36

Im Arbeitszimmer wartete ich im Sessel auf eine Morgendämmerung, die nicht kommen wollte, bis mich die Wut aus dem Haus trieb, um der Warnung von Anwalt Valera zu trotzen. Draußen pfiff die schneidende Kälte, die im Winter dem Tagesanbruch vorangeht. Beim Überqueren des Paseo del Born glaubte ich Schritte hinter mir zu hören. Ich sah mich um, erblickte aber niemanden außer den Marktburschen, die die Wagen abluden, und setzte meinen Weg fort. Auf der Plaza del Palacio sichtete ich im Dunst, der vom Hafen heranzog, die Lichter der ersten Straßenbahn. Schon sah ich über der Oberleitung blaue Funken sprühen. Ich stieg ein und setzte mich ganz nach vorn. Den Fahrschein händigte mir derselbe Schaffner wie beim vorigen Mal aus. Nach und nach tröpfelte ein Dutzend Fahrgäste herein, alle allein. Wenige Minuten später ruckte die Bahn los, während sich am Himmel zwischen schwarzen Wolken ein Netz rötlicher Kapillaren aufspannte. Man musste kein Dichter oder Weiser sein, um zu wissen, dass es kein schöner Tag werden würde.

 

Als wir in Sarrià eintrafen, war der Tag mit einem fahlen Licht angebrochen, in dem alles farblos schien. Ich stieg die einsamen Gassen des Viertels zur Flanke des Berges hinauf. Wieder glaubte ich bisweilen Schritte hinter mir zu hören, aber immer, wenn ich stehen blieb und mich umschaute, war niemand da. In dem Gässchen, das zum Haus Marlasca führte, bahnte ich mir einen Weg durch die Laubdecke, die unter meinen Füßen raschelte. Langsam ging ich durch den Patio und stieg die Stufen zur Haustür hinauf, wo ich seitlich durch die Fenster spähte. Ich ließ den Türklopfer dreimal fallen und trat einige Schritte zurück. Als ich nach einer Minute keine Antwort bekam, klopfte ich abermals. Das Echo der Schläge verlor sich im Inneren. »Hallo?«, rief ich.

Die Bäume, die das Haus umgaben, schienen den Klang meiner Stimme zu verschlucken. Ich ging ums Haus herum bis in den Garten mit dem Schwimmbecken und von dort zu der verglasten Veranda. Die Fenster waren hinter halb geschlossenen Holzläden verborgen, sodass man nicht hineinsehen konnte. Eines der Fenster, direkt neben der Glastür der Veranda, war nur angelehnt. Durch die Scheibe war der Türriegel zu erkennen, und als ich mit dem Arm durch das offene Fenster langte, konnte ich ihn zurückzuschieben. Die Tür gab mit einem metallischen Geräusch nach. Ich sah mich noch einmal um und vergewisserte mich, dass niemand da war, dann trat ich ein.

 

Sowie sich meine Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten, wurden die Konturen des Zimmers erkennbar. Ich drückte leicht die Fensterläden auf, um ein wenig Licht hereinzulassen. Ein Fächer aus Strahlen ließ die Gegenstände im Raum hervortreten. »Jemand da?«, rief ich.

Meine Stimme verlor sich im Haus wie eine Münze in einem bodenlosen Schacht. Ich ging quer durch den Raum, wo ein gebogener, mit Holz verzierter Durchgang auf einen dunklen Korridor hinausführte. Zu beiden Seiten hingen an samtbezogenen Wänden verschwommene Gemälde. Am Ende des Korridors öffnete sich ein großer runder Salon mit Mosaikböden und einem Wandbild wie Email, auf dem eine weiße Engelsgestalt mit ausgestrecktem Arm und Fingern aus Feuer zu sehen war. Eine breite Steintreppe führte an den Wänden des Raums entlang in einer Spirale nach oben. An ihrem Fuß blieb ich stehen und rief erneut.

»Hallo? Señora Marlasca?«

Das Haus lag in vollkommener Stille da, meine Worte verklangen in einem schwachen Widerhall. Ich stieg zum ersten Stock hinauf und blieb auf dem Treppenabsatz stehen, von dem aus man den Salon mit dem Wandbild überblicken konnte. Ich sah meine Fußabdrücke in der Staubschicht auf dem Boden. Außerdem sah ich im Staub eine Art Gleis aus zwei parallelen Linien im Abstand von zwei oder drei Handbreit und dazwischen Fußabdrücke. Große Fußabdrücke. Verwirrt betrachtete ich diese Spur, bis mir aufging, was ich da sah. Die Spur eines Rollstuhls und die Fußstapfen der Person, die ihn geschoben hatte.

Ich glaubte hinter mir ein Geräusch zu hören und wandte mich um. Eine angelehnte Tür am Ende des Flurs bewegte sich leicht. Ein kalter Wind kam von dort. Langsam ging ich auf die Tür zu. Dabei warf ich einen Blick in die Zimmer auf beiden Seiten – Schlafzimmer, deren Möbel mit weißen Tüchern zugedeckt waren. Die geschlossenen Fenster und das stickige Halbdunkel ließen ahnen, dass sie seit langem unbenutzt waren, mit Ausnahme eines etwas größeren Raums, in dem sich ein Ehebett befand. Ich trat ein und roch die seltsame Mischung aus Parfüm und Krankheit, die alte Menschen verströmen. Vermutlich war dies das Zimmer der Witwe Marlasca, aber nichts deutete auf ihre Anwesenheit hin.

