16

Ihr Gesicht war von Erinnerungen gezeichnet, und ihre Augen konnten ebenso gut zehn wie hundert Jahre alt sein. Sie saß an einem kleinen Feuer und betrachtete den Tanz der Flammen fasziniert wie ein Kind. Ihr aschgraues Haar war zu einem Zopf geflochten, ihr Körper schlank und asketisch, ihre Bewegungen waren knapp und gemessen. Sie war in Weiß gekleidet und hatte ein Seidentuch um den Hals geknüpft. Sie lächelte mir warm zu und bot mir einen Stuhl neben sich an. Ich setzte mich. Zwei Minuten lang schwiegen wir und lauschten dem Knistern der Glut und dem Meeresrauschen. In ihrer Gegenwart schien die Zeit stillzustehen, und seltsamerweise war der Albdruck, der mich hergeführt hatte, verflogen. Langsam wurde der Hauch des Feuers spürbar, und an ihrer Seite schmolz die Kälte in meinen Knochen. Erst jetzt wandte sie die Augen von den Flammen. Sie ergriff meine Hand und begann zu sprechen.

»Meine Mutter hat fünfundvierzig Jahre lang in diesem Haus gelebt. Damals war es noch kein Haus, bloß eine Hütte aus Schilf und Strandgut. Selbst nachdem sie sich einen Namen gemacht hatte und von hier hätte weggehen können, weigerte sie sich, es zu tun. Sie sagte immer, an dem Tag, an dem sie das Somorrostro verließe, würde sie sterben. Sie war hier geboren, unter den Menschen des Strandes, und hier blieb sie bis ans Ende ihrer Tage. Es wurde viel über sie erzählt. Viele redeten über sie, und sehr wenige kannten sie wirklich. Viele fürchteten und hassten sie. Auch noch nach ihrem Tod. Ich erzähle Ihnen das alles, weil Sie wissen sollen, dass ich nicht die bin, die Sie suchen. Die Person, die Sie suchen -oder zu suchen meinen –, die viele die Hexe von Somorrostro nannten, war meine Mutter.«

Verwirrt schaute ich sie an.

»Wann …?«

»Meine Mutter ist 1905 gestorben«, sagte sie. »Sie wurde wenige Meter von hier umgebracht, am Strand, durch einen Messerstich in den Hals.«

»Das tut mir leid. Ich habe geglaubt …«

»Das glauben viele Leute. Der Wunsch zu glauben kann sogar stärker sein als der Tod.«

»Wer hat sie umgebracht?«

»Sie wissen, wer.«

Ich antwortete erst nach einem Augenblick. »Diego Marlasca …« Sie nickte. »Warum?«

»Um sie zum Schweigen zu bringen. Um seine Spur zu verwischen.«

»Das verstehe ich nicht. Ihre Mutter hatte ihm doch geholfen … Er selber gab ihr für ihre Hilfe eine große Summe.«

»Ebendarum wollte er sie umbringen, damit sie sein Geheimnis mit ins Grab nähme.«

Sie sah mich leicht lächelnd an, als ob meine Verwirrung sie zugleich amüsiere und ihr Mitleid einflöße.

