5

In meiner Welt wurden Erwartungen, ob groß oder klein, nur selten erfüllt. Noch wenige Monate zuvor hatte meine einzige Sehnsucht beim Schlafengehen darin bestanden, eines Tages den nötigen Mut aufzubringen, Cristina, die Tochter des Fahrers meines Mentors, anzusprechen, und dass die Stunden bis zum Morgengrauen rasch verfliegen möchten, damit ich wieder in die Redaktion gehen konnte. Jetzt begann ich auch diesen Zufluchtsort zu verlieren. Vielleicht könnte ich, wenn ich bei einem meiner Artikel grandios scheiterte, die Zuneigung meiner Kollegen zurückgewinnen, sagte ich mir. Vielleicht würden mir, wenn ich etwas Mittelmäßiges, Abwegiges schriebe, bei dem kein Leser über den ersten Absatz hinauskam, meine Jugendsünden verziehen. Vielleicht war das kein zu hoher Preis dafür, sich wieder zuhause zu fühlen. Vielleicht.

In die Redaktion der Stimme der Industrie war ich viele Jahre zuvor an der Hand meines Vaters gekommen, eines gepeinigten, glücklosen Mannes, der sich nach der Rückkehr aus dem Krieg um die Philippinen in einer Stadt wiederfand, in der ihn niemand mehr kennen wollte, mit einer Frau, die ihn bereits vergessen hatte und ihn zwei Jahre später ganz verließ. Ihre Hinterlassenschaft bestand aus einem gebrochenen Herzen und einem Sohn, den er nie gewollt hatte und mit dem er nichts anzufangen wusste. Mein Vater, der mit knapper Not seinen Namen lesen und schreiben konnte, hatte weder Beruf noch Geld. Das Einzige, was er im Krieg gelernt hatte, war, andere Männer zu töten, ehe sie ihn töteten, immer im Namen einer ebenso eitlen wie großartigen Sache, die sich als desto fadenscheiniger und niederträchtiger erwies, je näher man dem Gefecht rückte.

Nach seiner Rückkehr aus dem Krieg suchte mein Vater, der um zwanzig Jahre gealtert zu sein schien, eine Anstellung in den vielen Betrieben des Pueblo Nuevo und des Sant-Marti-Viertels. Er behielt keine Stelle länger als einige Tage, und dann sah ich ihn mit grollverzerrter Miene nach Hause kommen. Mangels Alternativen übernahm er nach einiger Zeit den Posten des Nachtwächters in der Stimme der Industrie. Das Gehalt war zwar bescheiden, aber die Monate vergingen, und zum ersten Mal nach seiner Rückkehr schien er in keine Scherereien zu geraten. Der Friede war von kurzer Dauer. Einige seiner ehemaligen Waffenkameraden waren an Körper und Seele versehrt wie lebendige Leichname zurückgekommen, nur um festzustellen, dass ihnen die, die sie im Namen Gottes und des Vaterlandes in den Tod geschickt hatten, jetzt ins Gesicht spuckten. Sie verwickelten ihn schon bald in zwielichtige Geschäfte, die für ihn eine Nummer zu groß waren und die er nie ganz durchschaute.

Oft verschwand er für zwei Tage, und wenn er zurückkam, rochen seine Hände und Kleider nach Schießpulver, und Geld beulte seine Taschen. Dann flüchtete er sich in sein Zimmer, wo er sich das wenige oder viele spritzte, das er hatte beschaffen können. Er dachte, ich merke nichts, und anfänglich schloss er nicht einmal die Tür; doch eines Tages ertappte er mich dabei, wie ich ihn ausspionierte, und verpasste mir eine Ohrfeige, die mir die Lippen spaltete. Dann umarmte er mich, bis ihm die Kraft schwand und er auf dem Boden lag, die Nadel noch in der Haut. Ich zog sie heraus und deckte ihn zu. Nach diesem Zwischenfall begann er sich einzuschließen.

