20. Dezember
2013
Paris, Frankreich
Sie konnten die Treppen nicht schnell genug finden, weshalb sie den Aufzug nahmen, zwischen Einkaufswagen und Supermarktkunden eingeklemmt. Aus einem knisternden Lautsprecher erklang Bing Crosbys «Silent Night». Die Aufzugwände waren mit Angebotsschildern für Gänseleber, Austern, Champagner beklebt, Pariser Weihnachtsessen. Klara musterte Mahmoud von der Seite. Sein Kiefer mahlte, seine Augen fixierten die schäbige Aufzugtür.
Auch Klara war hochkonzentriert und angespannt. Als wäre sie sich jedes Muskels in ihrem Körper bewusst, jeder Gedanke, den sie fasste, war klar und schlüssig, ihr ganzes Ich nur auf Flucht, auf Überleben konzentriert.
Die Türen gingen auf, die ineinander verkeilten Einkaufswagen lösten sich voneinander und rollten aus dem überdimensionierten Fahrstuhl. Schließlich blieben nur noch Mahmoud und Klara zurück. Sie sahen sich an. Klara zuckte mit den Schultern.
«Let’s go.»
Sie betraten den lichtdurchfluteten Kassenbereich des Supermarché Casino. Und nichts passierte. Um sie herum nur Weihnachtsangebote und spät einkaufende Kunden.
«Haben wir sie abgeschüttelt?», fragte Klara.
Mahmoud sah sich angespannt um, mit eingezogenem Kopf, als traute er seinen Augen nicht.
«Sieht fast so aus. Vielleicht sind sie schon an der roten Ampel zurückgeblieben.»
Zögernd gingen sie zum Ausgang.
«Kein schwarzer Kastenwagen», stellte Mahmoud aus dem Fenster spähend fest.
Als sich die automatischen Türen vor ihnen öffneten, sah Klara sie sofort durch das dichte Schneetreiben. Auf der anderen Straßenseite, erhellt vom starken Schein der Straßenlaterne. Die Augen von gestern, von heute. Die Frau mit dem Pferdeschwanz, nur einen Steinwurf von ihnen entfernt. Sie hatte sie auch entdeckt.
«Sie sind hier!», schrie Klara, drehte sich um und zog an Mahmouds Arm, um ihn mit sich zurück in das Geschäft zu zerren. «Sie sind hier!»
Aber Mahmouds Arm war schwer. Statt sich ins Geschäft ziehen zu lassen, zog er sie zu Boden. Lautlos schlossen sich die automatischen Türen zur Straße.
«Komm schon, wir müssen hier weg!», schrie Klara und zerrte weiter an seinem Arm.
Die Glastüren zerstoben in einem Kristallregen. Die Zeit blieb stehen. Klara warf sich vor den Kassen zu Boden. Hinter ihr brach ein Sektregal zusammen, das als Blickfang im Eingangsbereich stand. Flaschen zersprangen, ihr Glas mischte sich mit dem der Türen. Der süße Geruch von billigem Wein. Schreie und Chaos. Ringsum warfen sich Kunden in Panik zu Boden. Aus den Lautsprechern erklang Bing Crosby: «Jingle bells, jingle bells, jingle all the way». Klara zog immer noch an Mahmouds Arm.
«Nun komm schon, na los jetzt!»
Sie drehte sich zu ihm um. Mahmoud lag zwischen den Glassplittern auf dem Rücken. Seine braunen Augen standen weit offen, starrten leblos in das unbarmherzige Neonlicht. Auf seiner Stirn, unmittelbar über seinem rechten Auge, sah Klara ein kleines schwarzes Loch.
Erst da bemerkte sie das Blut.
Die unwahrscheinliche Menge an klebrigem rotem Blut, das sich wie ein Heiligenschein um seinen Hinterkopf ausbreitete und sich mit dem ausgelaufenen Wein mischte.
«Moody, Moody, na los doch, komm schon!»
