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Dreihundertfünfundsechzig Tage, nachdem ich meine erste Erzählung für Die Stimme der Industrie verfasst hatte, kam ich wie üblich in die Redaktion. Sie war mehr oder weniger verwaist. Nur eine Handvoll Redakteure war da, die vor Monaten noch liebevolle Spitznamen und unterstützende Worte für mich gefunden hatten, jetzt aber meinen Gruß nicht zur Kenntnis nahmen, sondern ein raunendes Grüppchen bildeten. Innerhalb einer Minute hatten sie ihre Mäntel zusammengerafft und verschwanden, als befürchteten sie eine Ansteckung. Ich blieb allein in diesem unauslotbaren Raum zurück und versank im Anblick Dutzender leerer Tische. Langsame, schwere Schritte hinter mir kündigten Don Basilio an.

»Guten Abend, Don Basilio. Was ist denn heute hier los, dass alle gegangen sind?«

Er schaute mich traurig an und setzte sich an den Nebentisch.

»Die ganze Redaktion ist zu einem Weihnachtsessen gegangen. Im Restaurant Set Portes«, sagte er leise. »Vermutlich hat man Ihnen nichts gesagt.«

Ich schützte mit einem Lächeln Gleichgültigkeit vor und schüttelte den Kopf.

»Und Sie, gehen Sie nicht hin?«

Er verneinte.

»Mir ist die Lust vergangen.«

Wir schauten uns schweigend an.

»Und wenn ich Sie einlade?«, bot ich an. »Wohin Sie wollen. Ins Can Solé, wenn es Ihnen recht ist. Nur Sie und ich, um den Erfolg der Geheimnisse von Barcelona zu feiern.«

Don Basilio nickte bedächtig und lächelte. »Martín«, sagte er schließlich. »Ich weiß nicht, wie ich es Ihnen sagen soll.« »Was sagen?« Er räusperte sich.

»Ich darf keine weiteren Folgen der Geheimnisse von Barcelona mehr bringen.«

Verständnislos schaute ich ihn an. Er wich meinem Blick aus.

»Soll ich was anderes schreiben? Etwas mehr in der Art von Galdós?«

»Martín, Sie wissen doch, wie die Leute sind. Es hat Beschwerden gegeben. Ich habe versucht, das Ganze zu stoppen, aber der Chef ist ein schwacher Mensch und mag keine unnötigen Konflikte.«

»Ich verstehe Sie nicht, Don Basilio.«

»Martín, man hat mich gebeten, es Ihnen zu sagen.«

Endlich schaute er mir in die Augen und zuckte die Schultern.

»Ich bin entlassen«, murmelte ich.

Er nickte.

Ich spürte, wie mir gegen meinen Willen Tränen in die Augen traten.

»Jetzt kommt es Ihnen vor wie das Ende der Welt, aber glauben Sie mir, im Grunde ist das das Beste, was Ihnen passieren kann. Dies ist kein Ort für Sie.«

»Und was wäre ein Ort für mich?«

 

»Tut mir leid, Martín. Glauben Sie mir, es tut mir leid.«

Er stand auf und legte mir liebevoll die Hand auf die Schulter.

»Fröhliche Weihnachten, Martín.«

 

Noch am selben Abend räumte ich meinen Schreibtisch und verließ für immer diesen Ort, der mir eine Heimat gewesen war, um in die einsamen, dunklen Straßen der Stadt einzutauchen. Auf dem Weg zur Pension ging ich beim Set Portes unter den Arkaden der Casa Xifré vorbei. Vor dem Restaurant blieb ich stehen und sah drinnen meine Kollegen lachen und anstoßen. Ich hoffte, meine Abwesenheit würde sie glücklich machen oder sie wenigstens vergessen lassen, dass sie es nicht waren und nie sein würden.

