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Am Nachmittag ließ ich Isabella vor den leeren Seiten auf dem Schreibtisch zurück, den wir für sie in die Veranda gestellt hatten, und ging zu Don Gustavo Barcelós Buchhandlung in der Calle Fernando, um mir eine gute, lesbare Bibel zu kaufen. Alle Ausgaben des Alten und Neuen Testaments, die ich zuhause hatte, bestanden aus halb durchsichtigem Dünndruckpapier mit mikroskopischer Schrift, sodass ihre Lektüre weniger Inbrunst und göttliche Inspiration als Migräne hervorrief. Barcelo, neben vielem anderen ein beharrlicher Sammler von heiligen Schriften und apokryphen christlichen Texten, hatte im hinteren Teil der Buchhandlung einen abgetrennten Raum mit einer famosen Auswahl an Evangelien, Legenden von Seliggesprochenen und Heiligen sowie frommen Texten aller Art.

Als mich einer der Angestellten eintreten sah, benachrichtigte er flugs den Chef in seinem Büro. Euphorisch kam mich Barceló begrüßen.

»Das ist aber eine schöne Überraschung! Sempere hat mir schon gesagt, dass Sie auferstanden sind, aber das ist wirklich unglaublich. Neben Ihnen sieht Valentino aus, als käme er frisch von der Feldarbeit. Wo haben Sie denn gesteckt, Sie Schlingel?«

»Da und dort«, sagte ich.

»Überall außer bei Vidals Hochzeitsschmaus. Man hat Sie vermisst, mein Lieber.« »Das wage ich zu bezweifeln.«

Der Buchhändler nickte zum Zeichen, dass er meinen Wunsch, nicht weiter auf das Thema einzugehen, verstanden hatte.

»Darf ich Ihnen eine Tasse Tee anbieten?«

»Auch zwei. Und eine Bibel. Eine handliche, wenn möglich.«

»Das dürfte kein Problem sein. Dalmau?« Ein Angestellter eilte herbei. »Dalmau, der liebe Martín benötigt eine Bibelausgabe nicht dekorativer, sondern lesbarer Natur. Ich denke an Torres Amat, 1825. Was meinen Sie?«

Eine der Besonderheiten von Barcelós Buchhandlung war, dass hier von den Büchern wie von edlen Weinen gesprochen wurde – samt Bouquet, Aroma, Konsistenz und Jahrgang.

»Vortreffliche Wahl, Señor Barceló, obwohl ich eher zur aktualisierten, durchgesehenen Ausgabe neige.«

»1860?«

»1893.«

»Natürlich. Stattgegeben. Packen Sie sie dem lieben Martín ein, geht auf Kosten des Hauses.«

»Kommt überhaupt nicht infrage«, warf ich ein.

»An dem Tag, da ich von einem Ungläubigen wie Ihnen für das Wort Gottes etwas kassiere, soll mich ein Blitz niederschmettern, und zwar mit vollem Recht.«

Dalmau ging meine Bibel holen, und ich folgte Barceló in sein Büro, wo er uns beiden eine Tasse Tee einschenkte und mir aus seinem Humidor eine Zigarre und zum Anzünden eine Kerze anbot.

»Macanudo?«

»Ich sehe, Sie sind dabei, ihren Gaumen zu bilden. Ein Mann muss Laster haben, und zwar möglichst solche mit Niveau, sonst kann er im Alter von nichts erlöst werden. Ich werde Ihnen Gesellschaft leisten, zum Henker.«

Eine köstliche Qualmwolke hüllte uns ein.

»Vor ein paar Monaten war ich in Paris und hatte die Gelegenheit, einige Nachforschungen anzustellen zu dem Thema, das Sie vor längerer Zeit Sempere gegenüber erwähnt haben«, erklärte Barceló.