Das Bett war ordentlich gemacht. Davor stand eine Kommode mit einer Reihe gerahmter Porträts. Ausnahmslos auf allen war ein Junge mit hellen Haaren und fröhlichem Gesicht zu sehen. Ismael Marlasca. Auf einigen posierte er mit seiner Mutter oder mit anderen Kindern. Nirgends erschien Diego Marlasca.

Wieder schreckte mich das Geräusch einer klappenden Tür auf, und ich verließ das Schlafzimmer und die Fotos. Die Tür am Ende des Flurs bewegte sich immer noch leicht. Bevor ich eintrat, hielt ich einen Augenblick inne und atmete tief ein, dann stieß ich die Tür auf.

Alles war weiß. Wände und Decke waren makellos weiß gestrichen. Weiße Seidengardinen. Ein kleines, mit weißen Tüchern bezogenes Bett. Ein weißer Teppich. Weiße Regale und Schränke. Nach dem Halbdunkel im übrigen Haus war ich von so viel Helligkeit einige Sekunden lang geblendet. Der Raum schien einem Traum, einer Märchenphantasie entsprungen. In den Regalen Spielzeuge und Märchenbücher. Vor einem Toilettentisch saß ein lebensgroßer Harlekin aus Porzellan und betrachtete sich im Spiegel. An der Decke hing ein Mobile aus weißen Vögeln. Auf den ersten Blick wirkte es wie das Zimmer eines verhätschelten Kindes, Ismael Marlasca, aber es hatte die beklemmende Atmosphäre einer Totenkammer.

 

Ich setzte mich aufs Bett. Erst jetzt merkte ich, dass irgendetwas nicht stimmte. Es war der Geruch – ein süßlicher Gestank lag in der Luft. Ich stand auf, schaute mich um und ging zweimal im Zimmer auf und ab, ohne die Ursache finden zu können. Auf einem Sakristeischrank befand sich ein Porzellanteller mit einer schwarzen Kerze inmitten dunkler Tropfen. Ich drehte mich um. Der Gestank schien vom Kopfende des Bettes herzukommen. Ich zog die Nachttischschublade auf und fand ein in drei Teile zerbrochenes Kruzifix. Der Gestank war stärker geworden. Da sah ich es – unter dem Bett lag etwas. Ich kniete nieder und zog eine der Blechdosen hervor, in denen Kinder ihre Schätze verwahren, und stellte sie auf das Bett. Der Gestank war jetzt viel deutlicher und durchdringender. Ich ignorierte die aufsteigende Übelkeit und nahm den Deckel ab. In der Dose lag eine weiße Taube, deren Herz mit einer Nadel durchbohrt war. Ich wich einen Schritt zurück, bedeckte Mund und Nase mit der Hand und floh dann auf den Flur hinaus. Im Spiegel beobachteten mich die Augen des schakalisch grinsenden Harlekins. Ich rannte zur Treppe und stürzte die Stufen hinunter, um zu dem in die Veranda führenden Korridor und der Tür zu gelangen, die ich vom Garten aus geöffnet hatte. Einen Moment lang dachte ich, ich hätte mich verirrt und das Haus wolle mich nicht hinauslassen, als wäre es ein Wesen, das Flure und Zimmer nach Lust und Laune verschieben konnte. Endlich sah ich die verglaste Veranda und lief zur Tür. Erst als ich mit dem Riegel rang, hörte ich das heimtückische Lachen hinter mir und wusste, dass ich in diesem Haus nicht allein war. Ich wandte mich um und sah eine dunkle Gestalt, die mich vom anderen Ende des Korridors beobachtete. Sie hatte einen glänzenden Gegenstand in der Hand. Ein Messer.

Das Schloss gab nach, und ich stieß die Tür mit solcher Wucht auf, dass ich der Länge nach auf die Marmorplatten am Schwimmbecken fiel. Mein Gesicht landete nur eine Handbreit von der Wasseroberfläche entfernt, sodass mir der Gestank des fauligen Wassers in die Nase stieg. Ich starrte ins Dunkel über dem Beckengrund. Da tat sich zwischen den Wolken ein Spalt auf, und die Sonne schien ins Wasser und strich über den zerbröckelten Mosaikboden. Das Bild zeigte sich nur einen Augenblick. Der Rollstuhl war auf dem Grund gestrandet und nach vorn gekippt. Das Licht wanderte weiter bis zur tiefsten Stelle des Schwimmbeckens, und dort erblickte ich sie. An der Seitenwand lehnte ein Körper, in ein weißes, im Wasser schwebendes Kleid gehüllt. Zuerst dachte ich an eine Puppe – die scharlachroten Lippen waren im Wasser aufgequollen, die Augen leuchteten wie Saphire. Langsam wallte das rote Haar im fauligen Wasser, die Haut war blau. Die Witwe Marlasca. Eine Sekunde später zogen sich die Wolken wieder zusammen, und das Wasser war der trübe Spiegel von ehedem, in dem ich nur mein Gesicht und einen Schatten sehen konnte, der jetzt hinter mir auf der Schwelle der Veranda mit dem Messer in der Hand Gestalt annahm. Ich schoss hoch und rannte los, durch den Garten, zwischen den Bäumen hindurch, mir an den Büschen Gesicht und Hände zerkratzend, bis ich zum Eisentor und auf die Straße gelangte. Ich rannte weiter und blieb erst auf der Carretera de Vallvidrera stehen. Völlig außer Atem, wandte ich mich um und sah, dass das Haus Marlasca wieder am Ende des Gässchens verborgen war, unsichtbar für die Welt.

 

Barcelona 02 - Das Spiel des Engels
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