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Die Menschenmenge hatte sich vor dem Friedhofstor versammelt und wartete auf das Eintreffen des Fuhrwerks. Niemand traute sich zu sprechen. In der Ferne waren das Tosen des Meeres und das Rattern eines Güterzuges zu hören, der unterwegs zu den Fabriken hinter dem Gottesacker war. Es war kalt, und Schneeflocken tanzten im Wind. Kurz nach drei Uhr nachmittags bog der von schwarzen Pferden gezogene Wagen zwischen Zypressen und alten Lagerhäusern in die Avenida Icaria ein. Semperes Sohn und Isabella fuhren mit. Sechs Kollegen der Barceloneser Buchhändlerzunft, unter ihnen Don Gustavo, hievten sich den Sarg auf die Schultern und trugen ihn auf den Friedhof. Ein schweigsamer Menschenzug folgte ihnen zwischen Gräbern und Familiengrüften hindurch unter einer tiefen, wie eine Quecksilberfläche schillernden Wolkendecke. Jemand fand, Semperes Sohn sei in einer einzigen Nacht um fünfzehn Jahre gealtert. Man nannte ihn Señor Sempere – jetzt war er für die Buchhandlung verantwortlich, und über vier Generationen hinweg hatte dieser verzauberte Basar in der Calle Santa Ana nie einen anderen Namen getragen und war immer von einem Señor Sempere geleitet worden. Isabella führte ihn am Arm, und ich hatte den Eindruck, ohne sie wäre er zusammengebrochen wie eine Marionette ohne Fäden.

Der Pfarrer der Kirche Santa Ana, ein Veteran im Alter des Verstorbenen, wartete vor dem offenen Grab und einer schmucklosen Marmorplatte, die davor lag. Die sechs Buchhändler setzten den Sarg vor der Grube ab. Barceló hatte mich erblickt und nickte mir zu. Ob aus Feigheit oder Respekt – ich zog es vor, im Hintergrund zu bleiben. Von dort aus konnte ich in etwa dreißig Meter Entfernung das Grab meines Vaters sehen. Sowie sich die Gemeinde um den Sarg herum versammelt hatte, schaute der Pfarrer mit einem Lächeln auf.

»Señor Sempere und ich waren fast vierzig Jahre lang befreundet, und in dieser ganzen Zeit haben wir nur ein einziges Mal über Gott und die Mysterien des Lebens gesprochen. Kaum einer weiß, dass der liebe Sempere keine Kirche mehr betreten hatte seit dem Tode seiner Gattin Diana, an deren Seite wir ihn heute betten wollen, auf dass sie für immer nebeneinander ruhen. Vielleicht galt er aus diesem Grund als Atheist, doch er war ein Mann des Glaubens. Er glaubte an seine Freunde, an die Wahrheit und an etwas, dem er weder Namen noch Gesicht zu geben wagte – er sagte, dazu seien wir Geistliche da. Señor Sempere glaubte, dass wir alle Teil von etwas Höherem seien. Wenn wir diese Welt verließen, würden unsere Erinnerungen und Sehnsüchte nicht verloren gehen, sondern zu den Erinnerungen und Sehnsüchten derer werden, die uns nachfolgen. Er war sich nicht sicher, ob wir Gott nach unserem Vorbild geschaffen hatten oder ob Gott uns geschaffen hatte, ohne recht zu wissen, was er tat. Er glaubte, Gott – oder was immer uns hierhergebracht hat – lebe in jeder unserer Handlungen, in jedem unserer Worte und manifestiere sich in allem, was uns zu mehr als reinen Lehmfiguren macht. Señor Sempere glaubte, Gott lebe auch ein wenig – oder gerade – in den Büchern, und aus diesem Grund widmete er sein Leben dem Bemühen, sie mit anderen zu teilen, sie zu schützen und sicherzustellen, dass ihre Seiten, wie unsere Erinnerungen und Sehnsüchte, nie verloren gingen. Er glaubte – und das lehrte er auch mich –, solange noch eine einzige Person auf der Welt fähig wäre, Bücher zu lesen und zu leben, gebe es auch noch ein Stück von Gott oder vom Leben. Ich weiß, dass es mein Freund nicht geschätzt hätte, wenn wir ihm mit Predigten und Gesängen das letzte Geleit gegeben hätten. Ich weiß, dass es ihm genügt hätte, zu wissen, dass ihn seine Freunde, die heute so zahlreich zu seinem Abschied gekommen sind, nie vergessen werden. Ich habe keinen Zweifel, dass der Herr, auch wenn der alte Sempere es nicht erwartet hat, unseren lieben Freund bei sich aufnehmen wird und dass er weiterleben wird in den Herzen all derer, die heute hier versammelt sind, all derer, die eines Tages durch ihn die Magie der Bücher entdeckt haben, und all derer, die irgendwann, selbst wenn sie ihn nicht gekannt haben, die Schwelle seiner kleinen Buchhandlung überschreiten werden, wo, wie er zu sagen pflegte, die Geschichte gerade begonnen hat. Mögen Sie in Frieden ruhen, mein lieber Sempere, und gebe Gott uns allen die Möglichkeit, Ihr Andenken zu ehren und dankbar zu sein für das Privileg, Sie gekannt zu haben.«

