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Anwalt Valera wohnte an der Kreuzung von Calle Girona und Calle Ausiàs March in einem riesigen Eckhaus, das aussah wie ein normannisches Schloss. Vermutlich hatte er dieses Monstrum ebenso von seinem Vater geerbt wie die Kanzlei, und in jedem einzelnen Stein steckten das Blut und der Atem ganzer Generationen von Barcelonesen, die nie davon zu träumen gewagt hätten, den Fuß in einen solchen Palast zu setzen. Dem Pförtner sagte ich, Señorita Margarita schicke mich mit einigen Papieren aus der Kanzlei, worauf er mich nach einem Moment des Zögerns hereinließ. Unter seinem aufmerksamen Blick stieg ich langsam die breite Treppe hinauf. Der Absatz im ersten Stock war geräumiger als die meisten Wohnungen, die ich aus meiner Kindheit im nur wenige Meter von hier entfernten alten Ribera-Viertel in Erinnerung hatte. Der Türklopfer war eine Bronzefaust. Als ich ihn ergriff, merkte ich, dass die Tür nur angelehnt war. Ich drückte sie sanft auf und schaute hinein. Die Vorhalle mündete in einen langen, gut drei Meter breiten Korridor mit samtverkleideten Wänden. Ich schloss die Tür hinter mir und spähte ins warme Halbdunkel am Ende des Korridors. Leise Klaviermusik schwebte in der Luft, ein elegant-melancholisches Wehklagen – Granados.
»Señor Valera?«, rief ich. »Ich bin’s, Martín.«
Da ich keine Antwort bekam, wagte ich mich, der traurigen Musik folgend, zwischen Bildern und Mauernischen mit Muttergottes- und Heiligenstatuetten langsam durch den Gang vor. Durch mehrere von Vorhängen umrahmte Bögen gelangte ich ans Ende des Korridors, wo sich ein großer, schwach beleuchteter Salon auftat, dessen Wände vom Boden bis zur Decke mit Bücherregalen bedeckt waren. Im Hintergrund war eine große halb offene Tür zu sehen und jenseits davon das dunkelorange Flackern eines Kaminfeuers.
»Valera?«, rief ich erneut, diesmal etwas lauter.
Im Schein des Feuers zeichnete sich vor dieser Tür eine Silhouette ab. Zwei glänzende Augen musterten mich misstrauisch. Ein Hund, der aussah wie ein deutscher Schäferhund, aber ein weißes Fell hatte, kam langsam auf mich zu. Ich hielt inne, knöpfte behutsam den Mantel auf und tastete nach der Pistole. Der Hund blieb vor mir stehen und schaute mich an, dann entfuhr ihm ein klagendes Winseln. Ich streichelte ihm den Kopf, und er leckte mir die Finger. Schließlich machte er kehrt und ging auf die Tür zu, hinter der das Feuer flackerte. Auf der Schwelle blieb er stehen und schaute mich wieder an. Ich folgte ihm.
Die Tür führte in eine große, vom Kamin dominierte Bibliothek. Das Feuer war die einzige Lichtquelle, und über Wände und Decke tanzten Schatten. In der Mitte stand ein Tisch mit dem Grammophon, aus dem die Klaviermusik kam. Vor dem Feuer, mit der Rückenlehne zur Tür, befand sich ein großer Ledersessel. Der Hund trottete dorthin und schaute zu mir zurück. Als ich näher trat, sah ich auf der Lehne eine Hand mit Zigarette, von der langsam ein blauer Rauchfaden aufstieg.
»Valera? Ich bin’s, Martín. Die Tür stand offen …«
Der Hund legte sich vor den Sessel, ohne die Augen von mir abzuwenden. Langsam ging ich um ihn herum. Anwalt Valera saß in einem Dreiteiler mit offenen Augen und einem angedeuteten Lächeln auf den Lippen vor dem Feuer. Er hielt ein ledergebundenes Heft auf dem Schoß. Ich stellte mich vor ihn und schaute ihm in die Augen. Er zuckte nicht mit der Wimper. Da bemerkte ich den roten Blutstropfen, der ihm langsam über die Wange rann. Ich kniete mich vor ihm hin und nahm das Heft. Der Hund warf mir einen trostlosen Blick zu. Ich streichelte ihm den Kopf.
»Tut mir leid«, flüsterte ich.
Das Heft schien eine Art Notizbuch zu sein, dessen Einträge aus datierten Abschnitten bestanden, die durch eine kurze Linie getrennt waren. Valera hatte es in der Mitte aufgeschlagen. Der erste Eintrag der betreffenden Seite stammte vom 23. November 1904.
Bank-Avis (356-a/23-11-04), 7500 Peseten, a conto Fonds D. M. Überbringung durch Marcel (persönlich) an die von D. M. angegebene Adresse. Passage hinter altem Friedhof, Bildhauerwerkstatt Sanabre und Söhne.
