23. Dezember 2013
Arkösund, Schweden

George verriegelte die Tür zur Gästetoilette hinter sich und schaltete das Licht an. Der enge Raum hatte kein Fenster, wahrscheinlich ließ Kirsten ihn deshalb in Ruhe. In dem kleinen Spiegel über dem Waschbecken sah er wirklich übel aus. Das halbe Gesicht war von hellrotem Blut verschmiert, die obere Hälfte seines Kapuzenpullovers ebenso, und er stellte fest, dass das Blut noch immer aus der kleinen Platzwunde über der Augenbraue drang. George musste seinen Brechreiz unterdrücken. Er verabscheute Blut. Besonders sein eigenes. Aber daran durfte er jetzt nicht denken. Er presste die Wunde zusammen und beugte sich vor, um sein Gesicht abzuwaschen, so gut es ging.

«Verdammt, wie du aussiehst», sagte Kirsten, als er die Tür öffnete und aus der Toilette herauskam.

Sie lächelte ihn entschuldigend an und reichte ihm eine Schachtel. Er nahm sie mit seinen gefesselten Händen entgegen.

«Pflaster-Strips», erklärte sie. «Damit du uns nicht das ganze Haus vollblutest.»

«Danke», sagte George.

Sie machte eine Geste in Richtung Treppe. «Ich fürchte, ich muss dich leider wieder einschließen, George.»

Diesmal gehorchte George aufs Wort, er musste sich sogar anstrengen, um nicht zu zeigen, wie sehr er darauf erpicht war, in seinen Käfig zurückzukehren.

Nachdem er sich wieder aufs Bett gesetzt hatte, hörte er, wie Kirstens Schritte die knarrende Treppe hinab verschwanden. Mit einiger Anstrengung gelang es ihm, die Schachtel mit den Strips zu öffnen und den Blutstrom zumindest vorübergehend zu stoppen. Kirsten hatte sich nicht willig gezeigt, seine Handschellen zu öffnen, sondern nur den Kopf geschüttelt, als er es vorschlug. Voller Panik, sie könnte erahnen, dass er etwas im Schilde führte, hatte er nicht darauf beharrt.

Er stand auf, zog das Telefon aus seiner Unterhose und das Sudoku-Heft aus seinem Versteck hinter der Heizung. Nachdem er sich, so gut es ging, vergewissert hatte, dass Kirsten wirklich die Treppe hinuntergegangen war, ließ er sich wieder auf dem Bett nieder und stellte das Handy an. Mit zitternden Fingern wählte er die Ziffern eins, eins, zwei auf dem empfindlichen Display.

Ein Freizeichen, Georges Puls galoppierte, während er wartete und gleichzeitig zu horchen versuchte, ob Kirsten auf die Idee gekommen war, wieder die Stufen hochzusteigen. Nach dem vierten Tuten erklang eine ruhige Frauenstimme im Hörer.

«Notrufzentrale. Was ist vorgefallen?»

George spürte, wie sein Mund trocken wurde und sein Kopf leicht wie Watte. Warum hatte er die Polizei nicht schon in Brüssel kontaktiert, lange bevor alles aus dem Ruder lief?

«Mein Name ist George Lööw», antwortete er leise. «Und ich wurde entführt, könnte man sagen.»

«Wo befinden Sie sich in diesem Moment?»

Die Stimme klang immer noch ruhig, offenbar unberührt von der Dramatik, die in dem Wort «entführt» lag.

«In Arkösund, glaube ich. Gibt es einen Ort, der so heißt? Irgendwo im Schärengarten vor Norrköping. Ich werde von ein paar Amerikanern in einem gelben Haus gefangen gehalten.»

«Wir schicken Hilfe», unterbrach ihn die Stimme. «Bleiben Sie in der Leitung. Ich werde Sie weiterverbinden, verstehen Sie mich? Legen Sie nicht auf.»

Es klickte in der Leitung, und er vernahm ein leeres, atmosphärisches Rauschen. Zehn Sekunden. Zwanzig. Dreißig. George lauschte nach Geräuschen vor der Tür. Doch bisher tat sich nichts. Dann hörte er erneut eine Stimme in der Leitung. Ein Mann. Ein gelassener, vertrauenerweckender schwedischer Mann.

«Mein Name ist Roger», sagte die Stimme. «Ich arbeite bei der operativen Antiterroreinheit der Säpo.»

«Äh, hallo», antwortete George ein wenig unsicher.

«Wo befinden Sie sich?»

Säpo. That’s more like it, dachte George. Er wiederholte alles, was er wusste. Dass er in einem gelben Haus in Arkösund gefangen gehalten wurde. Und er versuchte zu erklären, in welchem Abstand zum Hafen die Villa lag.

«Unternehmen Sie nichts, um zu entkommen. Verhalten Sie sich unauffällig, überlassen Sie uns die Sache. Wie viele Personen halten Sie gefangen?»

«Momentan nur eine», antwortete George. «Man hat mich eingeschlossen. Die anderen sind mit dem Boot unterwegs und suchen nach Klara Walldéen. Also der Frau, nach der man sozusagen fahndet.»

«Und wie viele Personen sind das?»

«Fünf, glaube ich.»

«Wissen Sie auch, wo diese Leute sind und wo Walldéen ist?»

Seine Stimme klang angespannt, und in ihr schwang etwas mit, das George nicht genau einschätzen konnte. Er klemmte das Handy zwischen Schulter und Wange, bekam mit seinen gefesselten Händen das Sudoku zu fassen und las die Koordinaten vor.

«Gut», sagte der Mann. «Behalten Sie das Telefon in Ihrer Nähe, falls wir Sie erneut kontaktieren müssen. Aber tätigen Sie keine weiteren Anrufe damit. Sonst bringen Sie sich selbst in Gefahr. Möglicherweise können Ihre Entführer es orten.»

«Natürlich», erwiderte George. «Aber was passiert jetzt? Sie müssen mir helfen!»

«Wir kümmern uns darum», antwortete die gelassene, vertrauenerweckende Stimme.