20. Dezember
2013
Stockholm, Schweden
«Das macht zweihundertfünfundsiebzig Kronen», sagte der Taxifahrer und lehnte sich vor, um die imposante Zwanziger-Jahre-Villa besser in Augenschein nehmen zu können, die von der sanften Fassadenbeleuchtung angestrahlt wurde.
«Das scheint ja ein richtiges Schloss zu sein», stellte er fest.
Gabriella holte ihre Brieftasche heraus und reichte ihm die Kreditkarte der Kanzlei. Vor einer halben Stunde hatte sich Klara bei ihr gemeldet. Zu Tode erschrocken und geschockt. Mit dünner kläglicher Stimme. Es war ein Albtraum, ein seltsames, entgleistes Hirngespinst – dass Mahmoud in Paris vor ihren Augen erschossen worden war. Dass jetzt nach ihr, Klara, gefahndet wurde, ihr Bild auf den Titelseiten der Boulevardzeitungen prangte. Der Doktorand des Todes und die schöne politische Referentin.
«Vertrittst du mich?», hatte Klara sie gefragt. «Sag mir, was ich tun soll.»
Alle möglichen Gedanken waren Gabriella durch den Kopf geschossen. Sie war durcheinander und verängstigt. Hatte das Gefühl, jeden Halt zu verlieren. Sie musste an Bronzelius’ Worte denken: dass die Sache mit Mahmoud ein Missverständnis sei und die Säpo das zu wissen schien. Aber wer jagte dann erst Mahmoud und jetzt Klara?
«Komm nach Hause», hatte sie schließlich gesagt. «Komm nach Hause, dann finden wir eine Lösung.»
Sie wusste nicht, ob das die richtige Entscheidung war. Vielleicht hätte sie Klara raten sollen, sich bei der französischen Polizei zu melden? Den Medien zufolge hatten sie nur vor, ihr ein paar Fragen stellen. Aber Gabriella wollte lieber kein Risiko eingehen. Sowie sie den Hörer aufgelegt hatte, hatte sie Wiman angerufen.
Der Fahrer gab ihr die Karte zurück, und sie sprang aus dem Taxi. Die Uhr ihres Handys zeigte kurz nach Mitternacht. Ein ungewöhnlicher Zeitpunkt für einen Besuch bei ihrem Chef, aber der Vorschlag war von Wiman gekommen. Irgendwie gab es ihr ein Gefühl von Sicherheit, dass ihm die Angelegenheit nicht gleichgültig war.
Sein Haus war zweifellos prächtig, das stellte sie nun auch fest, als sie über das sorgfältig verlegte Kopfsteinpflaster zur Eingangstür ging. Davon gehört hatte sie schon. Das Gebäude hatte unter den jungen Juristen der Kanzlei, die mit einer Einladung beehrt worden waren, einen legendären Ruf. Es bestand aus einem perfekten cremefarbenen Kubus, hatte zwei Stockwerke und eine Wohnfläche von etwa dreihundert Quadratmetern. Auf einer kleinen Anhöhe gelegen, scheinbar abseits, wirkte das Haus, als sei es selbst für Djursholm zu exklusiv.
Die Türglocke tat ihr Bestes, um dem Bild gerecht zu werden, und gab ein tiefes «Ding-Dong» von sich, als sie auf den kleinen weißen Knopf neben den Flügeltüren drückte. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis geöffnet wurde.
«Hallo, Gabriella, kommen Sie herein», begrüßte Wiman sie.
Trotz der fortgeschrittenen Uhrzeit war er untadelig in seine übliche Garderobe gekleidet, ein dunkler Anzug und ein weißes Hemd mit rotem Einstecktuch. Nur auf den Schlips hatte er verzichtet. Er hielt ein bauchiges Whiskeyglas in der Hand. Die bernsteinfarbene Flüssigkeit schien in dem gedämpften Licht, das aus dem Hausinneren drang, von selbst zu leuchten.
«Entschuldigen Sie die späte Störung», sagte Gabriella. «Das war wirklich keine Absicht, wir hätten das auch morgen besprechen können. Ich wollte Sie nur auf dem Laufenden halten.»
Wiman schnitt ihr mit einer ungeduldigen Geste das Wort ab und ging über den Marmorboden voraus durch den Flur.
«Ich habe Sie immerhin hergebeten, Gabriella. Hätte ich bis morgen warten wollen, hätte ich das gesagt.»