Wir wohnten in einer kleinen Mansarde über der Baustelle des neuen Konzertsaals, des Palau de la Música de l’Orfeó Català. Es war eine kalte, enge Bleibe, in der Wind und Feuchtigkeit sich über die Mauern zu mokieren schienen. Ich setzte mich immer auf den winzigen Balkon und ließ die Beine baumeln, um die Vorbeigehenden zu beobachten und dieses Riff aus unmöglichen Skulpturen und Säulen zu bestaunen, das auf der gegenüberliegenden Straßenseite heranwuchs und fast mit Fingern zu greifen nahe schien und dann so weit entfernt war wie der Mond. Ich war ein schwaches, kränkliches Kind, anfällig für Fieber und Infektionen, die mich an den Rand des Grabes brachten, es sich aber im letzten Moment immer anders überlegten und wieder abzogen, um sich eine gewichtigere Beute zu suchen. Wenn ich krank wurde, verlor der Vater schnell die Geduld und überließ mich nach der zweiten schlaflosen Nacht der Obhut einer Nachbarin, um für zwei Tage zu verschwinden. Mit der Zeit hatte ich den Verdacht, er hoffe mich nach seiner Rückkehr tot vorzufinden und so die Last dieses Kindes mit der zarten Gesundheit los zu sein, das zu nichts zu gebrauchen war.

Mehr als einmal verspürte ich den Wunsch, es möge so kommen, aber immer war ich bei seiner Rückkehr noch am Leben, ja munter und ein wenig größer. Zwar schämte sich Mutter Natur nicht, mich mit der ganzen Reichhaltigkeit ihres Keim- und Plagenkatalogs zu erfreuen, aber nie fand sie einen Weg, das Gesetz der Schwerkraft endgültig auf mich anzuwenden. Entgegen jeder Vorhersage überlebte ich die Gratwanderung, die die Kindheit vor der Entdeckung des Penizillins war. Damals hauste der Tod noch nicht in der Anonymität; man konnte überall sehen und riechen, wie er die Seelen mitriss, die noch gar keine Gelegenheit zum Sündigen bekommen hatten.

Schon früh waren Papier und Druckerschwärze meine einzigen Freunde. In der Schule hatte ich viel eher lesen und schreiben gelernt als die anderen Kinder des Viertels. Wo meine Kameraden auf den Seiten bloß aufgedruckte Farbe sahen, entdeckte ich Licht, Straßen und Menschen. Die Wörter und das Mysterium ihres verborgenen Wissens faszinierten mich und waren wie ein Schlüssel, der mir eine unendliche Welt aufschloss und mich vor diesem Haus, vor diesen Straßen und an den trüben Tagen behütete, da sogar ich ahnte, dass mich mehr Unglück als Glück erwartete. Mein Vater wollte keine Bücher im Haus sehen. Abgesehen von den Buchstaben, die er nicht enträtseln konnte, steckte noch etwas in ihnen, das ihn beleidigte. Er sagte, sobald ich zehn wäre, würde er mir eine Arbeit suchen, ich solle mir besser gleich alle Flausen aus dem Kopf schlagen, sonst würde ich als Hungerleider enden. Ich versteckte die Bücher unter meiner Matratze und wartete, bis er aus dem Haus gegangen oder eingeschlafen war, um zu lesen. Einmal ertappte er mich bei nächtlicher Lektüre und geriet in Rage. Er riss mir das Buch aus den Händen und warf es aus dem Fenster.

»Wenn ich dich noch einmal dabei erwische, wie du mit dem Lesen von solchem Mist Strom vergeudest, kannst du was erleben.«

Mein Vater war kein Geizkragen, und trotz unserer Nöte rückte er, wann immer er konnte, einige Münzen heraus, damit ich mir wie alle anderen Kinder des Viertels Schleckereien kaufen konnte. Er war überzeugt, dass ich das Geld in Süßholz, Sonnenblumenkerne oder Bonbons steckte, aber ich verwahrte es in einer Kaffeedose unter dem Bett, und wenn ich vier, fünf Münzen beisammen hatte, kaufte ich mir eiligst und ohne sein Wissen ein Buch.