»Meine Mutter war eine ganz gewöhnliche Frau, Señor Martín. Sie war im Elend aufgewachsen, und ihre einzige Kraft war der Wille zu überleben. Sie hatte nie lesen oder schreiben gelernt, aber sie konnte in die Menschen hineinsehen. Sie fühlte, was sie fühlten, was sie verbargen und sich ersehnten. Sie las es in ihrem Blick, ihren Mienen, ihrer Stimme, ihrem Gang oder ihren Gesten. Sie wusste im Voraus, was andere tun und lassen würden. Aus diesem Grund wurde sie von vielen als Hexe bezeichnet – weil sie in ihnen sehen konnte, was sie selbst nicht sehen wollten. Sie verdiente sich den Lebensunterhalt mit dem Verkauf von Liebes- und Zaubertränken, die sie aus dem Wasser des Bachs, aus Kräutern und einigen Zuckerkörnern herstellte. Sie half verlorenen Seelen, an das zu glauben, woran sie glauben wollten. Als ihr Name immer bekannter wurde, begannen viele vornehme Leute sie aufzusuchen und um ihre Hilfe zu bitten. Die Reichen wollten noch reicher, die Mächtigen noch mächtiger werden. Die Engherzigen wollten sich als Heilige fühlen und die Heiligen für Sünden bestraft werden, die zu begehen sie zu ihrem Leidwesen nicht den Mut gehabt hatten. Meine Mutter hörte alle an und nahm ihre Münzen entgegen. Mit diesem Geld schickte sie mich und meine Geschwister auf die Schulen, die die Kinder ihrer Klienten besuchten. Sie erkaufte uns einen anderen Namen und ein anderes Leben weit weg von diesem Ort. Sie war ein guter Mensch, Señor Martín, lassen Sie sich nicht täuschen. Sie hat nie jemanden ausgenutzt, nie jemandem etwas anderes eingeredet, als was zu glauben für ihn unerlässlich war. Das Leben hatte sie gelehrt, dass wir Menschen nicht nur Luft zum Atmen, sondern ebenso sehr große und kleine Lügen brauchen. Sie sagte immer, wenn wir in der Lage wären, einen einzigen Tag lang vom Morgengrauen bis zur Dunkelheit die Welt und uns selbst völlig ungeschminkt zu sehen, würden wir uns das Leben nehmen oder den Verstand verlieren.« »Aber …«

»Wenn Sie gekommen sind, um Magie zu finden, dann muss ich Sie leider enttäuschen. Meine Mutter hat mir erklärt, dass es keine Zauberei gibt, dass es auf der Welt nicht mehr Böses oder Gutes gibt, als wir uns vorstellen, ob aus Habsucht oder Naivität. Oder in irgendeinem Wahn.«

»Das war aber nicht das, was sie Diego Marlasca erzählt hat, als sie sein Geld annahm«, warf ich ein. »Mit siebentausend Peseten konnte man sich damals bestimmt für einige Jahre einen guten Namen und gute Schulen kaufen.«

»Für Diego Marlasca war es wichtig zu glauben. Meine Mutter half ihm dabei. Das war alles.«

»Woran zu glauben?«

»An seine eigene Rettung. Er war überzeugt, sich selbst verraten zu haben und die, die ihn liebten. Er glaubte, sich einem Weg verschrieben zu haben, der schlecht und falsch war. Meine Mutter dachte, das habe er mit den meisten Menschen gemein, die irgendwann in ihrem Leben innehalten, um in den Spiegel zu sehen. Es sind immer die miesesten Schurken, die sich tugendhaft vorkommen und auf den Rest der Welt herabsehen. Aber Diego Marlasca war ein anständiger Mann, der nicht zufrieden war mit dem, was er sah. Daher kam er zu meiner Mutter. Weil er die Hoffnung und wahrscheinlich auch den Verstand verloren hatte.«

»Hat Marlasca gesagt, was er getan hatte?«

»Er sagte, er habe seine Seele einem Schatten ausgeliefert.«

»Einem Schatten?«

»Das waren seine Worte. Einem Schatten, der ihm folgte, der seine Gestalt hatte, sein Gesicht und sogar seine Stimme.«

»Was sollte das bedeuten?«

»Schuld und Gewissensbisse bedeuten nichts. Dabei geht es nur um Gefühle, Emotionen, nicht um Ideen.«

Ich dachte, treffender hätte das auch der Patron nicht ausdrücken können.

»Und was konnte Ihre Mutter für ihn tun?«, fragte ich.

»Nichts weiter, als ihn zu trösten und ihm zu helfen, ein wenig Frieden zu finden. Diego Marlasca glaubte an die Magie, und daher dachte meine Mutter, sie müsse ihn davon überzeugen, der Weg zu seiner Rettung führe über sie. Sie erzählte ihm von einem alten Zauber, einer Fischerlegende, die sie als kleines Mädchen zwischen den Hütten am Strand aufgeschnappt hatte: Wenn ein Mensch im Leben von seinem Weg abkomme und spüre, dass der Tod einen Preis auf seine Seele ausgesetzt habe, so müsse er eine reine Seele finden, die sich für ihn opfere – damit könne er sein schwarzes Herz tarnen, und der Tod würde vorüberziehen, ohne ihn zu sehen.«

»Eine reine Seele?«

»Frei von Sünde.«

»Und wie wurde das ausgeführt?« »Nicht ohne Schmerzen vermutlich.« »Was für eine Art Schmerzen?« »Ein Blutopfer. Eine Seele für eine andere. Tod für Leben.«

Ein langes Schweigen folgte. Meeresrauschen war zu hören und zwischen den Hütten der Wind.

