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Als ich Jahre später den Bericht einiger britischer Forscher las, die in der Dunkelheit eines tausendjährigen ägyptischen Grabes in ein Labyrinth von Verwünschungen eingedrungen waren, sollte ich mich an den ersten Besuch im Haus mit dem Turm in der Calle Flassaders erinnern. Der Sekretär war mit einer Öllampe ausgerüstet – im Haus waren nie elektrische Leitungen gelegt worden. Der Buchhalter hatte einen Satz von fünfzehn Schlüsseln bei sich, um die Ketten von den unzähligen Vorhängeschlössern zu befreien. Als er die Haustür öffnete, strömte uns ein feuchtfauliger Grabesgeruch entgegen. Der Buchhalter bekam einen Hustenanfall, und der Verwalter, der mit skeptischem, kritischem Gesicht gekommen war, hielt sich ein Taschentuch vor den Mund.
»Sie zuerst«, lud er mich ein.
Die Eingangshalle war eine Art Innenhof nach Art der alten Paläste in diesem Viertel, mit großen Steinplatten und einer breiten, zum Haupteingang hinaufführenden Steintreppe. In der Höhe blinzelte ein vollständig von Tauben- und Möwenkot verkrustetes gläsernes Oberlicht.
»Jedenfalls gibt es hier keine Ratten«, verkündete ich beim Betreten des Hauses.
»Da muss jemand einen guten Geschmack und gesunden Menschenverstand gehabt haben«, sagte der Verwalter hinter mir.
Wir stiegen die Treppe hinauf bis zum Absatz vor der Wohnung im ersten Stock, wo der Buchhalter zehn Minuten benötigte, um den passenden Schlüssel zu finden. Der Mechanismus gab mit einem Ächzen nach, das nicht unbedingt wie ein Willkommensgruß klang. Die Tür ging auf und gab die Sicht auf einen endlosen Korridor voller Spinnweben frei, die im Dunkeln zitterten.
»Heilige Muttergottes«, murmelte der Verwalter.
Niemand wagte den ersten Schritt, sodass ich auch diesmal die Expedition anführen musste. Der Sekretär hielt die Lampe in die Höhe und betrachtete alles mit gequälter Miene.
Verwalter und Buchhalter schauten sich geheimnisvoll an. Als er sah, dass ich sie beobachtete, lächelte der Mann von der Bank sanft.
»Ein bisschen Staubwischen und ein paar Reparaturen, und Sie haben einen Palast«, sagte er.
»Blaubarts Palast«, ergänzte der Verwalter.
»Sehen wir es doch positiv«, wiegelte der Buchhalter ab. »Das Haus ist seit einiger Zeit unbewohnt, und so was hat immer einige Schäden zur Folge.«
Ich achtete kaum auf sie. Ich hatte so oft von diesem Haus geträumt, wenn ich daran vorbeigegangen war, dass ich seine Gruftatmosphäre kaum wahrnahm. Durch den Hauptkorridor weiter gehend, erforschte ich die Zimmer und Kammern mit ihren alten Möbeln, auf denen eine dicke Staubschicht lag. Auf dem fadenscheinigen Tuch eines Tisches standen Tafelgeschirr und ein Tablett mit versteinerten Früchten und Blumen. Gläser und Besteck erweckten den Eindruck, die Hausbewohner wären mitten im Abendessen aufgebrochen.
Die Schränke waren vollgestopft mit abgetragener Wäsche, verschossenen Kleidungsstücken und Schuhen. Es gab schubladenweise Fotografien, Augengläser, Federn und Uhren. Von den Kommoden her betrachteten uns staubverhüllte Bilder. Die Betten waren ordentlich gemacht und lagen unter einem weißen, im Dämmerlicht glänzenden Schleier. Auf einem Mahagonitisch ruhte ein riesiges Grammophon. Die Nadel war auf der Schallplatte bis zur Mitte geglitten. Ich blies den Staub weg, um das Etikett zu lesen: das Lacrimosa von Mozart.