»Die Éditions de la Lumière.“

»Genau. Ich hätte gern etwas tiefer geschürft, aber leider sieht es so aus, als hätte seit der Schließung des Verlages niemand die Rechte übernommen, und so war es schwierig für mich, etwas Brauchbares zusammenzukratzen.«

»Sie sagen, er wurde geschlossen? Wann denn?« »1914, wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht.« »Das muss ein Irrtum sein.«

»Nicht, wenn wir von den Éditions de la Lumière auf dem Boulevard Saint-Germain sprechen.« »Genau die.«

»Schauen Sie, ich habe mir alles genau aufgeschrieben, um nichts zu vergessen, wenn wir uns sähen.« Er kramte in seiner Schreibtischschublade und zog ein kleines Notizheft heraus. »Da hab ich’s: ›Éditions de la Lumière, Verlag für religiöse Texte mit Büros in Rom, Paris, London und Berlin. Gründer und Herausgeber: Andreas Corelli. Eröffnung des ersten Büros in Paris: 1881.‹«

»Unmöglich«, murmelte ich.

Barceló zuckte die Achseln.

»Na gut, ich kann mich geirrt haben, aber …«

»Konnten Sie die Geschäftsräume besuchen?«

»Ich habe es versucht – mein Hotel befand sich gegenüber dem Panthéon, ganz in der Nähe, und die ehemaligen Verlagsräume lagen auf der Südseite des Boulevards, zwischen der Rue Saint-Jacques und dem Boulevard Saint-Michel.«

»Und?«

»Das Haus stand leer und war zugemauert, und es sah aus, als hätte es einen Brand gegeben oder so. Das einzige noch Intakte war der Türklopfer, ein erlesenes Stück in Form eines Engels. Bronze, würde ich sagen. Ich hätte es mitgenommen, hätte mich nicht ein Gendarm argwöhnisch beobachtet, und ich hatte nicht den Mut, einen diplomatischen Zwischenfall auszulösen – nicht, dass Frankreich noch einmal einzufallen beschließt.«

»Wenn man sich so umsieht, würde es uns damit vielleicht sogar einen Dienst erweisen.«

»Jetzt, wo Sie es sagen … Aber um auf das Thema zurückzukommen – nachdem ich mir das alles angesehen hatte, ging ich in ein benachbartes Café, um nachzufragen, und man sagte mir, das Haus befinde sich seit über zwanzig Jahren in diesem Zustand.«

»Haben Sie etwas über den Verleger herausfinden können?«

»Corelli? Soweit ich verstanden habe, hat er den Verlag geschlossen, als er sich zur Ruhe setzte, obwohl er offenbar noch nicht einmal fünfzig war. Ich glaube, er zog in eine Villa im Süden Frankreichs, im Luberon, und starb kurze Zeit später. Ein Schlangenbiss, hieß es. Eine Viper. Und dafür zieht man sich in die Provence zurück.«

»Sind Sie sicher, dass er gestorben ist?«

 

»Père Coligny, ein ehemaliger Konkurrent, hat mir seine Todesanzeige gezeigt, die er wie eine Trophäe eingerahmt hatte. Er sagte, er schaue sie jeden Tag an, um sich daran zu erinnern, dass dieser verdammte Bastard tot und verscharrt sei. Wörtlich – obwohl es auf Französisch sehr viel schöner und melodischer klang.«

»Hat Coligny erwähnt, ob der Verleger Kinder hatte?«

»Ich hatte den Eindruck, dieser Corelli war nicht sein Lieblingsthema, und sobald er konnte, hat er sich mir entwunden. Anscheinend gab es einen Skandal, weil Corelli ihm einen seiner Autoren weggeschnappt hatte, einen gewissen Lambert.«