Wieder zerrte sie an seinem Arm, versuchte mit ganzer Kraft, ihn hinter die Kassen zu hieven. Als gäbe es noch einen Schutz. Überall schreiende Menschen, umstürzende Einkaufswagen, Waren, die zu Boden fielen, zerbrachen. Er war zu schwer, sie konnte ihn nicht bewegen.
Also beugte sie sich über sein Gesicht, zu seinem Hals, den sie vor langer Zeit mit ihren Küssen bedeckt hatte. Ihre Jeans sogen sein Blut auf, klebten an ihren Knien. Glasscherben schnitten in ihre Handflächen, als sie ihre Wange an seinen Mund legte. Mit ihren Fingern nach seinem Hals tastete. Aber da war nichts. Kein Atem, kein Puls. Nur seine warmen braunen Augen. Leblos. Adrenalin raste durch Klaras Adern, panisch fragte sie sich, ob sie jetzt würde sterben müssen.
Sie blickte auf. Sah durch die zersprungenen Glastüren, dass ein Mann und eine Frau herbeistürmten. Sie hielten etwas Schweres, Schwarzes in der Hand. Waffen.
«Moody! Moody!»
Panik. Schock. Der erste, beinahe unmerkliche Anflug tiefer Trauer, die sie weit mehr erschreckte, als es die Mörder dort draußen taten. In Bruchteilen von Sekunden entschied sie, nicht sterben zu wollen. Es war wie ein Blitz, der durch ihr Bewusstsein zuckte. Unglaublich klar. Sie hatte nie aufgehört, Mahmoud zu lieben. Hatte es verdrängt, aber nicht vergessen. Und sie konnte es damit nicht enden lassen. Mahmoud, abgeknallt wie einen Köter, erloschen, auf dem schmutzigen Boden eines Supermarkts. Als Mörder und Terrorist bezichtigt. Damit durfte es nicht enden.
«Ich liebe dich, Moody», flüsterte sie, die Lippen an seinen.
Dann ließ sie seinen Arm los, stand auf und rannte an den Kassen und sich duckenden Kunden vorbei in den Supermarkt hinein. Im Hintergrund hörte sie Sirenen.
Sie lief durch die Scherben, den Wein und das Chaos. Hörte die Schreie und das Weinen nicht. Ihr Kopf war wie leergefegt, als sie sich zwischen den Regalen durchschlängelte. Sie drehte sich nicht um.
Im hinteren Teil des Supermarkts herrschte eine sonderbare Ruhe. Kunden hielten zögernd auf die Kassen zu, verunsichert, was dort vor sich ging. Ganz hinten befand sich ein Fleischtresen, jedoch ohne Verkäufer, sämtliches Personal schien zum Eingang gelaufen zu sein. Klara umrundete ihn und kam durch ein paar Schwingtüren in ein unordentliches Lager. Ein Mann mit Schürze und Haarnetz, der von dem Durcheinander im vorderen Teil des Ladens anscheinend nichts mitbekommen hatte, rief ihr etwas hinterher. Klara registrierte ihn kaum, hatte nur Augen für das Notausgangsschild. Die blutigen Jeans klebten an ihren Beinen.
Sie drückte die Klinke mit dem Ellenbogen herunter, damit die Glasscherben in ihren Handflächen nicht noch tiefer ins Fleisch drangen. Die Tür führte zu einer Laderampe auf der Rückseite des Supermarkts. Eine dünne Schneeschicht bedeckte den Boden. Die Flocken fielen dicht und diagonal in der Dämmerung. Ein kurzer Sprung von der Rampe, und sie befand sich in einem Hinterhof. Die blutigen Schuhsohlen färbten ihre Schritte im Schnee rot, als sie durch eine Ausfahrt mit einem gelben Schlagbaum auf eine Seitenstraße zurannte. Sie bog nach links ab. Und blickte erst über die Schulter, als sie ein ganzes Stück entfernt war. Niemand verfolgte sie.