»Ein Sinfonieorchester im Haus«, sagte der Buchhalter. »Herz, was begehrst du mehr? Sie werden hier wie ein Pascha leben.«
Der Verwalter warf ihm einen mordlustigen Blick zu und schüttelte den Kopf. Wir untersuchten die ganze Wohnung bis zur nach hinten hinausgehenden Veranda, wo auf einem Tisch ein Kaffeeservice stand und in einem Sessel ein aufgeschlagenes Buch darauf wartete, umgeblättert zu werden.
»Sieht aus, als wären sie urplötzlich auf und davon, ohne noch etwas mitnehmen zu können«, sagte ich.
Der Buchhalter räusperte sich.
»Möchte der Herr vielleicht das Arbeitszimmer sehen?«
Das Arbeitszimmer befand sich in einem spitzen Turm, einer eigentümlichen Konstruktion, deren Kern eine vom Hauptkorridor ausgehende Wendeltreppe war und auf deren Wänden die Spuren so vieler Generationen zu lesen waren wie in der Erinnerung der Stadt festgeschrieben. Er thronte wie ein Aussichtsturm über den Dächern des Ribera-Viertels und mündete in eine kleine Laterne aus Buntmetall und -glas, die von einer Wetterfahne in Gestalt eines Drachens gekrönt war.
Über die Treppe gelangten wir zum Wohnzimmer, wo der Buchhalter die großen Fenster aufriss, um Luft und Licht hereinzulassen. Es war ein rechteckiger Raum mit hoher Decke und dunklem Holzboden. Von den vier Fenstern aus sah man auf die Kathedrale Santa Maria del Mar im Süden, den großen Born-Markt im Norden, den alten Francia-Bahnhof im Osten und im Westen auf das unendliche Gewirr von Straßen und Alleen, die sich zum Tibidabo-Hügel hin drängten.
»Na, was sagen Sie? Ein Wunder«, rief der Mann von der Bank begeistert.
Der Verwalter sah sich zurückhaltend und verdrießlich um. Sein Sekretär hielt die Lampe immer noch hoch, obwohl sie gar nicht mehr nötig war. Ich trat an eines der Fenster und schaute verzaubert zum Himmel hinauf.
Zu meinen Füßen erstreckte sich ganz Barcelona, und ich stellte mir vor, wenn ich diese meine neuen Fenster öffnete, würden mir die Straßen in der Abenddämmerung Geschichten und Geheimnisse ins Ohr raunen, damit ich sie auf Papier bannte und allen erzählte, die sie hören wollten. Vidal hatte in den elegantesten Gefilden von Pedralbes inmitten von Hügeln, Bäumen und Wolken seinen herrschaftlichen Elfenbeinturm. Ich würde einen unheimlichen Festungsturm haben, der sich über die ältesten Straßen der Stadt erhob und von dem Pesthauch und der Finsternis eines Gräberfeldes umgeben war, das Dichter wie Mörder die »Feuerrose« genannt hatten.
Was am Schluss den Ausschlag gab, war der Schreibtisch in der Mitte des Arbeitszimmers. Darauf stand wie eine große Metall- und Lichtskulptur eine Underwood-Schreibmaschine, für die allein ich schon die Miete bezahlt hätte. Ich setzte mich in den majestätischen Sessel vor dem Tisch und strich lächelnd über die Tasten. »Ich nehme es.«
Der Buchhalter seufzte erleichtert, der Verwalter verdrehte die Augen und bekreuzigte sich. Noch am selben Nachmittag unterschrieb ich einen Mietvertrag für zehn Jahre. Während die Arbeiter der Elektrizitätsgesellschaft überall Stromleitungen verlegten, begann ich mithilfe eines Trupps aus drei Dienern, die mir Vidal ungefragt geschickt hatte, die Wohnung zu putzen, aufzuräumen und herzurichten. Bald stellte ich fest, dass der Modus Operandi der Elektriker darin bestand, aufs Geratewohl Löcher zu bohren und dann zu fragen. Drei Tage nach ihrem Eintreffen brannte in der Wohnung noch keine einzige Glühbirne, aber dafür sah sie aus, als wäre sie von Gips und Mineralien fressendem Gewürm befallen.
»Gibt es keine andere Art, das zu lösen?«, fragte ich den Bataillonschef, der alles mit dem Hammer regelte.
