Ich erinnerte mich an Cristinas Anblick am Fenster der Villa Helius vor einigen Tagen, als sie die Hand wie zum Gruß hob, ehe ich vor ihrem Blick floh und ihr den Rücken kehrte.
»Martín?« Der Inspektor wedelte mit der Hand vor meinen Augen, als fürchtete er, ich hätte den Verstand verloren.
»Was?«
Er schaute mich mit unverstellter Besorgnis an.
»Haben Sie mir irgendetwas zu erzählen? Ich weiß, Sie werden mir nicht glauben, aber ich würde Ihnen gern helfen.«
»Glauben Sie immer noch, ich hätte Barrido und seinen Partner umgebracht?« Grandes schüttelte den Kopf.
»Das habe ich nie geglaubt, aber andere würden es gern glauben.«
»Warum ermitteln Sie dann gegen mich?«
»Beruhigen Sie sich. Ich ermittle nicht gegen Sie, Martín. Ich habe nie gegen Sie ermittelt. An dem Tag, an dem ich es tue, werden Sie es merken. Einstweilen beobachte ich Sie. Weil Sie mir sympathisch sind und ich mir Sorgen mache, dass Sie in Schwierigkeiten geraten. Warum haben Sie kein Vertrauen zu mir und sagen mir, was los ist?«
Unsere Blicke trafen sich, und einen Augenblick war ich versucht, ihm alles zu erzählen. Ich hätte es getan, wenn ich gewusst hätte, wo ich anfangen sollte.
»Nichts ist los, Inspektor.«
Grandes nickte und schaute mich mitleidig an, vielleicht war es auch nur Enttäuschung. Er trank sein Bier aus und legte ein paar Münzen auf den Tisch. Dann klopfte er mir auf die Schulter und erhob sich.
»Passen Sie auf sich auf, Martín. Und achten Sie darauf, wo Sie hintreten. Nicht alle schätzen Sie so wie ich.«
»Ich werde es beherzigen.«
Es war beinahe Mittag, als ich nach Hause kam. Was mir der Inspektor erzählt hatte, wollte mir nicht aus dem Kopf. Ich stieg die Treppe so langsam hinauf, als wöge selbst meine Seele schwer. Ich öffnete die Tür mit der Befürchtung, von einer redseligen Isabella empfangen zu werden, doch es war alles still. Ich ging durch den Korridor zur Veranda, und da sah ich sie, schlafend auf dem Sofa und mit einem aufgeschlagenen Buch auf der Brust, einem meiner alten Romane, was mir ein Lächeln entlockte. In diesen Herbsttagen war die Temperatur in der Wohnung spürbar gesunken, und ich fürchtete, Isabella könnte sich erkälten. Ich hatte sie manchmal mit einem wollenen Schultertuch durch die Wohnung gehen sehen und wollte es aus ihrem Zimmer holen und leise über sie legen. Die Tür war angelehnt, und da ich dieses Zimmer nicht mehr betreten hatte, seit Isabella bei mir wohnte, obwohl es meine Wohnung war, fühlte ich mich etwas gehemmt. Ich erblickte das Schultertuch zusammengefaltet auf einem Stuhl. Der Raum roch nach Isabellas süßem Zitronenduft. Das Bett war noch ungemacht, und da ich wusste, dass ich im Ansehen meiner Assistentin um viele Punkte stieg, wenn ich mich einer häuslichen Beschäftigung hingab, beugte ich mich nieder, um die Laken glatt zu streichen.
Da sah ich zwischen Matratze und Rahmen etwas stecken: Unter der Falte des Betttuchs lugte die Ecke eines Kuverts hervor. Als ich daran zog, hielt ich ein verschnürtes Bündel von etwa zwanzig blauen Umschlägen in der Hand. Ein Gefühl der Kälte durchfuhr mich, aber ich wollte es nicht wahrhaben. Ich knotete die Schleife auf und nahm einen der Umschläge. Auf der Vorderseite standen mein Name und meine Adresse, als Absender war nur Cristina angegeben.
Mit dem Rücken zur Tür setzte ich mich aufs Bett und studierte einen nach dem anderen die Poststempel. Der erste war mehrere Wochen alt, der letzte drei Tage. Alle Umschläge waren geöffnet. Ich schloss die Augen und merkte, wie mir die Kuverts entglitten. Da hörte ich ihren Atem hinter mir.
»Verzeihen Sie mir«, hauchte sie.
Sie kam langsam näher und kniete sich hin, um die Briefe aufzulesen. Als sie alle wieder gebündelt hatte, reichte sie sie mir mit einem schmerzerfüllten Blick.
»Ich hab es getan, um Sie zu schützen«, sagte sie.
Isabellas Augen füllten sich mit Tränen, und sie legte mir eine Hand auf die Schulter.
»Geh«, sagte ich.
Ich stieß sie weg und stand auf. Isabella sank mit einem Stöhnen zu Boden, als würde sie innerlich verbrennen.
»Verlass dieses Haus.«
Ich ging, ohne mir die Mühe zu machen, die Haustür hinter mir zu schließen. Auf der Straße sah ich mich einer Welt voller fremder, ferner Fassaden und Gesichter gegenüber. Ich ging los, ohne Ziel und Richtung, ohne die Kälte, den Regen und den Wind zu spüren, der die Stadt wie ein Fluch zu peitschen begonnen hatte.