Köchin aus dem großen Hause, wie der väterliche Sitz in der Entourage der Vidals genannt wurde, zur Villa Helius abgesandt, um zu putzen, zu wienern und zu kochen und das Heim meines begüterten Freundes in eine Stätte der Behaglichkeit und des bequemen Vergessens aller lästigen Alltagsangelegenheiten zu verwandeln. Don Pedro Vidal bewegte sich in einem funkelnagelneuen, vom Familienfahrer Manuel Sagnier gelenkten Hispano-Suiza durch die Stadt und war vermutlich in seinem ganzen Leben noch nie in eine Straßenbahn gestiegen. Als Spross aus gutem Hause entging ihm der düster-harsche Charme der billigen Absteigen im damaligen Barcelona.

»Tun Sie sich keinen Zwang an, Don Pedro.«

 

»Das ist ja ein Kerker«, rief er schließlich. »Ich weiß nicht, wie du hier leben kannst.«

»Von meinem Gehalt mit Ach und Krach.«

»Wenn es nötig ist, zahle ich so viel drauf, dass du an einem Ort leben kannst, wo es nicht nach Schwefel und Pisse stinkt.«

»Das kommt gar nicht infrage.«

Vidal seufzte.

»Er ging an seinem Stolz zugrunde und ist elendiglich erstickt. Da hast du sie – deine unentgeltliche Grabinschrift.«

Einige Augenblicke spazierte Vidal wortlos durch den Raum, inspizierte meinen winzigen Schrank, schaute mit angewidertem Gesicht aus dem Fenster, betastete den grünlichen Anstrich der Wände und tippte mit dem Zeigefinger an die nackte Glühbirne an der Decke, wie um sich zu vergewissern, dass alles Schund war.

»Was führt Sie her, Don Pedro? Zu viel frische Luft in Pedralbes?«

»Ich komme nicht von zuhause. Ich komme von der Zeitung.« »Na?«

»Ich war neugierig darauf zu sehen, wo du wohnst, und zudem bringe ich dir etwas mit.«

Er zog ein helles Pergamentkuvert aus der Jacketttasche und reichte es mir.

»Der ist heute in die Redaktion gekommen, zu deinen Händen.«

Ich ergriff den Umschlag und prüfte ihn. Er war mit einem Lacksiegel verschlossen, auf dem man eine geflügelte Figur erkennen konnte. Ein Engel. Sonst trug er nur meinen in erlesener scharlachroter Handschrift hingemalten Namen.

»Von wem ist er?«, fragte ich neugierig.

Vidal zuckte die Schultern.

»Von irgendeinem Bewunderer. Oder einer Bewundererin. Ich weiß es nicht. Mach ihn auf.«

Behutsam öffnete ich ihn und zog ein zusammengefaltetes Blatt heraus, auf dem in derselben Schrift Folgendes zu lesen war:

 

Lieber Freund,

ich erlaube mir, Ihnen zu schreiben, um Ihnen meine Bewunderung zu übermitteln und Sie zum Erfolg zu beglückwünschen, den Sie mit Die Geheimnisse von Barcelona auf den Seiten der Stimme der Industrie in diesen Wochen erzielt haben. Als Leser und Liebhaber guter Literatur entdecke ich mit großem Vergnügen eine neue Stimme voller Talent, Jugend und Verheißung. Erlauben Sie mir also, Sie zum Zeichen meiner Dankbarkeit für die angenehmen Stunden, die mir die Lektüre Ihrer Erzählungen beschert hat, heute Abend um zwölf Uhr in ›Die Träumerei‹ im Raval zu einer kleinen Überraschung einzuladen, die Ihnen hoffentlich zusagt. Man wird Sie erwarten. Herzlich,

A. C.

 

Vidal, der über meine Schulter hinweg mitgelesen hatte, zog erstaunt die Augenbrauen hoch.

 

 

»Interessant«, murmelte er.

