7

Ich wurde von einem quälenden Kater, der einem Schraubstock um die Schläfen glich, und dem Duft des kolumbianischen Kaffees geweckt. Isabella hatte ein Tischchen mit einer Kanne und einem Teller mit Brot, Käse, Schinken und einem Apfel ans Bett gerückt. Beim Anblick der Speisen wurde mir übel, aber ich langte nach dem frischen Kaffee. Isabella, die mich von der Schwelle aus betrachtet hatte, ohne dass ich es bemerkte, kam mir zuvor und schenkte mir, ein einziges Lächeln, eine Tasse ein.

»Trinken Sie ihn so, sehr stark, er wirkt Wunder.«

Ich nahm die Tasse und trank.

»Wie spät ist es?«

»Ein Uhr mittags.«

Ein leises Schnauben entfuhr mir.

»Wie lange bist du schon wach?«

»Etwa sieben Stunden.«

»Und hast was getan?«

»Sauber gemacht und Ordnung geschaffen, aber hier gibt es Arbeit für Monate.«

Ich nahm einen weiteren großen Schluck.

»Danke«, murmelte ich. »Für den Kaffee. Und fürs Ordnungschaffen und Saubermachen, aber du bist dazu nicht verpflichtet.«

»Ich mache es nicht für Sie, falls das Ihre Sorge ist. Ich mache es für mich. Wenn ich hier wohnen soll, ist mir die Vorstellung lieber, nicht kleben zu bleiben, falls ich mich zufällig irgendwo abstütze.«

»Hier wohnen? Ich dachte, wir hätten gesagt …«

Als ich die Stimme erhob, durchschnitt mir ein schmerzhafter Stich das Wort und den Gedanken.

»Pssst«, flüsterte Isabella.

Ich nickte und gab mich fürs Erste geschlagen. Jetzt konnte und mochte ich nicht mit Isabella streiten. Später, wenn der Kater den Rückzug anträte, wäre immer noch Zeit, sie zu ihrer Familie zurückzubringen. Ich trank die Tasse aus und stand langsam auf. Fünf bis sechs Schmerzensstiche bohrten sich in meinen Kopf. Ein Stöhnen entfuhr mir. Isabella stützte mich am Arm.

»Ich bin kein Invalide. Ich weiß mir schon zu helfen.«

Vorsichtig ließ sie mich los. Ich tat ein paar Schritte auf den Korridor zu. Sie folgte mir dichtauf, als fürchtete sie, ich würde jeden Augenblick zusammenbrechen. Vor dem Bad blieb ich stehen.

»Darf ich allein pinkeln?«

»Zielen Sie genau«, murmelte sie. »Ich stelle Ihnen das Frühstück in die Veranda.« »Ich habe keinen Hunger.« »Sie müssen etwas essen.«

»Bist du mein Lehrmädchen oder meine Mutter?«

»Ich meine es nur gut mit Ihnen.«

Ich suchte hinter der geschlossenen Badezimmertür Zuflucht. Meine Augen brauchten zwei Sekunden, um sich auf das einzustellen, was sie sahen. Das Bad war nicht wiederzuerkennen. Sauber und glänzend. Alles an seinem Ort. Ein neues Stück Seife auf dem Waschbecken. Saubere Handtücher, die ich nicht einmal in meinem Besitz gewusst hatte. Der Geruch nach Lauge.

»Heilige Muttergottes«, murmelte ich.

Ich hielt den Kopf unter den Hahn und ließ das kalte Wasser zwei Minuten lang laufen. Dann trat ich wieder in den Flur hinaus und schlenderte zur Veranda. War das Bad schon nicht wiederzuerkennen, so war die Veranda von einer anderen Welt. Isabella hatte die Fensterscheiben geputzt und den Fußboden gescheuert sowie die Sessel und anderen Möbel zurechtgerückt. Reines, klares Licht fiel durch die Scheiben, und der muffige Geruch war verflogen. Mein Frühstück erwartete mich auf dem Tisch gegenüber dem Sofa, den Isabella mit einer sauberen Decke versehen hatte. Die von Büchern überquellenden Regale schienen neu sortiert, und das Glas der Vitrinen war auf einmal wieder durchsichtig. Isabella hatte mir eine zweite Tasse Kaffee eingeschenkt.

