19. Dezember
2013
Brüssel, Belgien
Das Essen war beendet, und George und Appleby waren in die Sessel am Fenster umgezogen. In ihren Gläsern glitzerte Calvados. George fühlte sich ganz aufgekratzt nach diesem Abend. Vielleicht hatte er sich auch nur eingebildet, dass über diesem Treffen eine dunkle Wolke hing?
«Ich will ehrlich zu dir sein, George. Ich glaube, du hast das Zeug dazu, nach ganz oben zu kommen. Wie lange bist du jetzt bei Merchant & Taylor? Drei Jahre?»
«Ja, drei Jahre und ein paar Monate», antwortete George. «Die Zeit verging wahnsinnig schnell.»
«In der Tat! Du hast eine Blitzkarriere gemacht. Ich glaube nicht, dass ich nach drei Jahren schon ein eigenes Büro hatte.» Appleby schnitt eine Grimasse. «Du hast mindestens zwanzig Prozent mehr fakturierte Stunden als irgendjemand sonst in deiner Generation. Die Kunden mögen dich. Ich mag dich.»
Er verstummte und schien nachzudenken. George wollte ihn dabei nicht unterbrechen. Das hier war gut. Appleby lehnte sich im Ledersessel zurück und hielt sein Glas gegen den Schein der Kerzen auf dem Esstisch, als wollte er seinen Inhalt analysieren.
«In unserer Branche geht es immer darum, Kohle zu machen, George», fuhr er fort. «Kohle zu machen und dabei gleichzeitig Probleme zu vermeiden. So ist es wohl überall, aber unsere Branche ist trotzdem besonders. Lobbyismus. Die Leute begreifen nicht, was wir eigentlich tun. Welches Gewicht das hat. Es gibt immer ignorante Idioten, die uns attackieren. Sie nennen uns Legionäre und glauben, wir wären vollkommen unmoralisch. In jeder beschissenen Umfrage geben die Leute an, dass sie uns nicht leiden können. Dass sie uns nicht über den Weg trauen!»
Appleby machte eine hilflose Geste mit den Händen. Als wäre es ihm vollkommen unverständlich, wie irgendjemand ihm nicht über den Weg trauen könnte.
«Die Politiker behaupten auch, sie könnten uns nicht leiden. Dass unser Einfluss so weit wie möglich reduziert werden sollte. Aber in Wahrheit würde kein Einziger von ihnen ohne unser Geflüster in seinen Ohren auch nur eine Woche überleben. Wo wären sie heute, wenn wir ihnen nicht die Kontakte vermitteln und ihre Wähler mobilisieren würden? Wir sind das Öl in ihrem Getriebe. Wir schmieren ihnen Tag für Tag die Zahnrädchen. Dafür müssen sie es hinnehmen, dass wir die Maschine mitunter, wenn es niemand sieht, ein wenig an die Bedürfnisse unserer Kunden anpassen. Aber das ist ein geringer Preis für den Beitrag, den wir leisten.»
Appleby nahm einen kleinen Schluck aus seinem Glas. George hätte wahnsinnig gern eine Zigarette geraucht, doch natürlich konnte er jetzt nicht einfach aufstehen und hinausgehen.
«Aber was wir tun, kann man nicht immer im Hellen tun», fuhr Appleby fort. «Manche unserer Kunden fühlen sich im Schatten wohler, und einige unserer Methoden passen auch besser dorthin, und das ist nicht weiter verwunderlich. Nur ein Teil des Spiels. Aber manchmal brauchen wir Schutz und jemanden, der uns auf die Sprünge hilft.»
Er verstummte und starrte geradewegs in die Luft. George überlegte plötzlich, ob Appleby betrunken war. Bisher hatte er nicht so gewirkt.
«Ich bin mir nicht sicher, ob ich verstehe …», begann George versuchsweise und führte sein Glas an die Lippen.
Appleby wandte sich wieder ihm zu. «Nicht? Nun, das kann ich dir nicht verübeln. Worüber wir hier sprechen, liegt above your paygrade. Und ich werde nicht ins Detail gehen. Eines Tages wirst du mehr verstehen. Ob du willst oder nicht – wenn du in dieser Branche bleiben möchtest, wirst du gezwungen sein, hinter die Kulissen zu blicken. Was ich sagen wollte: Wir haben das, was man Beschützer nennen könnte, in unterschiedlichen Positionen der Gesellschaft. Wir kraulen uns gegenseitig den Rücken. Und manchmal werden wir einberufen, um unsere Schulden bei diesen sogenannten Beschützern zu begleichen. Das ist ehrlich gesagt nicht immer nett. Aber es ist notwendig.»
Jetzt sah Appleby George direkt in die Augen. Er hatte auf keinen Fall einen im Tee. Ganz im Gegenteil, er war vollkommen nüchtern. George wurde nervös. Verdammt, genau das hatte er vorhin geahnt. Man wird nie umsonst eingeladen. Nie.
