17

Neun Wochen später stand ich vor der zwei Jahre zuvor eröffneten Buchhandlung Catalonia an der Plaza de Catalunya Nr. 17 und starrte verblüfft in ein riesiges Schaufenster voller Bücher mit dem Titel Das Aschenhaus von Pedro Vidal. Ich musste schmunzeln. Mein Mentor hatte sogar den Titel gewählt, den ich ihm vor langer Zeit zusammen mit dem Abriss der Handlung vorgeschlagen hatte. Ich ging hinein und verlangte ein Exemplar. An einer zufällig aufgeschlagenen Stelle begann ich einige Passagen zu lesen, die ich auswendig wusste, da ich vor wenigen Monaten noch daran gefeilt hatte. Im ganzen Buch fand ich kein einziges Wort, das nicht von mir stammte, mit Ausnahme der Widmung: »Für Cristina Sagnier, ohne deren Hilfe …«

Als ich dem Geschäftsführer das Buch zurückgab, sagte er, ich solle es mir nicht zweimal überlegen.

»Wir haben es vorgestern bekommen, und ich habe es bereits gelesen. Ein großer Roman. Hören Sie auf meine Empfehlung. Ich weiß, dass es in allen Zeitungen über den grünen Klee gelobt wird, was fast immer ein schlechtes Zeichen ist, aber in diesem Fall bestätigt die Ausnahme die Regel. Wenn es Ihnen nicht gefällt, bringen Sie es wieder, und ich erstatte Ihnen das Geld zurück.«

»Danke«, antwortete ich, für die Empfehlung und vor allem für alles Weitere. »Aber ich habe es ebenfalls gelesen.«

»Kann ich Ihnen denn etwas anderes empfehlen?«

»Haben Sie nicht einen Roman mit dem Titel Die Schritte des Himmels?«

Der Buchhändler dachte einen Augenblick nach.

»Das ist der von David Martín, nicht wahr, dem von Die Stadt …?«

Ich nickte.

»Ich hatte ihn bestellt, aber der Verlag hat mir keine Exemplare geliefert. Warten Sie, ich erkundige mich noch einmal.«

Ich folgte ihm zu einem Auslagentisch, wo er mit einem seiner Kollegen sprach, der den Kopf schüttelte.

»Er hätte gestern kommen sollen, aber der Verlag sagt, er habe keine Exemplare mehr. Tut mir leid. Wenn Sie wollen, reserviere ich Ihnen eines, wenn er doch noch eintrifft.«

»Bemühen Sie sich nicht. Ich werde wieder vorbeischauen. Und vielen Dank.«

»Tut mir leid, mein Herr. Ich weiß auch nicht, was da geschehen ist – ich sagte ja, eigentlich müsste ich das Buch hierhaben …«

Anschließend ging ich zu einem Zeitungskiosk oben an den Ramblas und kaufte von der Vanguardia bis zur Stimme der Industrie fast alle Tageszeitungen. Ich setzte mich ins Café Canaletas, um mich in sie zu vertiefen. Vidals Roman wurde überall in ganzseitiger Aufmachung besprochen, mit großer Schlagzeile und einem Bild von Don Pedro, auf dem er nachdenklich und geheimnisvoll aussah, einen neuen Anzug trug und mit einstudierter Geringschätzung an einer Pfeife sog. Ich überflog jeweils die Titel und dann den ersten und letzten Absatz der Kritik.

Die erste begann so: »Das Aschenhaus ist ein reifes, wunderbares, hocherhabenes Werk, das zum Besten zählt, was die Gegenwartsliteratur zu bieten hat.« Eine andere Zeitung teilte ihren Lesern mit, in Spanien schreibe »niemand besser als Pedro Vidal, unser beliebtester und angesehenster Romancier«, und eine dritte fand, das Buch sei »ein kapitaler Roman, meisterlich geschrieben und von höchster Qualität«. Eine vierte Zeitung kommentierte den großen internationalen Erfolg von Vidal und seinem Roman: »Europa wirft sich dem Meister zu Füßen« (obwohl das Buch in Spanien erst zwei Tage zuvor erschienen war und, sollte es übersetzt werden, in keinem anderen Land vor Ablauf eines Jahres zu finden sein würde). Weitschweifig ließ sich der Artikel über die große Anerkennung und den enormen Respekt aus, auf die Vidals Name bei den »renommiertesten internationalen Kritikern« gestoßen sei, obwohl meines Wissens keines seiner Bücher jemals in eine andere Sprache übertragen worden war, außer einem Roman, dessen Übersetzung ins Französische Don Pedro selbst finanziert hatte und von dem 126 Stück verkauft worden waren. Aber Wunder hin oder her – die Presse war übereinstimmend der Ansicht, es sei »ein Klassiker geboren« worden und der Roman stehe für »die Rückkehr eines der Großen, der besten Feder unserer Zeit: Vidal, der unbestrittene Meister«.

Auf der gegenüberliegenden Seite fand ich in einigen Zeitungen auch eine ein- oder zweispaltige Besprechung des Romans von David Martín. Die gnädigste begann so: »Die Schritte des Himmels, ein Erstlingswerk von David Martín in plattem Stil, offenbaren von der ersten Seite an, dass es dem Autor an Mitteln und Talent fehlt«. Eine zweite war der Meinung, »der Anfänger Martín« versuche, »den Meister Pedro Vidal zu imitieren, was ihm aber nicht gelingt«. Die letzte, die ich zu lesen vermochte, war die der Stimme der Industrie, und sie begann mit einem knappen Resümee in Fettdruck: »David Martín, ein gänzlich unbekannter Redakteur von Kleinanzeigen, überrascht uns mit etwas, was vielleicht das schlechteste literarische Debüt dieses Jahres ist.«

Ich ließ die Zeitungen auf dem Tisch liegen und den Kaffee unberührt stehen und ging die Ramblas hinunter zu den Büros von Barrido und Escobillas. Unterwegs kam ich an vier oder fünf Buchhandlungen vorbei, alle mit zahllosen Exemplaren von Vidals Roman im Schaufenster. In keinem fand ich auch nur ein einziges Exemplar des meinen. Und in allen wiederholte sich die Szene aus der Catalonia.