Den Rest der Woche ließ ich mich willenlos treiben. Jeden Tag suchte ich in der Bibliothek des Athenäums Zuflucht und glaubte, bei meiner Rückkehr in die Pension würde ich eine Mitteilung des Chefredakteurs vorfinden mit der Bitte, wieder in die Redaktion einzutreten. In einem der Lesesäle zog ich die Karte hervor, die ich nach dem Erwachen in der ›Träumerei‹ in den Händen gehalten hatte, und begann diesem anonymen Wohltäter, Andreas Corelli, einen Brief zu schreiben, den ich am Ende immer wieder zerriss und tags darauf von neuem begann. Am siebten Tag, des Selbstmitleids überdrüssig, beschloss ich, mich auf die unvermeidliche Wallfahrt zu meinem Schöpfer zu machen.

In der Calle Pelayo bestieg ich die Bahn nach Sarrià. Damals verkehrte sie noch oberirdisch, und ich setzte mich vorn in den Wagen, um die Stadt und die Straßen zu betrachten, die umso breiter und herrschaftlicher wurden, je weiter wir uns vom Zentrum entfernten. An der Haltestelle Sarrià stieg ich aus und nahm eine Straßenbahn, die mich zum Kloster Pedralbes brachte. Es war ein für die Jahreszeit ungewöhnlich warmer Tag, und die Brise trug den Duft der die Hügelflanken sprenkelnden Pinien und Ginsterbüsche mit sich. Ich peilte die Avenida Pearson an, an der mehr und mehr gebaut wurde, und erblickte bald die unverwechselbaren Umrisse der Villa Helius. Als ich hinanstieg, sah ich Vidal in Hemdsärmeln im Fenster seines Turms sitzen und eine Zigarette schmauchen. Musik hing in der Luft, und ich erinnerte mich, dass er einer der wenigen Privilegierten war, die einen Rundfunkempfänger besaßen. Wie schön das Leben von dort oben anzusehen sein musste und wie klein ich selbst wohl erschien.

Ich winkte ihm zu, und er grüßte zurück. Als ich bei der Villa ankam, traf ich den Fahrer, Manuel, der eben mit einigen Lappen und einem Eimer dampfenden Wassers zu den Garagen unterwegs war.

»Was für eine Freude, Sie hier zu sehen, David«, sagte er. »Wie geht es Ihnen? Immer noch so erfolgreich?«

»Man tut, was man kann«, antwortete ich.

»Seien Sie nicht so bescheiden, sogar meine Tochter liest die Abenteuer, die Sie in der Zeitung drucken lassen.«

Ich schluckte, überrascht, dass die Tochter des Fahrers nicht nur wusste, dass es mich gab, sondern sogar einige meiner albernen Geschichten gelesen hatte. »Cristina?«

»Eine andere habe ich nicht«, antwortete Don Manuel. »Der Herr ist oben in seinem Arbeitszimmer, wenn Sie hinaufgehen möchten.«

Ich nickte dankend und flüchtete mich ins Haus, wo ich zum Turm im dritten Stock hinaufstieg, der sich inmitten des gebogenen, bunten Ziegeldachs erhob. Dort saß Vidal in seinem Arbeitszimmer, von wo aus man in der Ferne die Stadt und das Meer sah. Er stellte das Radio ab, ein Gerät von der Größe eines kleinen Meteoriten, das er Monate zuvor gekauft hatte, als die ersten Sendungen von Radio Barcelona aus den Studios unter der Kuppel des Hotels Colon angekündigt wurden.

»Das hat mich vierhundert Peseten gekostet, und jetzt gibt es nur Plattitüden von sich.«

Wir setzten uns einander gegenüber. Alle Fenster waren zur Brise hin geöffnet, die mir, dem Bewohner der düsteren Altstadt, nach einer anderen Welt roch. Die Stille war köstlich, wie ein Wunder. Man konnte die Insekten im Garten sirren und die Blätter an den Bäumen im Wind rascheln hören.

»Fast wie im Hochsommer«, tastete ich mich vor.