Der liebste Ort in der ganzen Stadt war mir Sempere und Söhne in der Calle Santa Ana. Diese Buchhandlung mit dem Geruch nach altem Papier und Staub war mein Heiligtum und mein Zufluchtsort. Der Buchhändler überließ mir einen Stuhl in der Ecke, wo ich nach Lust und Laune jedes Buch meiner Wahl lesen konnte. Und fast nie wollte er für eines, das er mir in die Hand drückte, etwas haben, aber wenn er nicht aufpasste, legte ich ihm die zusammengekratzten Münzen auf den Ladentisch, bevor ich ging. Es war nur Kleingeld, und hätte ich mir mit diesem elenden Sümmchen ein Buch kaufen wollen, hätte ich mir sicher nur eines aus Zigarettenpapierblättchen leisten können. Wenn es dann Zeit wurde, musste ich Füße und Seele zum Aufbrechen zwingen – wäre es nach mir gegangen, ich wäre für immer dort geblieben.

Einmal machte mir Sempere zu Weihnachten das schönste Geschenk, das ich je bekommen habe. Es war ein alter, aufs gründlichste gelesener und gelebter Band.

»Große Erwartungen, von Charles Dickens«, las ich auf dem Deckel.

Ich wusste, dass Sempere einige Schriftsteller kannte, die in seinem Laden verkehrten, und da er dieses Buch so liebevoll in die Hand nahm, dachte ich, dieser Herr Charles sei vielleicht einer von ihnen.

»Ein Freund von Ihnen?«

»Ein uralter. Und von heute an auch einer von dir.«

An diesem Abend nahm ich meinen neuen Freund, unter den Kleidern vor dem Vater verborgen, mit nach Hause. Es war ein regnerischer Winter mit bleiernen Tagen, in dem ich Große Erwartungen neunmal hintereinander las, teils weil ich nichts anderes zu lesen hatte, teils weil ich dachte, ein besseres Buch könne es gar nicht geben. Und mit der Zeit glaubte ich, dieser Herr Dickens habe es nur für mich geschrieben. Bald war ich der festen Überzeugung, im Leben nichts anderes zu wollen, als zu erlernen, was Herr Dickens tat.

Eines frühen Morgens schreckte ich aus dem Schlaf auf, als mich der Vater rüttelte, der vorzeitig von der Arbeit nach Hause gekommen war. Seine Augen waren blutunterlaufen, sein Atem stank nach Schnaps. Ich starrte ihn entsetzt an, und er tastete nach der nackten Glühbirne an ihrem Kabel. »Sie ist warm.«

Er bohrte seinen Blick in meine Augen und schmetterte die Birne wütend an die Wand. Sie zerschellte in tausend Splitter, die mir ins Gesicht regneten, aber ich wagte sie nicht wegzuwischen.

»Wo ist es?«, fragte er kalt.

Zitternd schüttelte ich den Kopf.

»Wo ist das Scheißbuch?«

Wieder schüttelte ich den Kopf. Im Dämmerlicht sah ich den Schlag nicht kommen. Vor meinen Augen wurde es schwarz, und ich spürte, wie ich aus dem Bett fiel mit Blut im Mund und einem heftigen Schmerz, der wie Feuer brannte. Als ich den Kopf zur Seite drehte, entdeckte ich auf dem Boden etwas, das aussah wie die abgebrochenen Stücke von zwei Zähnen. Die Hand des Vaters packte mich am Hals und zog mich hoch.

»Wo ist es?«

»Vater, bitte …«

Mit aller Kraft warf er mich mit dem Gesicht gegen die Wand. Beim Aufprall verlor ich das Gleichgewicht und fiel in mich zusammen wie ein Sack Knochen. Ich schleppte mich in eine Ecke und blieb zusammengekauert liegen, während ich sah, wie der Vater meine paar Kleidungsstücke aus dem Schrank riss und auf den Boden warf. Ergebnislos wühlte er in Schubladen und Koffern, bis er sich erschöpft von neuem auf mich stürzte. Ich schloss die Augen und krümmte mich gegen die Wand, um einen weiteren Schlag zu empfangen, der jedoch nicht kam. Als ich die Augen öffnete, sah ich den Vater auf der Bettkante sitzen und weinen, halb erstickt vor Scham. Er bemerkte meinen Blick und rannte die Treppe hinunter. Ich hörte, wie sich in der Morgenstille das Echo seiner Schritte entfernte, und erst als ich ihn weit weg wusste, schleppte ich mich zum Bett und holte das Buch aus seinem Versteck unter der Matratze hervor. Dann zog ich mich an und trat mit dem Buch auf die Straße hinaus.