»Wissen Sie, ich kann auch nicht sagen, was da los ist, er hätte vorgestern eintreffen sollen, aber der Verleger sagt, die Auflage sei vergriffen und er wisse nicht, wann er nachdrucken werde. Wenn Sie Ihren Namen und Ihre Telefonnummer hinterlassen wollen, kann ich Sie benachrichtigen, sobald er kommt … Haben Sie schon in der Catalonia gefragt? Wenn die ihn nicht haben …«

Die beiden Teilhaber empfingen mich mit düsterem, unfreundlichem Blick. Barrido hinter seinem Schreibtisch mit einem Füllfederhalter spielend und Escobillas hinter ihm stehend und mich mit dem Blick durchbohrend. Die Giftige saß in einem Stuhl neben mir und genoss die Aussicht auf das Kommende in vollen Zügen.

»Sie wissen nicht, wie leid mir das tut, mein lieber Martín«, erklärte Barrido. »Das Problem ist folgendes: Die Bestellungen der Buchhändler richten sich nach den Zeitungskritiken, fragen Sie mich nicht, warum. Wenn Sie ins Lager nebenan gehen, werden Sie sehen, dass da dreitausend Exemplare Ihres Romans liegen, die schon Staub ansetzen.«

»Mit den entsprechenden Kosten und Verlusten«, ergänzte Escobillas in deutlich feindseligem Ton.

»Ich war im Lager, bevor ich hergekommen bin, und habe festgestellt, dass da dreihundert Exemplare liegen. Der Chef hat mir gesagt, dass nicht mehr gedruckt wurden.«

»Das ist eine Lüge«, rief Escobillas.

Barrido unterbrach ihn versöhnlich.

»Entschuldigen Sie meinen Partner, Martín. Sie müssen verstehen, wir sind ebenso empört wie Sie, wenn nicht noch empörter, dass die lokale Presse ein Buch so schändlich misshandelt hat, an dem wir alle in diesem Haus größten Gefallen gefunden haben, aber bitte begreifen Sie, dass uns in diesem Fall trotz unseres begeisterten Glaubens an Ihr Talent Hände und Füße gebunden sind durch die Verwirrung, welche diese hinterhältigen Pressenotizen ausgelöst haben. Aber lassen Sie sich nicht entmutigen – Rom wurde auch nicht an zwei Tagen erbaut. Wir bemühen uns nach Kräften, Ihrem Werk die Tragweite zu verleihen, die sein hohes literarisches Niveau verdient …«

»Mit einer Auflage von dreihundert Exemplaren.«

Barrido seufzte, beleidigt durch mein mangelndes Vertrauen.

»Die Auflage beträgt fünfhundert«, präzisierte Escobillas. »Die anderen zweihundert haben Barceló und Sempere gestern persönlich abgeholt. Der Rest wird mit der nächsten Lieferung hinausgehen – mit dieser war es nicht möglich, weil die Häufung von Novitäten zu Schwierigkeiten führte. Wenn Sie sich einmal unsere Probleme vor Augen führen würden und nicht so egoistisch wären, würden Sie das verstehen.«

Ungläubig schaute ich die drei an.

»Sagen Sie nicht, dass Sie nichts weiter unternehmen werden.«

Barrido wirkte untröstlich.

»Was sollen wir denn tun, mein Freund? Wir setzen bereits alles für Sie aufs Spiel. Helfen Sie uns auch ein bisschen.«

»Wenn Sie wenigstens ein Buch geschrieben hätten wie das Ihres Freundes Vidal«, sagte Escobillas.

»Ja, das freilich ist eine Schwarte«, bekräftigte Barrido. »Das findet selbst Die Stimme der Industrie.«

»Ich habe ja gewusst, dass es so kommen würde«, fuhr Escobillas fort. »Sie sind ein undankbarer Mensch.«

Die Giftige neben mir schaute mich zerknirscht an. Ich hatte das Gefühl, sie ergreife gleich meine Hand, um mich zu trösten, und ich rückte rasch von ihr ab. Barrido lächelte ölig.

»Vielleicht ist es gut so, Martín. Vielleicht ist das ein Zeichen unseres Herrn, der Ihnen in seiner unendlichen Weisheit den Weg zurück zu der Arbeit weisen will, die die Leser der Stadt der Verdammten so glücklich gemacht hat.«

Ich lachte schallend. Barrido fiel ein, und auf sein Zeichen hin taten es ihm Escobillas und die Giftige nach. Ich besah mir diesen Hyänenchor und dachte, unter anderen Umständen hätte ich das als einen Moment auserlesener Ironie empfunden.

»So ist es recht, Sie sollen es positiv nehmen«, rief Barrido. »Was meinen Sie? Wann werden wir den nächsten Roman von Ignatius B. Samson bekommen?«

Die drei schauten mich zuvorkommend und erwartungsvoll an. Ich räusperte mich, um möglichst deutlich sprechen zu können, und schenkte ihnen ein Lächeln.

»Sie können mich mal.«

 

Barcelona 02 - Das Spiel des Engels
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