23

Als ich aus dem Haus trat, überraschte mich eine kalte, schneidende Brise, die ungeduldig durch die Straßen fegte, und mir wurde klar, dass in Barcelona allmählich der Herbst Einzug hielt. Auf der Plaza Palacio bestieg ich eine leere Straßenbahn, die wie eine große, eiserne Mausefalle dort wartete. Ich setzte mich ans Fenster und löste beim Schaffner eine Fahrkarte.

»Fahren Sie bis Sarrià?«, fragte ich.

»Bis zur Plaza.«

Ich lehnte den Kopf an die Scheibe, bis die Bahn wenig später mit einem Ruck losfuhr. Ich schloss die Augen und sank in eines dieser Nickerchen, die man nur an Bord solch einer mechanischen Missgeburt genießen kann, und mich umfing der Traum des modernen Menschen. Ich durchquerte in einem Zug aus schwarzen Knochen und sargförmigen Wagen ein menschenleeres Barcelona, in dem überall leere Kleider lagen, als hätten sich alle Körper verflüchtigt. Eine Steppe aus Hüten und Kleidern, Anzügen und Schuhen bedeckte die zu Stille verdammten Straßen. Die Lokomotive puffte eine scharlachrote Rauchfahne aus, die sich wie vergossene Farbe über den Himmel ausbreitete. Neben mir saß lächelnd der Patron, ganz in Weiß und mit Handschuhen. Von seinen Fingerspitzen troff etwas Dunkles, Gallertartiges.

»Was ist mit den Leuten geschehen?«

»Haben Sie Vertrauen, Martín. Haben Sie Vertrauen.«

Als ich erwachte, glitt die Straßenbahn soeben langsam auf die Plaza de Sarrià. Noch bevor sie ganz zum Stillstand gekommen war, sprang ich ab und begann die Calle Mayor de Sarrià hinaufzusteigen. Eine Viertelstunde später gelangte ich an mein Ziel.

Die Carretera de Vallvidrera entsprang einem schattigen Waldstück hinter dem schlossartigen roten Backsteinbau des Colegio San Ignacio. Die bergan steigende, laubbedeckte Straße war von einsamen alten Häusern gesäumt. Niedrige Wolken zogen die Bergflanke entlang und lösten sich in Nebelfetzen auf. Ich wählte die Seite mit den ungeraden Hausnummern und versuchte beim Gehen an Mauern und Gittertoren die Ziffern zu lesen. Auf der anderen Seite sah man Fassaden aus verrußtem Stein und trocken gefallene Brunnen zwischen unkrautüberwucherten Pfaden. Ein Stück des Gehsteigs war von einer langen Reihe Zypressen überschattet, und ich sah, dass die Nummerierung von elf zu fünfzehn sprang. Verwirrt ging ich zurück und suchte die Dreizehn. Schon argwöhnte ich, Anwalt Valeras Sekretärin sei doch gerissener, als ich gedacht hatte, und habe mir eine falsche Adresse angegeben, als ich eine Passage gewahrte, die vom Bürgersteig aus über fast fünfzig Meter zu einem dunklen Gitterzaun mit einem Lanzenkamm führte.

Durch dieses schmale Gässchen ging ich auf den Zaun zu. Ein verwilderter Garten hatte ihn überwuchert, und zwischen den Lanzen des Zauns ragten die Zweige eines Eukalyptus hervor wie flehende Arme zwischen den Stäben einer Gefängniszelle. Ich schob die Blätter beiseite, die einen der gemauerten Pfeiler verdeckten, und stieß auf die in den Stein gehauenen Buchstaben und Zahlen.