Dichter Dunst hing in der Calle Santa Ana, als ich vor der Tür der Buchhandlung anlangte. Im selben Haus wohnten im ersten Stock der Buchhändler und sein Sohn. Sechs Uhr früh war zwar nicht die Zeit, um bei jemandem zu klingeln, aber in diesem Augenblick hatte ich nur den Gedanken, das Buch zu retten, und die Gewissheit, dass der Vater, wenn er es bei seiner Rückkehr zuhause vorfände, es mit seiner ganzen Wut in Fetzen reißen würde. Ich klingelte und wartete. Nach zwei, drei weiteren Malen hörte ich die Balkontür aufgehen und sah den alten Sempere in Morgenmantel und Pantoffeln heraustreten und verdutzt herunterblicken. Eine halbe Minute später öffnete er mir. Als er mein Gesicht erblickte, verschwand jeder Anflug von Zorn. Er kniete sich vor mir nieder und nahm mich bei den Armen.

»Heiliger Gott. Geht’s dir gut? Wer hat dir das angetan?«

»Niemand. Ich bin hingefallen.«

 

 

Ich reichte ihm das Buch.

»Ich bin gekommen, um es Ihnen zurückzugeben -ich will nicht, dass ihm etwas zustößt …«

Sempere schaute mich wortlos an. Dann nahm er mich auf den Arm und trug mich in die Wohnung hinauf. Sein Sohn, ein Junge von zwölf Jahren, der so schüchtern war, dass ich mich nicht erinnern konnte, je seine Stimme vernommen zu haben, war aufgewacht und wartete oben auf dem Treppenabsatz. Beim Anblick des Blutes in meinem Gesicht schaute er erschrocken seinen Vater an.

»Hol den Doktor Campos.«

Der Junge nickte und lief zum Telefon. Als ich ihn sprechen hörte, wusste ich endlich, dass er nicht stumm war. Die beiden trugen mich zu einem Sessel im Esszimmer und reinigten meine Wunden vom Blut, während sie auf den Arzt warteten.

»Du willst mir also nicht sagen, wer dir das angetan hat?«

Ich presste die Lippen zusammen. Sempere wusste nicht, wo ich wohnte, und ich mochte ihm keinen Hinweis liefern.

»War es dein Vater?«

Ich schaute weg.

»Nein. Ich bin hingefallen.«

Doktor Campos, der vier oder fünf Häuser entfernt wohnte, kam nach fünf Minuten. Er untersuchte mich von Kopf bis Fuß, betastete die blauen Flecken und behandelte die Schnitte so behutsam, wie er konnte. Seine Augen glühten vor Empörung, aber er sagte nichts.

 

 

»Gebrochen ist nichts, er hat aber einige Prellungen, die ein paar Tage anhalten werden und schmerzhaft sind. Diese beiden Zähne wird man ziehen müssen. Sie sind verloren, und es könnte eine Infektion geben.«

Nachdem der Arzt gegangen war, brachte mir Sempere ein Glas lauwarme Milch mit Kakao und schaute mir beim Trinken zu.

»Und all das, um die Großen Erwartungen zu retten?«

Ich zuckte die Achseln. Vater und Sohn lächelten sich verschwörerisch zu.

»Das nächste Mal, wenn du ein Buch retten willst, wirklich retten willst, sollst du nicht mehr dein Leben aufs Spiel setzen. Du sagst es mir, und ich werde dich an einen geheimen Ort bringen, wo die Bücher niemals sterben und niemand sie zerstören kann.«

Neugierig schaute ich die beiden an.