»Ich weiß, was du da im Schilde führst, und es wird nicht funktionieren«, sagte ich.

»Eine Tasse Kaffee einschenken?«

Sie hatte die in Stapeln auf Tischen und in Ecken verteilten Bücher geordnet. Sie hatte die seit über einem Jahrzehnt überquellenden Zeitungsständer geleert. In nur sieben Stunden hatte sie mit ihrem Eifer und ihrer bloßen Anwesenheit Jahre der Düsterkeit und Finsternis weggefegt, und noch immer fand sie Zeit und Lust zu lächeln.

»Vorher hat es mir besser gefallen«, sagte ich.

»Sicher. Ihnen und den hunderttausend Kakerlaken, die Sie in Untermiete hatten und die ich mit frischer Luft und Ammoniak davongejagt habe.«

»Das also ist dieser grässliche Gestank?«

»Der grässliche Gestank ist der Geruch von Sauberkeit«, protestierte sie. »Sie könnten auch ein wenig dankbar sein.«

»Bin ich auch.«

 

»Merkt man aber nicht. Morgen geh ich ins Arbeitszimmer hinauf und …« »Untersteh dich!«

Sie zuckte die Achseln, aber ihr Blick behielt seine Entschlossenheit, und ich wusste, dass vierundzwanzig Stunden später das Arbeitszimmer im Turm für immer verändert sein würde.

»Übrigens habe ich heute Morgen einen Briefumschlag im Vorraum gefunden. Jemand muss ihn gestern Abend unter der Tür durchgeschoben haben.«

Ich schaute sie über die Tasse hinweg an.

»Die Eingangstür unten ist abgeschlossen«, sagte ich.

»Das dachte ich auch. Es kam mir auch sehr merkwürdig vor, und obwohl Ihr Name drauf steht …«

»… hast du ihn geöffnet.«

»Ich fürchte, ja. Es ist ganz ohne Absicht geschehen.«

»Isabella, die Post anderer Leute zu öffnen ist ziemlich ungezogen. An manchen Orten steht darauf sogar Gefängnis.«

»Das sage ich meiner Mutter auch immer, die es nicht lassen kann, meine Briefe zu öffnen. Und sie ist immer noch auf freiem Fuß.«

»Wo ist der Brief?«

Sie zog einen Umschlag aus der Schürzentasche und reichte ihn mir mit einem ausweichenden Blick. Er war aus dickem, porösem, elfenbeinfarbenem Papier mit gezackten Rändern, und es zierten ihn das rote – erbrochene – Lacksiegel des Engels und mein Name in karmesinroter, parfümierter Tinte. Ich öffnete ihn und zog ein zusammengefaltetes Blatt heraus.

 

Verehrter David,

ich hoffe, Sie sind wohlauf und haben die vereinbarte Summe problemlos auf ein Konto einzahlen können. Was halten Sie davon, wenn wir uns heute Abend bei mir treffen, um mit der Erörterung der Einzelheiten unseres Projekts zu beginnen? Gegen zehn Uhr wird ein leichtes Abendessen aufgetragen. Ich erwarte Sie.

Ihr Freund Andreas Corelli

Ich faltete das Blatt zusammen und steckte es wieder in den Umschlag. Isabella betrachtete mich neugierig.

»Gute Nachrichten?«

»Nichts, was dich etwas anginge.«

»Wer ist dieser Señor Corelli? Er hat eine schöne Schrift, nicht so wie Sie.«

Ich schaute sie streng an.

»Wenn ich Ihre Assistentin sein soll, muss ich doch wissen, mit wem Sie Umgang pflegen. Falls ich jemanden vor die Tür setzen soll.«

Ich schnaubte.