Tiefes Schweigen breitete sich auf dem Friedhof aus, nachdem der Pfarrer fertig gesprochen, mit gesenktem Blick den Sarg gesegnet und sich einige Schritte zurückgezogen hatte. Auf einen Wink des Chefs des Bestattungsinstituts traten die Totengräber vor und senkten den Sarg an Seilen langsam ins Grab. Ich erinnere mich an das Geräusch, als er den Boden erreichte, und an das erstickte Schluchzen unter den Anwesenden. Ich erinnere mich, wie ich dort stand, unfähig, einen Schritt zu tun, während die Totengräber das Grab mit der großen Marmorplatte zudeckten, auf der nur das Wort Sempere stand und unter der seit sechsundzwanzig Jahren seine Gattin Diana ruhte.

Allmählich zog sich die Trauergemeinde zurück und teilte sich dabei in Gruppen auf, die nicht wussten, wohin sie sich wenden sollten – niemand mochte wirklich gehen und den armen Señor Sempere allein zurücklassen. Barceló und Isabella nahmen den Sohn in ihre Mitte und begleiteten ihn. Ich blieb stehen, bis sich alle entfernt hatten, und erst dann wagte ich, an Semperes Grab zu treten, wo ich niederkniete und die Hand auf den Marmor legte.

»Bis bald«, murmelte ich.

Ich hörte ihn herankommen und wusste, dass er es war, noch ehe ich ihn sah. Ich stand auf und wandte mich um. Mit dem traurigsten Lächeln, das ich je gesehen habe, streckte mir Pedro Vidal die Hand entgegen.

»Willst du mir nicht die Hand geben?«, fragte er.

Ich tat es nicht. Einige Sekunden später nickte Vidal wie für sich und zog die Hand zurück.

»Was suchen Sie hier?«, herrschte ich ihn an.

»Sempere war auch mein Freund«, antwortete er.

»Aha. Und Sie sind allein?«

Vidal schaute mich verständnislos an.

»Wo ist sie?«, fragte ich.

»Wer?«

Ich ließ ein bitteres Lachen hören. Barceló, der uns bemerkt hatte, kam mit bestürzter Miene zurück.

»Mit welchem Versprechen haben Sie sie diesmal gekauft?«

Vidals Blick wurde hart. »Du weißt nicht, was du sagst, David.« Ich trat so nahe an ihn heran, dass ich seinen Atem im Gesicht spürte.

»Wo ist sie?«, wiederholte ich. »Ich weiß es nicht.«

»Natürlich.« Ich wandte mich ab und wollte zum Ausgang gehen, aber Vidal fasste mich am Arm und hielt mich zurück.

»Warte, David …«

Bevor mir recht bewusst wurde, was ich tat, drehte ich mich um und verpasste ihm einen Schlag. Meine Faust prallte gegen sein Gesicht, sodass er nach hinten stürzte. Ich sah Blut an meiner Hand und hörte jemanden herbeihasten. Zwei Arme hielten mich fest und zogen mich von Vidal weg.

»Um Gottes willen, Martín …«, sagte Barceló.

Er kniete neben dem keuchenden Vidal nieder, dessen Mund voller Blut war. Barceló stützte seinen Kopf und warf mir einen wütenden Blick zu. Ich entfernte mich rasch. Auf dem Weg begegnete ich einigen Trauernden, die stehen geblieben waren, um den Streit zu verfolgen. Ich hatte nicht den Mut, ihnen ins Gesicht zu blicken.

 

Barcelona 02 - Das Spiel des Engels
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