»Lenk jetzt nicht ab. Man hat mir gesagt, was geschehen ist«, sagte Vidal.

Ich zuckte die Achseln und warf einen Blick auf seinen Schreibtisch. Ich wusste genau, dass er seit Monaten, wenn nicht seit Jahren etwas zu schreiben versuchte, was er einen »ernsten« Roman nannte, weit entfernt von den einfach gestrickten Geschichten seiner Kriminalromane, um seinen Namen in die altehrwürdigsten Bibliotheken einzuschreiben. Es lagen nicht viele Blätter da.

»Wie geht’s dem Meisterwerk?«

Vidal warf die Zigarettenkippe aus dem Fenster und schaute in die Ferne.

»Ich habe nichts mehr zu sagen, David.«

»Unsinn.«

»Alles im Leben ist Unsinn. Es ist nur eine Frage der Perspektive.«

»Das sollten Sie in Ihrem Buch schreiben. Der Nihilist auf dem Hügel. Garantiert ein Erfolg.«

»Wer bald einen Erfolg braucht, das bist du – wenn ich mich nicht täusche, sind deine Mittel so ziemlich am Ende.«

»Ich kann immer noch eine milde Gabe von Ihnen annehmen. Für alles gibt es ein erstes Mal.«

»Jetzt kommt es dir vor wie das Ende der Welt, aber …«

»… bald werde ich merken, dass es das Beste ist, was mir passieren konnte. Sagen Sie nicht, Don Basilio schreibt jetzt Ihre Reden.«

Vidal lachte.

»Was hast du vor?«, fragte er.

»Sie brauchen nicht vielleicht einen Sekretär?«

»Ich habe bereits die beste Sekretärin, die man haben kann. Sie ist intelligenter als ich, unendlich viel fleißiger, und wenn sie lächelt, habe ich sogar das Gefühl, diese schweinische Welt habe so etwas wie eine Zukunft.«

»Und wer ist dieses Wunderkind?«

»Manuels Tochter.« »Cristina.«

»Endlich höre ich dich einmal ihren Namen aussprechen.«

»Sie haben sich eine schlechte Woche ausgesucht, um sich über mich lustig zu machen, Don Pedro.«

»Schau mich nicht mit diesem Opferlammgesicht an. Glaubst du wirklich, Pedro Vidal würde tatenlos zusehen, wie dich diese geizigen und neidischen Durchschnittsmenschen vor die Tür setzen?«

»Ein Wort von Ihnen zum Chef hätte bestimmt alles geändert.«

»Ich weiß. Aus diesem Grund war ich es, der vorgeschlagen hat, dich zu entlassen.«

Ich fühlte mich, als hätte ich eine Ohrfeige bekommen.

»Vielen Dank.«

»Ich habe ihm gesagt, er soll dich entlassen, weil ich etwas viel Besseres für dich habe.« »Betteln?«

»Kleingläubiger Mensch. Erst gestern habe ich mit zwei Partnern über dich gesprochen, die gerade einen neuen Verlag gegründet haben und frisches Blut zum Ausquetschen und Ausbeuten suchen.«

»Klingt wundervoll.«

»Sie kennen natürlich Die Geheimnisse von Barcelona und sind bereit, dir ein Angebot zu unterbreiten, das aus dir einen gestandenen Mann macht.«

»Meinen Sie das ernst?«

»Natürlich meine ich es ernst. Du sollst für sie einen Fortsetzungsroman in dem barocksten, blutrünstigsten und berauschendsten Stil des Grand-Guignol schreiben, der Die Geheimnisse von Barcelona für immer verstummen lässt. Ich glaube, das ist die Chance, auf die du gewartet hast. Ich habe ihnen gesagt, du würdest sie aufsuchen und könntest mit der Arbeit sogleich anfangen.«

Ich seufzte tief. Vidal zwinkerte mir zu und umarmte mich.

 

Barcelona 02 - Das Spiel des Engels
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