»Er ist Verleger.«

»Er muss gut sein, schauen Sie nur, was für Briefpapier und Umschläge er verwendet. Was für ein Buch schreiben Sie denn für ihn?«

»Nichts, was dich etwas anginge.«

»Wie soll ich Ihnen helfen, wenn Sie mir nicht sagen wollen, woran Sie arbeiten? Nein, besser, Sie antworten nicht. Ich schweige ja.«

Zehn gesegnete Sekunden lang schwieg sie. Dann fragte sie:

 

»Wie ist dieser Señor Corelli?« Ich schaute sie kühl an. »Eigen.«

»Gleich und Gleich … Ich sag ja nichts.«

Als ich dieses junge Mädchen mit dem edelmütigen Herzen so anschaute, fühlte ich mich, sofern das überhaupt möglich war, noch elender. Mir wurde klar, dass ich sie wegschicken musste, je eher, desto besser für uns beide.

»Warum schauen Sie mich so an?«

»Heute Abend werde ich ausgehen, Isabella.«

»Soll ich Ihnen etwas zu essen vorbereiten? Werden Sie sehr spät zurückkommen?«

»Ich werde auswärts essen und weiß nicht, wann ich zurückkomme, aber wann es auch sein mag, ich will, dass du gegangen bist, wenn ich komme. Ich will, dass du deine Siebensachen mitnimmst und gehst. Wohin, ist mir egal. Hier ist kein Platz für dich. Verstanden?«

Sie wurde bleich, und ihre Augen flossen über. Sie biss sich auf die Lippen und lächelte mir mit Tränen auf den Wangen zu.

»Ich bin überflüssig. Ich verstehe.«

»Und mach nicht weiter sauber.«

Ich stand auf, ließ sie in der Veranda stehen und verkroch mich im Arbeitszimmer im Turm. Ich öffnete die Fenster. Von unten drang Isabellas Weinen herauf. Ich betrachtete die in der Mittagssonne daliegende Stadt und schaute dann zum anderen Ende hinauf, wo ich beinahe die glänzenden Ziegel auf der Villa Helius zu sehen glaubte und mir Cristina, Señora Vidal, vorstellte, wie sie oben von den Turmfenstern zum Ribera-Viertel herabschaute. Etwas Dunkles, Trübes legte sich mir aufs Herz. Ich vergaß Isabellas Tränen und sehnte nur noch die Begegnung mit Corelli herbei, um mit ihm über das verdammte Buch zu sprechen.

Ich blieb im Arbeitszimmer im Turm, bis sich die Dämmerung über der Stadt ausbreitete wie Blut im Wasser. Es war heiß, heißer als den ganzen Sommer über, und die Dächer des Viertels flirrten im Dunst. Ich ging in die Wohnung hinunter und zog mich um. Alles war still, die Jalousien in der Veranda waren halb heruntergelassen und die Scheiben in ein bernsteinfarbenes Licht getaucht, das bis in den Korridor hinein schien. »Isabella?«, rief ich.

Ich erhielt keine Antwort. Ich schaute in die Veranda und sah, dass sie gegangen war. Davor hatte sie es sich nicht nehmen lassen, Ignatius B. Samsons gesammelte Werke, die in einer jetzt makellos glänzenden Vitrine jahrelang verstaubt und vergessen waren, zu ordnen und zu reinigen. Eines der Bücher hatte sie, in der Mitte aufgeschlagen, auf ein Stehpult gelegt. Ich las aufs Geratewohl eine Zeile und hatte das Gefühl, in eine Zeit zurückzureisen, in der alles ebenso einfach wie unvermeidlich schien.

»›Ein Gedicht wird mit Tränen geschrieben, ein Roman mit Blut und die Geschichte mit Lappalien‹, sagte der Kardinal, während er die Messerschneide im Licht des Kandelabers mit Gift bestrich.«

Die bemühte Naivität dieser Zeilen entlockte mir ein Lächeln und weckte erneut einen Verdacht, der mich nie ganz verlassen hatte: Vielleicht wäre es für alle, vor allem für mich selbst, besser gewesen, wenn Ignatius B. Samson nie aus dem Leben geschieden wäre und David Martín seinen Platz überlassen hätte.

 

 

Barcelona 02 - Das Spiel des Engels
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