»In welcher Beziehung interessant?«, fragte ich. »Was für eine Art Lokal ist ›Die Träumerei‹?«

Vidal nahm eine Zigarette aus seinem Platinetui.

»Doña Carmen gestattet das Rauchen in der Pension nicht«, sagte ich.

»Warum nicht? Verdirbt der Rauch den Kloakenduft?«

Er steckte sich die Zigarette an und genoss sie doppelt, wie man alles Verbotene genießt.

»Hast du einmal eine Frau erkannt, David?«

»Erkannt? Aber sicher. Eine Menge.«

»Ich meine im biblischen Sinne.«

»In der Messe?«

»Nein, im Bett.«

»Aha.«

»Und?«

Tatsächlich hatte ich für einen Mann wie Vidal nicht viel Beeindruckendes zu erzählen. Meine Jugendabenteuer und Liebeleien hatten sich bis dahin durch ihren Anstand und einen bemerkenswerten Mangel an Originalität ausgezeichnet. Mein kurzer Katalog an Schäkereien und in Hauseingängen und dunklen Kinosälen geraubten Küssen konnte keineswegs darauf hoffen, der Aufmerksamkeit dieses Meisters in den Künsten und Kenntnissen von Barcelonas Boudoirs wert zu sein.

»Was hat denn das eine mit dem anderen zu tun?«

Vidal setzte eine Oberlehrermiene auf und hob zu einem seiner Vorträge an.

»In meiner Jugendzeit war es zumindest bei jungen Herren aus besserem Haus wie mir üblich, sich durch eine Frau vom Fach in dieses Gebiet einweihen zu lassen. Als ich in deinem Alter war, brachte mich mein Vater, der Stammgast der besten Etablissements der Stadt war und noch immer ist, an einen Ort namens ›Die Träumerei‹, wenige Meter von dem makabren Palast entfernt, den unser lieber Graf Güell von Gaudi unbedingt nahe den Ramblas gebaut haben wollte. Sag nicht, du hast noch nie von ihm gehört.«

»Vom Grafen oder vom Bordell?«

»Sehr witzig. ›Die Träumerei‹ war ein elegantes Etablissement für eine erlesene Kundschaft mit Geschmack. Eigentlich dachte ich, es sei schon seit Jahren geschlossen, aber offenbar ist das nicht der Fall. Im Gegensatz zur schönen Literatur sind einige Branchen dauernd im Aufwind.«

»Verstehe. Ist das eine Idee von Ihnen? Eine Art Scherz?«

Vidal schüttelte den Kopf.

»Dann also von einem der Redaktionsidioten?«

»Ich höre eine gewisse Feindseligkeit aus deinen Worten heraus, aber ich habe meine Zweifel, ob sich jemand, der als einfacher Soldat im edlen Pressewesen tätig ist, die Honorare eines Lokals wie ›Die Träumerei‹ leisten kann, wenn es denn das ist, das ich in Erinnerung habe.«

»Ist ja auch egal, ich habe nicht vor hinzugehen«, schnaubte ich.

Vidal hob die Brauen.

»Sag jetzt nicht, du seist kein so gottloser Mensch wie ich und wollest reinen Herzens und Unterhöschens ins Hochzeitsbett steigen, eine lautere Seele, deren höchster Wunsch es ist, auf jenen magischen Augenblick zu warten, da dich die echte Liebe die Ekstase von Körper und Seele in vom Heiligen Geist gesegnetem Unisono entdecken und so die Welt mit Kinderchen bevölkern lässt. Kinderchen, die deinen Namen tragen und die Augen ihrer Mutter haben, dieses heiligen Ausbundes an Tugend und Züchtigkeit, an deren Hand du unter dem wohlwollenden Blick des Jesuskindes in den Himmel eintreten wirst.«