»Was ist das denn für ein Ort?«

Sempere zwinkerte mir zu mit diesem geheimnisvollen Lächeln, das sie aus einem Fortsetzungsroman von Alexandre Dumas zu haben schienen und das offenbar ein Markenzeichen der Familie war.

»Alles zu seiner Zeit, mein Freund. Alles zu seiner Zeit.«

Von Gewissensbissen zernagt, heftete der Vater die ganze folgende Woche über die Augen auf den Boden. Er kaufte eine neue Glühbirne und sagte sogar, wenn ich sie anknipsen wolle, dann nur zu, allerdings nicht lange, der Strom sei sehr teuer. Ich spielte lieber nicht mit dem Feuer. Am Samstag wollte mir der Vater ein Buch kaufen und ging in eine Buchhandlung in der Calle de la Palla gegenüber der alten römischen Mauer, die erste und letzte Buchhandlung, die er je betrat. Aber da er die Titel auf den Hunderten Buchrücken nicht lesen konnte, verließ er den Laden unverrichteter Dinge. Danach gab er mir Geld, mehr als üblich, und sagte, ich könne mir kaufen, worauf ich Lust hätte. Das schien mir der geeignete Moment, ein Thema zur Sprache zu bringen, das mir seit langem auf der Zunge brannte.

»Doña Mariana, die Lehrerin, hat mich gebeten, Ihnen zu sagen, ob Sie wohl irgendwann einmal vorbeikommen könnten, um mit ihr wegen der Schule zu sprechen«, sagte ich wie nebenher.

»Um worüber zu sprechen? Hast du was ausgefressen?«

»Nein, Vater. Doña Mariana wollte sich mit Ihnen über meine künftige Ausbildung unterhalten. Sie sagt, ich sei begabt, und sie glaubt, sie könnte mir zu einem Stipendium verhelfen, um ins Piaristenkolleg einzutreten …«

»Was bildet sich diese Frau eigentlich ein, dir einen solchen Floh ins Ohr zu setzen und dich in eine Reiche-Leute-Schule schicken zu wollen? Weißt du überhaupt, was das für ein Pack ist? Weißt du, wie die dich anglotzen und behandeln, wenn rauskommt, wo du her bist?«

Ich senkte die Augen.

»Doña Mariana möchte nur helfen, Vater. Nichts weiter. Werden Sie nicht böse. Ich sage ihr einfach, es geht nicht, und Schluss.«

Der Vater schaute mich zornig an, beherrschte sich aber und atmete mehrere Male mit geschlossenen Augen durch, bevor er etwas sagte.

»Wir werden schon über die Runden kommen, verstehst du? Du und ich. Ohne die Almosen von all diesen Mistkerlen. Und zwar mit hoch erhobenem Kopf.«

»Ja, Vater.«

Er legte mir eine Hand auf die Schulter und schaute mich an, als wäre er für einen kurzen Augenblick, der nie wiederkommen sollte, stolz auf mich, obwohl wir so verschieden waren, obwohl ich Bücher mochte, die er nicht lesen konnte, ja obwohl die Mutter uns verlassen und entzweit hatte. In diesem Moment hielt ich den Vater für den gütigsten Menschen der Welt und dachte, alle würden das merken, wenn ihm das Leben nur einmal gute Karten zuspielte.

»Alles Schlechte, was man im Leben tut, schlägt auf einen zurück, David. Und ich habe viel Schlechtes getan, sehr viel. Aber ich habe dafür gebüßt. Und unser Blatt wird sich wenden. Du wirst schon sehen. Du wirst schon sehen …«

Obwohl Doña Mariana, die mit allen Wassern gewaschen war, sich in etwa vorstellen konnte, woher der Wind wehte, ließ sie nicht locker, doch ich erwähnte das Thema der Ausbildung gegenüber dem Vater nicht mehr. Als ihr klar wurde, dass nichts zu machen war, sagte sie, sie werde mir von nun an täglich nach dem Unterricht eine weitere Stunde geben, nur mir allein, um mir etwas über Bücher, Geschichte und all die Dinge zu erzählen, die den Vater in Angst und Schrecken versetzten.

