23. Dezember 2013
Sankt-Anna-Schärengarten, Schweden

Georges Augen hatten Minuten gebraucht, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen, doch wenn er auf die beleuchtete Karte des Handys blickte, wurde er geblendet und bemühte sich daher, so wenig wie möglich davon Gebrauch zu machen. Stattdessen versuchte er seine Route auf einer alten, laminierten Seekarte nachzuvollziehen, die er unter dem Steuerstand gefunden hatte. Er hockte dahinter und drückte die Seekarte mit beiden Händen gegen das Steuer. Das Boot neigte sich stark und bebte. Der Sturm übertönte das Brummen des Motors.

Er hielt eine gleichmäßige Geschwindigkeit. So schnell, dass das Boot von den Wellen hin- und hergeworfen wurde, aber nicht schneller, als er es kontrollieren konnte. Feuchter Schnee und Brachwasser überspülten ihn, durchnässten ihn, sodass er eigentlich bis aufs Mark frieren müsste. Aber das konnte ihm nichts anhaben. Als befände er sich in einer anderen Welt, in der ihn weder Wind noch Wetter erreichen konnten.

Er hatte keinen Plan. Trotzdem fühlte er sich merkwürdig erleichtert und weniger nervös, als er es die ganze Zeit gewesen war, seit er Reiper begegnet war. Was vor nur wenigen Tagen passiert war, kam ihm vor, als wäre es Jahre her, ein ganzes Leben. Er hielt sein Schicksal in den eigenen Händen. Hatte die Seiten gewechselt. Er war nicht länger ein Legionär in Reipers Armee von Mördern. Er würde zurückschlagen.

«Yippieekayeee, motherfuckers!», schrie er, so laut er konnte, dem Sturm entgegen.

Nach einer knappen halben Stunde drosselte George die Fahrt und lenkte das Boot an eine halbwegs geschützte Stelle hinter einer kleinen, mit Wacholder bewachsenen Klippe. In einer Luke unter der Achterbank lag ein rostiger, kleiner Anker, den er über Bord hievte, damit er nicht abgetrieben wurde. Er machte sich so klein es ging und holte das Telefon hervor. Das Boot schaukelte in den Wellen. Der Schnee schmolz und rann über sein Gesicht. Er hatte kaum Empfang. Nur ein kleines Stück weiter entfernt würde er das Handy gar nicht mehr verwenden können.

Er verglich das Satellitenbild mit der Seekarte, und sein Puls stieg. Wenn er es richtig verstand, war er weniger als eine Minute von der Insel entfernt, auf der sich Reipers Angaben zufolge Klara versteckte. Reipers Bande musste irgendwo in der Nähe sein. Schnell tippte George die Koordinaten ein, mit denen sie ihre eigene Position angegeben hatten, und die Nadel der digitalen Karte bewegte sich ein wenig nach Osten.

George seufzte schwer. So sehr von seiner eigenen Tatkraft eingenommen, hatte er nicht einmal daran gedacht, dass er riskieren könnte, Reiper und seinem Gefolge direkt in die Arme zu fahren.

Was sollte er jetzt tun? Er hörte Kirstens röchelnde Stimme, sah ihr höhnisches Grinsen vor sich.

«Was glaubst du eigentlich, wer du bist? Rambo?»

Er verdrängte das Bild von ihrem zertrümmerten Gesicht, aber die Stimme biss sich fest. Er war kein Rambo. Wirklich nicht. Noch immer hielt er das Telefon in seinen steifgefrorenen Händen und überlegte erneut, jemanden anzurufen. Aber wenn schon die Polizei in dieser Angelegenheit nicht auf seiner Seite war – wen sollte er dann alarmieren?

Georges einziger Vorteil war, dass Reiper keineswegs mit ihm als Bedrohung rechnete. Zu diesem Zeitpunkt mussten sie sich fragen, warum sie keinen Kontakt zu Kirsten bekamen, aber George zweifelte daran, dass sie ihn in irgendeiner Weise verdächtigten, etwas damit zu tun zu haben. In ihren Augen war er ein Bürohengst, ein Stümper, ein nützlicher Idiot. Und das war sein einziger Vorteil. Es konnte nur schiefgehen.

Er zog Kirstens Pistole aus der tiefen Tasche seines Ölmantels. Sie war so dunkel, dass sie auch das kleine bisschen Licht, das der frischgefallene Schnee reflektierte, zu absorbieren schien. Er fand die Sperre, mit der man das Magazin löste, und ersetzte es durch ein volles Magazin, das er in der Villa gefunden hatte. Dann ließ er die Pistole erneut in die Tasche gleiten und schaltete das Telefon aus. Es war an der Zeit.