»Das wollte ich damit nicht sagen.«

»Da bin ich aber froh, denn es ist möglich – und ich betone: möglich –, dass dieser Augenblick nie kommt, dass du dich nicht verliebst, dass du dich niemandem fürs ganze Leben hingeben willst oder kannst und dass du eines Tages wie ich mit fünfundvierzig merkst, dass du nicht mehr jung bist und es für dich keinen Chor von Cupidos mit Lyren und keinen Teppich aus weißen Rosen vor dem Altar mehr geben wird und dass die einzige Rache, die dir noch bleibt, darin besteht, dem Leben die Wollust des straffen, glühenden Fleisches zu entreißen, eine Lust, die schneller verfliegt als die guten Vorsätze und in dieser schweinischen Welt, in der von der Schönheit bis zur Erinnerung alles verfault, als Einziges dem Himmel nahekommt.«

Zum Zeichen schweigenden Beifalls ließ ich eine feierliche Pause folgen. Vidal war ein begeisterter Opernfreund und hatte sich mit der Zeit Tempi und Deklamation der großen Arien anverwandelt. In der Familienloge des Liceo ließ er kein Stelldichein mit Puccini aus. Ab gesehen von den Unglücklichen, die sich im Olymp zusammendrängten, war er einer der wenigen, welche sich dort überhaupt die Musik anhörten, die er so sehr liebte und die seine Abhandlungen über Gott und die Welt hervorsprudeln ließ, mit denen er meine Ohren manchmal, wie an diesem Tag, beschenkte.

»Und?«, fragte er herausfordernd.

»Dieser letzte Teil kommt mir bekannt vor.«

Ich hatte ihn ertappt. Er nickte seufzend.

»Er ist aus Mord im Club Liceo«, gab er zu. »Die Schlussszene, wo Miranda LaFleur auf den ruchlosen Marquis feuert, der ihr das Herz gebrochen hat, weil er sie während einer leidenschaftlichen Nacht in der Hochzeitssuite des Hotels Colon in den Armen der Zarenspionin Swetlana Iwanowa verraten hat.«

»Dacht ich’s mir doch. Sie hätten nicht besser wählen können. Das ist Ihr Glanzstück, Don Pedro.«

Vidal lächelte mir für das Lob zu und schien abzuwägen, ob er sich noch eine Zigarette anzünden sollte.

»Was nicht heißt, dass in alledem nicht ein Körnchen Wahrheit steckt«, schloss er.

Er setzte sich aufs Fensterbrett, nachdem er ein Taschentuch hingelegt hatte, um seine hochelegante Hose nicht zu beschmutzen. Ich sah den unten an der Ecke zur Calle Princesa geparkten Hispano-Suiza. Der Fahrer, Manuel Sagnier, brachte mit einem Lappen die Verchromungen auf Hochglanz, als handle es sich um eine Skulptur von Rodin. Manuel hatte mich immer an meinen Vater erinnert, zwei Männer derselben Generation, die zu viele Tage im Unglück verbracht hatten und denen die Erinnerung ins Gesicht geschrieben stand. Von einigen Angestellten der Villa Helius hatte ich gehört, dass Manuel Sagnier lange im Gefängnis gesessen und nach seiner Entlassung über Jahre hinweg gedarbt hatte, da ihm keine andere Arbeit angeboten wurde als die eines Stauers, der auf den Molen Säcke und Kisten löschte, eine Tätigkeit, für die er nicht mehr das Alter und die Gesundheit hatte. Der Legende nach hatte Manuel Vidal einmal unter Einsatz des eigenen Lebens davor bewahrt, unter den Rädern einer Straßenbahn zu Tode zu kommen. Als er von Manuels verzweifelter Lage erfuhr, bot ihm Pedro Vidal aus Dankbarkeit an, mit Frau und Tochter in die kleine Wohnung über den Garagen der Villa Helius zu ziehen. Er versicherte ihm, die kleine Cristina würde von denselben Lehrern instruiert werden, die täglich ins väterliche Haus in der Avenida Pearson kamen, um den Kindern der Vidal-Dynastie Unterricht zu erteilen, und seine Frau könnte ihren Beruf als Schneiderin im Dienst der Familie ausüben. Er trage sich mit dem Gedanken, eines der ersten Automobile zu kaufen, die in Barcelona in den Handel kämen, und wenn Manuel sich in der Kunst des Autofahrens ausbilden und Karren und Kremser Vergangenheit sein lassen wolle, werde er ihn als Fahrer beschäftigen – damals ließen die jungen Herren die Finger von Verbrennungsmotoren und Maschinen mit Gasaustritt. Natürlich nahm Manuel an. Seit er aus seinem Elend errettet worden war, so lautete die offizielle Version, waren er und seine Familie Vidal, dem ewigen Paladin der Enterbten, blind ergeben. Ich wusste nicht, ob ich diese Geschichte tatsächlich glauben oder sie den unzähligen Legenden um den von Vidal kultivierten Charakter des gütigen Aristokraten zurechnen sollte – fehlte nur noch, dass er, in einen leuchtenden Nimbus gehüllt, einem verwaisten Hirtenmädchen erschien.