Ich las den Eintrag mehrmals und versuchte, ihm einen Sinn abzugewinnen. Die erwähnte Passage kannte ich aus meiner Zeit bei der Stimme der Industrie. Es handelte sich um ein elendes, hinter den Friedhofsmauern vergrabenes Gässchen in Pueblo Nuevo, in dem sich Werkstätten für Grabsteine und Friedhofsskulpturen aneinanderreihten und das an einem der Flussläufe endete, die den Strand von Bogatell und die sich bis zum Meer erstreckende Hüttensiedlung von Somorrostro durchkreuzten. Aus irgendeinem Grund hatte Marlasca die Anweisung hinterlassen, einer dieser Werkstätten eine beträchtliche Summe zu zahlen.
Auf der Seite dieses Tages gab es einen zweiten Eintrag zu Marlasca, nämlich den Beginn der Zahlungen an Jaco und Irene Sabino.
Banküberweisung aus Fonds D. M. auf Konto Bank Hispano Colonial (Filiale Calle Fernando), Nr. 008965-2564-1. Juan Corbera, Maria Sanahuja. Erste Monatsrate von 7000 Peseten. Zahlungsplan festlegen.
Ich blätterte weiter. Die meisten Einträge betrafen kleinere Ausgaben und Transaktionen im Zusammenhang mit der Kanzlei. Ich musste mehrere Seiten mit kryptischen Erinnerungshilfen durchsehen, um einen neuen Eintrag zu Marlasca zu finden. Wieder ging es um eine durch diesen Marcel, wahrscheinlich einen der Kanzleireferendare, vorgenommene Barzahlung.
Bank-Avis (379-a/29-12-04), 15000 Peseten a conto Fonds D. M. Überbringung durch Marcel. Strand von Bogatell, bei Bahnübergang, 9 Uhr. Kontaktperson wird sich ausweisen.
Die Hexe von Somorrostro, dachte ich. Nach seinem Tod hatte Diego Marlasca durch seinen Partner bedeutende Summen verteilen lassen. Das widersprach Salvadors Verdacht, Jaco sei mit dem Geld geflohen. Marlasca hatte persönlich Zahlungen angeordnet und das Geld in dem von der Anwaltskanzlei betreuten Fonds angelegt. Die anderen beiden Zahlungen legten die Vermutung nahe, dass Marlasca kurz vor seinem Tod mit einem Grabsteinbildhauer und irgendeiner undurchsichtigen Figur aus dem Somorrostro-Viertel Umgang gehabt hatte, einen Umgang, der seinen Niederschlag in der Überweisung einer großen Summe gefunden hatte. Verwirrter denn je klappte ich das Heft zu.
Als ich wieder gehen wollte und mich umdrehte, sah ich, dass an einer der Wände der Bibliothek auf dem granatroten Samt lauter gerahmte Fotografien hingen. Ich trat näher heran und erkannte das mürrische, Ehrfurcht gebietende Gesicht des Patriarchen Valera, dessen Ölbild noch immer das Büro seines Sohnes dominierte. Auf den meisten Bildern sah man den Anwalt mit einer Reihe herausragender Männer und Patrizier der Stadt bei offenbar verschiedenen gesellschaftlichen Veranstaltungen. Man brauchte nur ein Dutzend dieser Porträts anzuschauen und einige von denen, die lächelnd zusammen mit dem alten Anwalt posierten, zu identifizieren, um festzustellen, dass die Kanzlei Valera, Marlasca und Sentis ein wichtiges Rad im Getriebe der Stadt Barcelona war. Valeras Sohn erschien ebenfalls auf einigen Bildern, viel jünger, aber zweifelsfrei zu erkennen, immer im Hintergrund, immer im Schatten des Vaters.
Ich spürte es, bevor ich es sah. Auf dem Bild waren Vater und Sohn Valera zu sehen. Es war vor dem Haus der Kanzlei aufgenommen worden. Neben ihnen stand ein großer, distinguierter Herr. Sein Gesicht tauchte auch auf vielen anderen Fotografien der Sammlung auf, immer an der Seite von Valera. Diego Marlasca. Ich konzentrierte mich auf diesen trüben Blick, das schmale, gelassene Gesicht, das mich aus dieser fünfundzwanzig Jahre alten Momentaufnahme betrachtete. Er war nicht um einen Tag gealtert. Als mir meine Naivität klar wurde, musste ich bitter lächeln. Dieses Gesicht war nicht das auf der Fotografie, die mir mein Freund, der alte Expolizist, gegeben hatte.
Der Mann, den ich als Ricardo Salvador kannte, war niemand anders als Diego Marlasca.