»Das wird unser Geheimnis sein.«

Mittlerweile hatte ich begriffen, dass sich der Vater schämte, weil ihn die Leute für einen Ignoranten hielten, Überbleibsel eines Krieges, der wie fast alle Kriege im Namen Gottes und des Vaterlandes ausgefochten worden war, um Menschen, die schon vorher mächtig gewesen waren, noch mächtiger zu machen. In dieser Zeit fing ich an, den Vater manchmal zu seiner Nachtschicht zu begleiten. In der Calle Trafalgar nahmen wir eine Straßenbahn, die uns vor den Friedhofstoren absetzte. Ich blieb in seinem Pförtnerhäuschen, las alte Zeitungen und versuchte mich ab und zu mit ihm zu unterhalten – eine schwierige Aufgabe. Der Vater sprach kaum noch, weder über den Kolonialkrieg noch über die Frau, die ihn verlassen hatte. Einmal fragte ich ihn, warum die Mutter nicht mehr bei uns sei. Ich argwöhnte, es sei meinetwegen, weil ich etwas Unrechtes getan hätte, und sei es nur, auf die Welt gekommen zu sein.

»Deine Mutter hatte mich schon verlassen, bevor ich an die Front geschickt wurde. Ich war der Blödmann, weil ich es nicht merkte, bis ich zurückkam. So ist das Leben, David. Über kurz oder lang lassen uns alle und alles im Stich.»

»Ich werde Sie nie im Stich lassen, Vater.«

Ich hatte den Eindruck, er breche gleich in Tränen aus, und umarmte ihn, um sein Gesicht nicht sehen zu müssen.

Ohne Vorankündigung ging er am nächsten Tag mit mir zur Stoffhandlung El Indio in der Calle del Carmen. Wir traten zwar nicht ein, aber durch die großen Fenster des Vorraums hindurch deutete er auf eine junge, heitere Frau, die den Kunden Tücher und Stoffe vorlegte.

»Das ist deine Mutter«, sagte er. »Nächstens komm ich mal vorbei und bring sie um.«

»So was dürfen Sie nicht sagen, Vater.«

Er sah mich mit geröteten Augen an, und da wurde mir klar, dass er sie immer noch liebte und dass ich ihr deswegen nie vergeben würde. Ich erinnere mich, wie wir sie damals unbemerkt im Verborgenen beobachteten, und dass ich sie nur aufgrund des Fotos erkannte, das der Vater zuhause in einer Schublade aufbewahrte, neben seiner Ordonnanzpistole, die er jeden Abend, wenn er mich schlafend glaubte, herausnahm und betrachtete, als gäbe sie auf alles eine Antwort – oder beinahe auf alles.

Noch jahrelang kehrte ich zum Eingang dieses Warenhauses zurück, um sie auszuspionieren. Nie brachte ich den Mut auf, hineinzugehen oder sie anzusprechen, wenn sie herauskam und ich sie die Ramblas hinunter davongehen sah, zu einer Familie, so malte ich mir aus, die sie glücklich machte, und einem Sohn, der ihrer Zuneigung und der Berührung ihrer Haut würdiger war als ich. Der Vater erfuhr nie, dass ich bisweilen verschwand, um sie zu beobachten, oder ihr an manchen Tagen dichtauf folgte, immer kurz davor, ihre Hand zu ergreifen und mit ihr zu gehen, und dann doch im letzten Moment die Flucht ergriff. In meiner Welt existierten die großen Erwartungen nur zwischen Buchdeckeln.

Das vom Vater so ersehnte Glück kam nie. Die einzige nette Geste, die das Leben für ihn übrig hatte, war, ihn nicht allzu lange hinzuhalten. Als wir eines Abends zum Nachtdienst bei der Zeitung eintrafen, traten drei Pistolenschützen aus dem Schatten und durchsiebten ihn vor meinen Augen mit Schüssen. Ich erinnere mich noch an den Schwefelgeruch und den schimmernden Rauch, der von den schmauchenden Löchern in seinem Mantel aufstieg. Als ihn einer der Schützen mit einem Kopfschuss vollends töten wollte, warf ich mich auf den Vater, und ein dritter fiel dem Schützen in den Arm. Unsere Blicke trafen sich kurz, während er einen Moment zu überlegen schien, auch mich zu liquidieren. Doch dann rannten sie davon und verschwanden in den engen Gassen zwischen den Fabriken von Pueblo Nuevo.