»Du machst wieder dieses Halunkengesicht, wie immer, wenn du boshaften Gedanken nachhängst«, sagte Vidal. »Was heckst du aus?«

»Nichts. Ich dachte nur, wie gütig Sie doch sind, Don Pedro.«

»In deinem Alter und deiner Lage öffnet Zynismus keine Türen.«

»Das erklärt alles.«

»Komm schon, grüß den guten Manuel, der sich immer nach dir erkundigt.«

Ich lehnte mich aus dem Fenster, und als mich der Fahrer erblickte, der mich stets wie einen feinen jungen Herrn und nicht als den Tölpel behandelte, den ich in Wirklichkeit darstellte, winkte er mir aus der Ferne zu. Ich grüßte zurück. Auf dem Beifahrersitz saß seine Tochter Cristina, ein junges blasshäutiges Mädchen mit schmalen, wie gemalten Lippen, das zwei Jahre älter war als ich und mir den Atem nahm, seit ich sie zum ersten Mal bei einer Einladung in die Villa Helius gesehen hatte.

»Starr sie nicht so an, sonst zerbrichst du sie noch«, murmelte Vidal hinter mir.

Ich wandte mich um und sah, dass er seine Machiavelli-Miene aufgesetzt hatte, die eigens für Dinge des Herzens und anderer edler Weichteile reserviert war.

»Ich weiß nicht, wovon Sie reden.«

»Welch große Wahrheit«, antwortete Vidal. »Nun, was gedenkst du hinsichtlich des heutigen Abends zu tun?«

Ich las das Billett noch einmal durch und zögerte.

»Gehen Sie in diese Art Lokale, Don Pedro?«

»Seit ich fünfzehn wurde, habe ich für keine Frau mehr bezahlt, und eigentlich bezahlte damals ja mein Vater«, antwortete er ohne jede Prahlerei. »Aber einem geschenkten Gaul …«

»Ich weiß nicht, Don Pedro …«

»Natürlich weißt du es.«

Auf dem Weg zur Tür klopfte er mir leicht auf die Schulter.

»Es bleiben dir sieben Stunden bis Mitternacht. Ich sage das nur, falls du noch ein Nickerchen machen und Kräfte sammeln willst.«

Ich schaute aus dem Fenster und sah ihn zum Auto gehen. Manuel hielt ihm die Tür auf, und Vidal ließ sich träge auf den Rücksitz fallen. Ich hörte den Motor des Hispano-Suiza seine Kolben- und Ventilsinfonie entfalten. In diesem Augenblick schaute die Tochter des Fahrers, Cristina, zu meinem Fenster herauf. Ich lächelte ihr zu, merkte aber, dass sie sich nicht mehr an mich erinnerte. Gleich sah sie wieder weg, und Vidals Karosse fuhr ihn zurück in seine Welt.

 

Barcelona 02 - Das Spiel des Engels
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