Otilio, wie diese Naturbegabung hieß, zeigte mir Pläne des Hauses, die mir der Verwalter zusammen mit den Schlüsseln ausgehändigt hatte, und argumentierte, schuld sei das Haus, es sei schlecht gebaut.
»Schauen Sie da«, sagte er. »Wenn was verpfuscht ist, dann ist es eben verpfuscht. Gleich hier. Hier steht, Sie hätten eine Zisterne auf der Dachterrasse. Nee. Die haben Sie im Hinterhof.«
»Na und? Für die Zisterne sind nicht Sie zuständig, Otilio. Konzentrieren Sie sich auf das Elektrische. Strom. Keine Hähne und Rohrleitungen. Strom. Ich brauche Licht.«
»Das hängt eben alles zusammen. Was sagen Sie zur Veranda?«
»Sie hat keinen Strom.«
»Laut den Plänen sollte das eine tragende Wand sein. Aber der Kollege Remigio da hat sie nur leicht getätschelt, und die halbe Mauer ist zusammengekracht. Und von den Zimmern ganz zu schweigen. Laut dem Plan da hat das Zimmer am Ende des Gangs fast vierzig Quadratmeter. Nicht im Traum. Wenn es auf zwanzig kommt, können wir von Glück sagen. Da gibt es eine Wand, wo es gar keine geben dürfte. Und von den Abflüssen, na ja, da fangen wir besser gar nicht erst an. Kein einziger ist da, wo er angeblich sein soll.«
»Sind Sie sicher, dass Sie die Pläne richtig interpretieren?«
»Na hören Sie mal, ich bin vom Fach. Glauben Sie mir, dieses Haus ist eine harte Nuss. Da hat Hinz und Kunz dran rumgefummelt.«
»Tja, Sie werden mit den Dingen zurechtkommen müssen, wie sie sind. Wirken Sie ein Wunder oder was auch immer, aber am Freitag will ich die Wände vergipst und gestrichen und Strom haben.«
»Machen Sie keinen Druck, das ist Präzisionsarbeit. Da muss man strategisch vorgehen.«
»Und was haben Sie vor?«
»Zunächst mal frühstücken gehen.«
»Aber Sie sind doch erst vor einer halben Stunde gekommen.«
»Señor Martín, mit dieser Einstellung kommen wir nicht weiter.«
Das Trauerspiel von Bauarbeiten und Pfuschereien dauerte eine Woche länger als vorgesehen, aber selbst mit Otilio und seinen Wunderknaben, die an Unorten Löcher bohrten und zweieinhalbstündige Frühstückspausen einlegten, hätte ich vor lauter Vorfreude, endlich in diesem Traumhaus zu wohnen, notfalls Jahre bei Kerzen- und Öllicht verbracht. Zu meinem Glück war das Ribera-Viertel nicht nur ein geistiges Reservoir, sondern verfügte auch über Handwerker aller Art. Einen Katzensprung von meinem neuen Domizil entfernt fand ich einen, der mir neue Schlösser installierte, die nicht aussahen wie von der Bastille abgeschraubt, sowie Wandleuchten und Armaturen. Die Vorstellung, Telefon zu haben, überzeugte mich nicht, und nach dem, was ich aus Vidals Rundfunkempfänger gehört hatte, zählte ich nicht zum anvisierten Publikum der von der Presse so apostrophierten »Wellenübertragungsmaschinen«. Ich beschloss, mich mit Büchern und Stille zu umgeben. Aus der Pension nahm ich nichts weiter mit als etwas frische Wäsche und das Kästchen mit der Pistole meines Vaters, das einzige Andenken an ihn. Meine restlichen Kleider und persönlichen Gebrauchsgegenstände verteilte ich an die anderen Pensionsgäste. Hätte ich auch Haut und Erinnerung zurücklassen können, ich hätte es getan.
An dem Tag, als der erste Band der Stadt der Verdammten erschien, verbrachte ich meine erste Nacht in dem elektrifizierten Haus mit Turm. Der Roman war eine frei erfundene, verwickelte Geschichte rund um den ›Träumerei‹-Brand von 1903 und ein geisterhaftes Geschöpf, das seither durch die Straßen des Raval spukte. Noch bevor die Druckerschwärze der Erstausgabe trocken war, begann ich schon die Arbeit am zweiten Roman der Reihe. Nach meinen Berechnungen musste Ignatius B. Samson bei monatlich dreißig Tagen ununterbrochener Arbeit im Durchschnitt täglich 6,66 taugliche Manuskriptseiten produzieren, um den Vertrag zu erfüllen, was ein Wahnsinn war, aber den Vorteil hatte, dass mir nicht viel Freizeit blieb, um mir dessen bewusst zu sein.