»Irene hätte sich Herz und Augen aus dem Leib gerissen für Marlasca. Er war für sie der einzige Grund zu leben. Sie liebte ihn blind und glaubte wie er, seine einzige Rettung liege in der Magie. Anfänglich wollte sie sich das Leben nehmen, sich für ihn opfern, aber meine Mutter redete es ihr aus. Sie sagte ihr, was sie bereits wusste, nämlich dass ihre Seele nicht frei von Sünde sei, das Opfer also umsonst wäre. Das sagte sie ihr, um sie zu retten. Um beide zu retten.«

»Vor wem?«

»Vor sich selbst.«

»Aber sie machte einen Fehler …«

»Auch meine Mutter konnte nicht alles sehen.«

»Und was tat Marlasca dann?«

»Das wollte mir meine Mutter nie sagen, ich und meine Geschwister sollten nichts mit dieser Geschichte zu tun haben. Sie schickte uns alle weit weg und verteilte uns auf verschiedene Internate, damit wir vergäßen, woher wir kamen und wer wir waren. Sie sagte, jetzt seien wir die Verdammten. Kurz darauf ist sie gestorben, ganz allein. Das erfuhren wir erst lange danach. Als man ihre Leiche fand, wagte niemand, sie anzurühren, und man ließ das Meer sie forttragen. Niemand wagte, über ihren Tod zu sprechen. Aber ich wusste, wer sie umgebracht hatte und warum. Und noch heute glaube ich, dass meine Mutter wusste, dass sie bald sterben würde und von wessen Hand. Sie wusste es und unternahm nichts dagegen, denn am Ende glaubte sie es selbst. Sie glaubte es, weil sie nicht ertragen konnte, was sie getan hatte. Sie glaubte, wenn sie ihre Seele hingebe, würde sie unsere retten, die Seele dieses Ortes. Aus diesem Grund mochte sie nicht von hier fliehen, denn die alte Legende besagte, die Seele, die geopfert werde, müsse stets an dem Ort bleiben, wo der Verrat begangen worden sei, eine Binde vor den Augen des Todes, auf ewig gefangen.«

»Und wo ist die Seele, die diejenige von Diego Marlasca gerettet hat?«

Die Frau lächelte.

»Es gibt weder Seelen noch Rettungen, Señor Martín. Das sind alte Märchen und Geschwätz. Das Einzige, was es gibt, sind Asche und Erinnerungen, die werden wohl dort sein, wo Marlasca sein Verbrechen begangen hat, das Verbrechen, das er all diese Jahre verborgen hat, um das Schicksal an der Nase herumzuführen.«

»Das Haus mit dem Turm … Ich habe fast zehn Jahre dort gelebt, und da ist nichts.«

Sie lächelte wieder, sah mir fest in die Augen und küsste mich auf die Wange. Ihre Lippen waren eisig wie die einer Leiche. Ihr Atem roch nach verwelkten Blumen.

»Vielleicht haben Sie nicht da gesucht, wo Sie hätten suchen müssen«, raunte sie mir ins Ohr. »Vielleicht ist diese gefangene Seele die Ihre.«

Dann löste sie das Tuch um ihren Hals, und eine lange Narbe kam zum Vorschein. Diesmal war das Lächeln ein böses Grinsen, und die Augen leuchteten mit einem grausamen, spöttischen Glanz.

»Bald wird die Sonne aufgehen. Gehen Sie, solange Sie können«, sagte die Hexe von Somorrostro, kehrte mir den Rücken zu und sah wieder ins Feuer.

In der Tür erschien der Junge im schwarzen Anzug und reichte mir die Hand zum Zeichen, dass meine Zeit um sei. Ich stand auf und folgte ihm. Als ich mich umdrehte, sah ich überraschend mein Bild in einem Spiegel an der Wand. Darin sah man die gebeugte, in Lumpen gehüllte Gestalt einer am Feuer sitzenden Greisin. Ihr dunkles, bitteres Lachen begleitete mich hinaus.

 

Barcelona 02 - Das Spiel des Engels
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