An jenem Abend ließen die Mörder den Vater in meinen Armen verbluten, und ich blieb allein auf der Welt zurück. Fast zwei Wochen lang verkroch ich mich in der Setzerei der Zeitung zwischen den Linotype-Maschinen, die mir wie eiserne Riesenspinnen vorkamen, und versuchte, das Pfeifen zum Verstummen zu bringen, das mir bei Einbruch der Nacht die Trommelfelle durchbohrte und mich um den Verstand brachte. Als man mich fand, waren meine Hände und Kleider noch von eingetrocknetem Blut verschmiert. Zuerst wusste niemand, wer ich war, da ich eine Woche lang nicht sprach, und als ich es schließlich tat, schrie ich das Wort Vater hinaus, bis mir die Stimme versagte. Als ich nach meiner Mutter gefragt wurde, sagte ich, sie sei gestorben, ich hätte niemanden mehr auf der Welt. Meine Geschichte kam Pedro Vidal zu Ohren, dem Star der Zeitung und Busenfreund des Herausgebers, welcher auf sein Ersuchen hin anordnete, mich als Botenjungen zu beschäftigen und mich bis auf weiteres in der bescheidenen Pförtnerklause im Keller unterzubringen.

In diesen Jahren waren in Barcelonas Straßen Gewalt und Blutvergießen an der Tagesordnung. Es war die Zeit der Pamphlete und Bomben, welche in den Gassen des Raval zuckende, rauchende Körperteile zurückließen, die Zeit der schwarz gewandeten Banden, die die Nacht mit Metzeleien zubrachten, die Zeit der Prozessionen und Paraden von Heiligen und Generalen, die nach Tod und Betrug rochen, der aufwieglerischen Reden, in denen alle logen und alle recht hatten. Die Wut und der Hass, die Jahre später die einen und die anderen dazu brachten, sich im Namen großspuriger Losungen und bunter Fetzen umzubringen, begannen sich bereits in der vergifteten Luft abzuzeichnen. Die ewige Dunstglocke der Fabriken hing schwer über der Stadt und hüllte die Straßenbahnen und Fuhrwerke auf den gepflasterten Alleen ein. Die Nacht gehörte dem Gaslicht und den vom Mündungsfeuer und blauen Pulverdampf durchbrochenen Schatten der Gassen. In diesen Jahren wuchs man rasch heran, und wenn die Kindheit von ihnen abfiel, hatten manche Jungen und Mädchen bereits den Blick von Alten.

 

 

Da ich außer diesem finsteren Barcelona keine weitere Familie mehr besaß, wurde mir jetzt die Zeitung zur Zuflucht und Welt, bis ich mit meinem Gehalt das Zimmer in Doña Carmens Pension mieten konnte. Ich wohnte dort erst eine Woche, als die Hauswirtin zu mir kam und mir mitteilte, vor der Tür frage ein Herr nach mir. Auf dem Treppenabsatz stand ein grau gekleideter Mann mit grauem Blick, der mich mit grauer Stimme fragte, ob ich David Martín sei, mir ein in Packpapier geschlagenes Paket überreichte und die Stufen hinunter verschwand und schließlich noch mit seiner grauen Abwesenheit meine elende Umgebung verpestete. Ich ging mit dem Paket ins Zimmer zurück und schloss hinter mir die Tür. Niemand außer zwei, drei Leuten bei der Zeitung wusste, dass ich hier wohnte. Neugierig riss ich die Verpackung auf – ich hatte in meinem ganzen Leben noch nie ein Paket bekommen. Zum Vorschein kam ein altes Holzkästchen, das mir vertraut vorkam. Ich legte es auf die Pritsche und öffnete es. Es enthielt Vaters alte Pistole, die Waffe, die er von der Armee bekommen hatte und mit der er von den Philippinen zurückgekehrt war, um auf einen frühen, elendiglichen Tod hinzuarbeiten. Neben der Waffe lag ein Schächtelchen Kugeln. Ich nahm die Pistole heraus und wog sie in der Hand. Sie roch nach Pulver und Öl. Ich fragte mich, wie viele Menschen der Vater mit dieser Waffe wohl getötet hatte, ehe er mit ihr seinem eigenen Leben ein Ende zu setzen gedachte und bis ihm andere zuvorkamen. Ich legte sie zurück und klappte das Kästchen zu. In einem ersten Impuls wollte ich es zum Abfall geben, aber dann wurde mir bewusst, dass mir vom Vater nichts blieb als diese Pistole. Einer der üblichen Wucherer hatte nach Vaters Tod das wenige, das wir in jener alten Wohnung gegenüber dem Palau de la Música besessen hatten, konfisziert, um Vaters Schulden zu begleichen, und jetzt vermutlich beschlossen, mich bei meinem Eintritt ins Erwachsenenalter mit diesem makabren Andenken willkommen zu heißen. Ich versteckte das Kästchen auf dem Schrank zuhinterst an der Wand, wo sich der Staub ansammelte und Doña Carmen selbst auf Stelzen nicht hingelangte, und rührte es jahrelang nicht mehr an.