«Aber es lohnt sich, seine Schulden abzubezahlen. Hat dein Ministerpräsident darüber nicht sogar ein Buch geschrieben? Irgendwann in den Neunzigern? Wer in der Schuld eines anderen steht, ist niemals frei oder so etwas?»
Appleby lächelte vorsichtig.
«Ähm, ja, das stimmt», erwiderte George. «Ich glaube nicht, dass es ins Englische übersetzt wurde. Und es war nicht mein Ministerpräsident, wenn du verstehst, was ich meine.»
«Ach ja, natürlich», sagte Appleby und grinste noch breiter. «Im Unterschied zu allen deinen Landsleuten bist du ja kein Sozialdemokrat. Wie auch immer, zurzeit sind wir jedenfalls nicht frei. Merchant & Taylor hat eine Schuld zu begleichen. Um ehrlich zu sein, sogar mehrere. Wir haben unseren Kredit voll ausgeschöpft, und jetzt ist es an der Zeit, ihn zurückzuzahlen. An und für sich ist es ein guter Kredit. Für die wenigen Dinge, um die sie uns bitten, bieten sie uns ein Vielfaches. Und das gilt nicht nur für Merchant & Taylor, sondern auch für die Personen, die diese Dienste erledigen. Verstehst du, was ich damit meine?»
George bekam erneut eine Gänsehaut. Er hatte das Gefühl, kurz davorzustehen, in etwas Großes eingeweiht zu werden. Einen Geheimbund, eine Bruderschaft.
«Ich weiß nicht», sagte er zögerlich. «Spielst du auf etwas Bestimmtes an?»
Appleby antwortete nicht gleich, sondern blickte stattdessen auf seine enorme Armbanduhr.
«Nicht alle Kunden sind das, was sie vorgeben, George», sagte er schließlich. «Denk immer daran. Mache es dir leicht. Grüble nicht zu viel. Arbeite so weiter, wie du angefangen hast. Tu, worum man dich bittet. Stelle deine Arbeit angemessen in Rechnung. Dann wird alles für uns viel einfacher. Und denk daran, dass Merchant & Taylor diejenigen, die geholfen haben, die Schulden zu begleichen, nicht vergisst. Du bist schon weit gekommen. Jetzt ist es Zeit für den nächsten Schritt, und dabei geht es nicht nur darum, ein geschickter Lobbyist zu sein. Es geht um Hingabe. Um Loyalität. Gegenüber der Firma. Gegenüber unseren Kunden. Wer das unter Beweis gestellt hat, steigt hoch hinauf. Richtig hoch. Aber denk auch daran, dass ein Mangel an Loyalität – well, lass uns sagen, dass man ihn nicht unbedingt schätzt. Oder besser gesagt, gar nicht.»
Appleby schaute George unverwandt an, und etwas funkelte in seinen Haiaugen auf. George wusste nicht, was er sagen sollte, und nahm einen Schluck Calvados. Er schmeckte schal, vergoren. George verabscheute Calvados. Digital Solutions, dachte er. Ich wusste, dass dieser widerliche Reiper irgendwie suspekt ist.
«Es ist schon spät. Ich glaube, es ist an der Zeit aufzubrechen. Nicht einmal ich kann Philip Morris die ganze Nacht in Rechnung stellen.»
Appleby rekelte sich und lachte trocken, ehe er aufstand. George folgte seinem Beispiel. Gemeinsam gingen sie die Treppe hinab und traten auf die Straße. George geriet auf dem Bürgersteig kurz ins Wanken, in der Kälte spürte er, dass er doch ziemlich viel getrunken hatte. Das erste Taxi kam, und Appleby sprang auf den Rücksitz. Ehe er die Tür hinter sich zuzog, drehte er sich noch einmal zu George um.
«Mach dir keine Sorgen, George», sagte er. «Betrachte es als Abenteuer. Alle, die in der Firma etwas geworden sind, waren schon einmal in deiner Situation. Man muss einfach die Zähne zusammenbeißen. Und nicht zu viel nachdenken, okay?»
«Ja, vermutlich. Ich bin mir immer noch nicht hundert Prozent sicher, worum es eigentlich geht.»
«Scheiß drauf. Das ist genau der Punkt. Stell deine üblichen Rechnungen und denk nicht darüber nach. Du hast das Zeug dazu, das weiß ich. Wir sehen uns morgen.»
Mit diesen Worten zog Appleby die Wagentür zu. Das Taxi rollte langsam unter den bunten Weihnachtslichtern davon, die über die kleine Straße gespannt waren. George steckte sich eine Zigarette an und zog den Mantel enger um sich. Einige Schneeflocken landeten auf seinen Schultern.
«Verfluchter Dezember», brummelte er und fühlte sich angesichts des Tütchens Kokain in seiner Tasche erleichtert. Vielleicht sollte er noch kurz im Place Lux vorbeischauen? Der Abend war noch jung.