Haus Marlasca

13

Während ich dem Garten entlang den Zaun abschritt, versuchte ich hineinzuspähen. Nach etwa zwanzig Metern kam ich zu einer zwischen zwei Pfeilern eingelassenen Metalltür. Auf der verrosteten Eisenplatte ruhte ein Klopfer. Die Tür war nur angelehnt. Ich stieß sie mit der Schulter so weit auf, dass ich hindurchkam, ohne dass mir die aus dem Mauersockel ragenden Steinkanten die Kleider zerrissen. Ein unangenehmer Geruch nach nasser Erde lag in der Luft.

Zwischen den Bäumen tat sich ein Pfad aus Marmorplatten auf und führte zu einem mit weißen Steinen gepflasterten Platz. Auf der einen Seite sah man eine Garage mit offener Tür und den Überresten eines Mercedes-Benz, der jetzt an einen seinem Schicksal überlassenen Leichenwagen erinnerte. Das Haus war ein Jugendstilbau, der sich in gebogenen Linien zu drei Stockwerken erhob und gekrönt war von einer Reihe in Türmen und Bögen zusammengedrängter Mansarden. Schmale Fenster, spitz wie Dolche, waren in die von Reliefs und Wasserspeiern übersäte Fassade eingelassen. In den Scheiben spiegelten sich die langsam vorüberziehenden Wolken. Hinter einem der Fenster im ersten Stock glaubte ich undeutlich ein Gesicht zu sehen.

Ich hob die Hand zu einem angedeuteten Gruß – ich mochte nicht für einen Einbrecher gehalten werden. Die Gestalt beobachtete mich weiterhin, reglos wie eine Spinne. Für einen Augenblick senkte ich den Blick, und als ich wieder hinaufschaute, war sie verschwunden.

»Guten Tag!«, rief ich.

Ich wartete ein paar Sekunden, und da die Antwort ausblieb, näherte ich mich langsam dem Haus. Ein ovales Schwimmbecken zog sich vor einer verglasten Veranda die Ostfassade entlang. Zerfranste Segeltuchstühle umstanden das Becken. Ein efeuüberwachsenes Sprungbrett ragte über den dunklen Wasserspiegel. Ich trat an den Rand und stellte fest, dass das Becken voll mit Laub und Algen war, die sich an der Oberfläche kräuselten. Als ich ins Wasser starrte, spürte ich, dass sich mir von hinten etwas Dunkles näherte.

Ich wandte mich jäh um und sah mich einem schmalen, finsteren Gesicht gegenüber, das mich unruhig und argwöhnisch musterte.

»Wer sind Sie, und was tun Sie hier?«

»Mein Name ist David Martín – ich komme von Anwalt Valera«, erfand ich.

Die Frau presste die Lippen zusammen.

»Sind Sie Señora Marlasca? Doña Alicia?«

»Was ist mit dem, der sonst immer gekommen ist?«, fragte sie.

Offensichtlich hielt sie mich für einen der Referendare des Büros Valera und dachte, ich brächte Papiere zur Unterschrift oder sonst eine Mitteilung der Anwälte. Einen Augenblick erwog ich die Möglichkeit, diese Identität anzunehmen, aber irgendetwas im Gesicht der Frau sagte mir, dass sie in ihrem Leben genug Lügen aufgetischt bekommen hatte und keine weitere mehr akzeptieren würde.

»Ich arbeite nicht für das Büro, Señora Marlasca. Der Grund meines Besuches ist privater Natur. Ich dachte, vielleicht hätten Sie ein paar Minuten Zeit, um mit mir über eines der ehemaligen Besitztümer ihres verstorbenen Gatten, Don Diego, zu sprechen.«

Die Witwe wurde blass und wandte den Blick ab. Sie stützte sich auf einen Stock, und ich sah an der Schwelle der Veranda einen Rollstuhl stehen, in dem sie vermutlich mehr Zeit verbrachte, als sie zugeben mochte.