Noch am selben Abend ging ich zu Sempere und Söhne, und da ich mir jetzt als Mann von Welt und nicht ohne Mittel vorkam, verkündete ich dem Buchhändler meine Absicht, dieses alte Exemplar von Große Erwartungen zu erwerben, das ich ihm vor Jahren hatte zurückgeben müssen.

»Sie können dafür verlangen, was Sie wollen«, sagte ich. »Nennen Sie den Preis für sämtliche Bücher, die ich Ihnen in den letzten zehn Jahren nicht bezahlt habe.«

Noch heute sehe ich Semperes trauriges Lächeln, als er mir die Hand auf die Schulter legte.

»Ich habe es heute Morgen verkauft«, sagte er niedergeschlagen.

 

Barcelona 02 - Das Spiel des Engels
titlepage.xhtml
3_split_000.html
3_split_001.html
3_split_002.html
3_split_003.html
3_split_004.html
3_split_005.html
3_split_006.html
3_split_007.html
3_split_008.html
3_split_009.html
3_split_010.html
3_split_011.html
3_split_012.html
3_split_013.html
3_split_014.html
4_split_000.html
4_split_001.html
4_split_002.html
4_split_003.html
4_split_004.html
4_split_005.html
4_split_006.html
4_split_007.html
4_split_008.html
4_split_009.html
4_split_010.html
4_split_011.html
4_split_012.html
4_split_013.html
4_split_014.html
4_split_015.html
5_split_000.html
5_split_001.html
5_split_002.html
5_split_003.html
5_split_004.html
5_split_005.html
5_split_006.html
5_split_007.html
5_split_008.html
5_split_009.html
5_split_010.html
5_split_011.html
5_split_012.html
5_split_013.html
5_split_014.html
5_split_015.html
5_split_016.html
6_split_000.html
6_split_001.html
6_split_002.html
6_split_003.html
6_split_004.html
6_split_005.html
6_split_006.html
6_split_007.html
6_split_008.html
6_split_009.html
6_split_010.html
6_split_011.html
6_split_012.html
6_split_013.html
6_split_014.html
7_split_000.html
7_split_001.html
7_split_002.html
7_split_003.html
7_split_004.html
7_split_005.html
7_split_006.html
7_split_007.html
7_split_008.html
7_split_009.html
7_split_010.html
7_split_011.html
7_split_012.html
7_split_013.html
7_split_014.html
7_split_015.html
7_split_016.html
7_split_017.html
7_split_018.html
8_split_000.html
8_split_001.html
8_split_002.html
8_split_003.html
8_split_004.html
8_split_005.html
8_split_006.html
8_split_007.html
8_split_008.html
8_split_009.html
8_split_010.html
8_split_011.html
8_split_012.html
8_split_013.html
8_split_014.html
8_split_015.html
9_split_000.html
9_split_001.html
9_split_002.html
9_split_003.html