»Wie war das genau?«

»Das Amüsanteste an der ganzen Geschichte ist, dass Coligny Corelli gar nie zu Gesicht bekommen hat. Sie haben nur korrespondiert. Der springende Punkt war wohl der, dass Monsieur Lambert anscheinend einen Vertrag unterschrieben hatte, um für die Éditions de la Lumière hinter Colignys Rücken ein Buch zu verfassen, obwohl er mit Letzterem einen Exklusivvertrag hatte. Lambert war ein Opiumsüchtiger im Endstadium und hatte genug Schulden auf dem Buckel, um damit die Rue de Rivoli zu pflastern. Coligny argwöhnte, dass Corelli Lambert eine astronomische Summe angeboten und der arme, dem Tod nahe Mann angenommen hatte, damit seine Kinder ein Auskommen hätten.«

»Was für eine Art Buch?«

»Etwas mit religiösem Inhalt. Coligny hat den Titel erwähnt, irgendein gängiger lateinischer Ausdruck, der mir jetzt gerade nicht einfällt. Sie wissen ja, sämtliche Messbücher sind mehr oder weniger ähnlich. Pax Gloria Mundi oder etwas in der Art.«

»Und was ist mit Lamberts Buch geschehen?«

»Da wird das Ganze kompliziert. Offenbar wollte der arme Lambert das Manuskript in einem Wahnsinnsanfall verbrennen und hat sich im Verlag damit gleich selbst in Brand gesteckt. Viele nahmen an, das Opium habe ihm das Hirn versengt, aber Coligny hat den Verdacht, Corelli habe ihn in den Selbstmord getrieben.«

»Warum sollte er das?«

»Wer weiß? Vielleicht wollte er die versprochene Summe nicht zahlen. Vielleicht waren das alles auch nur Hirngespinste von Coligny, der, würde ich sagen, rund um die Uhr dem Beaujolais zuspricht. Zum Beispiel sagte er mir, Corelli habe versucht ihn umzubringen, um Lambert aus seinem Vertrag zu befreien, und ihn erst in Ruhe gelassen, nachdem er, Coligny, beschlossen habe, den Schriftsteller aus seinem Vertrag zu entlassen.«

»Haben Sie nicht eben gesagt, er habe ihn nie gesehen?«

»Spricht noch mehr für das, was ich sage. Ich glaube, Coligny delirierte. Als ich ihn in seiner Wohnung aufsuchte, habe ich mehr Kruzifixe, Muttergottes und Heiligenbilder gesehen als in einem Devotionalienladen. Ich hatte den Eindruck, er war nicht ganz richtig im Kopf. Beim Abschied sagte er, ich solle mich von Corelli fernhalten.«

»Aber haben Sie nicht gesagt, er sei gestorben?« »Ecco qui.«

Ich schwieg. Barceló schaute mich neugierig an.

»Ich habe den Eindruck, meine Ermittlungen haben Sie nicht besonders überrascht.«

Ich spielte das Ganze mit einem sorglosen Lächeln herunter.

»Im Gegenteil. Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie sich Zeit für diese Nachforschungen genommen haben.«

»Nicht der Rede wert. In Paris auf Klatschtour zu gehen ist für mich ein Heidenvergnügen, Sie kennen mich ja.«

Er riss die Seite mit den Angaben aus seinem Notizheft und gab sie mir.

»Vielleicht können Sie das brauchen. Da steht alles, was ich herausfinden konnte.«

Ich stand auf und gab ihm die Hand. Er begleitete mich zum Ausgang, wo mir Dalmau das eingeschlagene Buch der Bücher überreichte.

»Wenn Sie irgendein Jesusbildchen möchten, wo er die Augen auf- und zuklappt, je nachdem, wie man ihn anschaut, dann habe ich auch das. Oder eines von der Muttergottes, umgeben von Lämmchen, die zu pausbäckigen Cherubim werden, wenn man es dreht. Ein Wunder der Stereoskopie.«

»Für den Augenblick reicht mir das offenbarte Wort.«

»So sei es.«

Ich dankte ihm für seine Unterstützung, aber je weiter ich mich von der Buchhandlung entfernte, desto mehr befiel mich eine kalte Unruhe, und ich hatte den Eindruck, die Straßen und mein Schicksal seien auf Treibsand gebaut.

 

 

 

Barcelona 02 - Das Spiel des Engels
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