»Es gibt keinen einzigen Besitz meines Mannes mehr, Señor …«

»Martín.«

»Die Banken haben alles genommen, Señor Martín. Alles außer diesem Haus, das er dank des Ratschlags von Señor Valera, dem Vater, auf meinen Namen eingetragen hat. Alles andere haben sich diese Aasfresser geschnappt …«

»Ich meinte das Haus mit dem Turm, in der Calle Flassaders.«

Sie seufzte. Ich schätzte sie auf sechzig oder fünfundsechzig. Ihr war noch ein Abglanz ihrer einstigen blendenden Schönheit geblieben.

»Vergessen Sie dieses Haus. Es ist ein verfluchter Ort.«

»Das kann ich leider nicht. Ich wohne dort.«

Señora Marlasca runzelte die Stirn.

»Ich dachte, dort will niemand wohnen. Es hat viele Jahre leer gestanden.«

»Ich habe es schon vor einiger Zeit gemietet. Der Grund meines Besuches ist, dass ich im Laufe einiger Umbauarbeiten eine Reihe persönlicher Dinge gefunden habe, die vermutlich Ihrem verstorbenen Mann und Ihnen gehört haben.«

»Von mir gibt es nichts in diesem Haus. Was Sie gefunden haben mögen, muss dieser Frau gehören …« »Irene Sabino?« Alicia Marlasca lächelte bitter.

»Was wollen Sie wirklich wissen, Señor Martín? Sagen Sie mir die Wahrheit. Sie sind nicht hierhergekommen, um mir die Habe meines verstorbenen Mannes zurückzubringen.«

Wir schauten uns schweigend an, und ich wusste, dass ich diese Frau um keinen Preis belügen konnte.

»Ich versuche herauszufinden, was mit Ihrem Mann geschehen ist, Señora Marlasca.«

»Warum?«

»Weil ich glaube, dass dasselbe mit mir geschieht.«

Das Haus Marlasca hatte jene Atmosphäre einer Familiengruft, wie sie große, von Abwesenheit und Entbehrung gezeichnete Häuser aufwiesen. Fern waren die Tage des Reichtums und der Herrlichkeit, da ganze Heerscharen von Bediensteten es in seiner ursprünglichen Pracht erhielten; jetzt war es nur noch eine Ruine. Die Farbe an den Wänden blätterte ab, die Fliesen lösten sich, die Möbel wurden von Feuchtigkeit zerfressen, die Decken hingen durch, und die großen Teppiche waren abgetreten und ausgeblichen. Ich half der Witwe in den Rollstuhl und schob sie gemäß ihren Anweisungen in das Bibliothekszimmer, in dem es kaum noch Bücher oder Bilder gab.

»Ich musste das meiste verkaufen, um zu überleben«, erklärte sie. »Hätte ich nicht Anwalt Valera, der mir monatlich zulasten des Büros eine kleine Pension schickt, ich hätte nicht gewusst, wohin ich gehen sollte.«

»Leben Sie alleine?«

Sie nickte.

»Das ist mein Haus. Der einzige Ort, an dem ich glücklich gewesen bin, obwohl das schon viele Jahre her ist. Ich habe immer hier gelebt, und hier werde ich auch sterben. Verzeihen Sie, dass ich Ihnen nichts angeboten habe. Ich bekomme schon lange keinen Besuch mehr und weiß gar nicht mehr, wie man mit Gästen umgeht. Möchten Sie Kaffee oder Tee?«

»Gar nichts, danke.«

Señora Marlasca lächelte und deutete auf meinen Sessel.

»Das war der Lieblingssessel meines Mannes. Da hat er sich immer hingesetzt, vors Feuer, und bis in die Nacht gelesen. Manchmal habe ich mich hierher gesetzt, neben ihn, und ihm zugehört. Er hat gern erzählt, damals wenigstens. Wir sind sehr glücklich gewesen in diesem Haus …«

»Was ist geschehen?«

Sie zuckte die Achseln und starrte in die Asche im Kamin.

»Sind Sie sicher, dass Sie diese Geschichte hören wollen?« »Bitte.«

 

Barcelona 02 - Das Spiel des Engels
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