Ich merkte kaum, dass ich, während die Tage dahingingen, allmählich mehr Kaffee und Zigaretten konsumierte als Sauerstoff. Je mehr ich mein Hirn vergiftete, desto mehr hatte ich den Eindruck, es werde zu einer Dampfmaschine, die gar nicht mehr abkühlte. Ignatius B. Samson war jung und zäh. Ich arbeitete die ganze Nacht und sank in der Morgendämmerung wie gerädert in seltsame Träume, in denen sich die Buchstaben auf dem Blatt in der Schreibmaschine vom Papier lösten und wie Spinnen über meine Hände und mein Gesicht liefen, durch die Haut drangen und sich in meinen Adern einnisteten, bis mein Herz schwarz überzogen war und mein Blick mit dunklen Tintenpfützen umwölkt. Wochenlang verließ ich das alte Haus kaum und vergaß, welcher Tag und welcher Monat es war. Ich schenkte den Kopfschmerzen keine Beachtung, die mich immer wieder schlagartig befielen, als bohrte sich mir ein Metallstichel in den Schädel, und mir mit einem weißen Blitz die Sicht versengten. Ich hatte mich daran gewöhnt, mit einem dauernden Pfeifen in den Ohren zu leben, das nur das Raunen des Windes oder der Regen übertönen konnte. Wenn kalter Schweiß mein Gesicht bedeckte und meine Hände auf der Tastatur der Underwood zitterten, nahm ich mir manchmal vor, am nächsten Tag den Arzt aufzusuchen. Doch dann galt es, an diesem Tag wieder eine weitere Szene und eine weitere Geschichte zu erzählen.
Als Ignatius B. Samson ein Jahr alt wurde, beschloss ich, mir zu seinem Geburtstag einen freien Tag zu schenken und mich wieder mit der Sonne, dem Wind und den Straßen der Stadt auszusöhnen, die ich nicht mehr betreten hatte, um sie mir nur noch in der Phantasie vorzustellen. Ich rasierte mich, machte mich zurecht und schlüpfte in meinen besten Anzug. Ich öffnete die Fenster des Arbeitszimmers und der Veranda, um die Wohnung durchzulüften und den dichten Dunst, der zu ihrem ureigenen Geruch geworden war, in alle Winde zu zerstreuen. Als ich auf die Straße hinunterging, steckte in der Spalte unter dem Briefkasten ein großer Umschlag. Darin fand ich ein Blatt Pergament mit dem Engelssiegel und folgenden Worten in der bekannten erlesenen Handschrift:
Lieber David,
ich wollte der Erste sein, der Sie in diesem neuen Abschnitt Ihrer Karriere beglückwünscht. Ich habe die Lektüre der ersten Folgen von Die Stadt der Verdammten außerordentlich genossen. Ich haue darauf, dass Ihnen dieses kleine Geschenk zusagt.
Noch einmal drücke ich Ihnen hiermit meine Bewunderung aus und den Wunsch, dass sich eines Tages unsere Wege kreuzen. In der Gewissheit, dass dem so sein wird, grüßt Sie herzlich Ihr Freund und Leser
Andreas Corelli
Das Geschenk bestand in dem Exemplar der Großen Erwartungen, das mir Señor Sempere in meiner Kindheit erst geschenkt und das ich ihm dann zurückgegeben hatte, bevor mein Vater es finden konnte, demselben, das an dem Tag, da ich es nach Jahren zu jedem Preis zurückkaufen wollte, in den Händen eines Fremden verschwunden war. Ich betrachtete den Block Papier, der für mich vor nicht allzu langer Zeit die ganze Magie und alles Licht der Welt enthalten hatte. Auf dem Deckel waren noch die Flecken von meinem Blut zu sehen. »Danke«, murmelte ich.