Er führte sie in eine Art Arbeitszimmer oder Bibliothek. Gab es das noch, private Bibliotheken? Erstaunt sah Gabriella sich um. Die Längsseite wurde von drei hohen Fenstern dominiert, die zum Wasser hin lagen. Sie konnte es in der Dunkelheit nur erahnen, ging aber davon aus, dass es sich um ein Grundstück am Wasser handelte. Ein Fenster an der Schmalseite zeigte ebenfalls in Richtung Wasser. Die restlichen Wände waren bis unters Dach mit Büchern bedeckt. Ein verglimmendes Feuer brannte in einem Kachelofen neben der Tür, durch die sie gerade hereingekommen waren. Was mochte so ein Haus kosten? Zwanzig Millionen Kronen? Oder mehr? War es das, was einen als Teilhaber erwartete?
«Sie haben ein phantastisches Haus», sagte sie.
«Aus der Jahrhundertwende», erklärte Wiman, ungerührt von dem Kompliment. «Aber in den Zwanzigern im italienischen Stil umgebaut. Und später habe ich es selbstverständlich renovieren lassen. Darf ich Ihnen etwas anbieten? Einen Cognac? Ein Glas Rotwein?» Er deutete auf einen kleinen, aber reich bestückten Barwagen aus Mahagoni, der in der Zimmerecke stand.
«Gerne einen Whiskey.»
Sie hatte plötzlich das Gefühl, einen Drink nötig zu haben.
Wiman goss eine leidliche Menge Whiskey in ein Glas von derselben Sorte wie seines. Bevor er die Flasche auf den Barwagen zurückstellte, schenkte er sich selbst nach.
«Wasser?»
Gabriella schüttelte den Kopf, und Wiman reichte ihr das Glas, dann setzten sie sich in die Bruno-Mathsson-Sessel vor dem Kachelofen. Abgesehen von dem Feuerschein und einer gedimmten Stehlampe neben dem Barwagen lag der Raum im Dunkeln.
«Ich bedaure den Tod Ihres Bekannten, mein Beileid», sagte Wiman und nippte am Whiskey.
Gabriella nahm einen weitaus größeren Schluck als er und lehnte sich in den Sessel zurück, dessen Rückenlehne mit Schaffell bezogen war. Sie wollte nicht weinen, nicht hier, nicht jetzt.
«Ja, es ist furchtbar», sagte sie beherrscht. «Schockierend. Ich kann es immer noch nicht fassen.»
Sie konnte es nicht verhindern. Eine Träne löste sich aus ihrem Augenwinkel und rann ihre Wange hinab. Die Nachricht war immer noch so frisch, so unbegreiflich.
Wiman erwiderte nichts, starrte nur in die Glut. Er schien irgendwie gealtert, verhärmt. Als ob ihn etwas bedrückte. Gabriella hatte diesen Zug noch nie zuvor an ihm gesehen. Normalerweise war sein Gesicht eisern, frei von Gefühlen.
«Und Sie haben jetzt Kontakt zu Klara Walldéen? Die sich den Medien zufolge in Begleitung von Shammosh befand, als er in Paris erschossen wurde?», fragte er und legte ein Birkenscheit in die Glut. Es knisterte, bevor es Feuer fing.
Gabriella hörte den Wind in den uralten Bäumen heulen. Mit der Handfläche wischte sie die Träne fort und fuhr sich durch ihre roten Locken. Nickte.
«Klara hat mich gerade angerufen und mich gebeten, sie zu vertreten. Und das habe ich natürlich vor. Wenn sie überhaupt jemanden braucht, der sie vertritt. Soweit ich informiert bin, ist sie nicht verdächtig.»
«Und wo hält sie sich auf?», fragte Wiman.
«Ich weiß es nicht. Sie wollte es mir am Telefon nicht sagen. Aber ich habe sie gebeten, nach Schweden zu kommen, das schien mir das einzig Richtige. Damit wir uns zusammensetzen und durchgehen können, was geschehen ist, bevor sie sich bei der Polizei meldet. Sie steht natürlich völlig unter Schock.»
«Worum geht es hier?» Wimans Stimme war trocken, beinahe ungeduldig. «Warum wurden Shammosh und dieser andere Schwede ermordet? Es ist von größter Bedeutung zu erfahren, was hinter der ganzen Geschichte steckt.»
«Ich habe keine Ahnung. Und ich bin mir auch nicht sicher, ob Klara eine Ahnung hat.»
«Haben Sie diesen Eindruck gewonnen? Dass sie nicht weiß, weshalb sie gejagt wurden?»
«Ja. Beziehungsweise nein. Ich glaube nicht, dass sie weiß, was da vor sich geht. Wenigstens hat sie mir das gesagt.»
Wiman nickte langsam. «Was genau hat sie am Telefon gesagt? Geben Sie die Worte so exakt wie möglich wieder.»
Gabriella dachte nach und rekonstruierte das kurze Gespräch, so gut sie konnte. Von Wiman ausgefragt zu werden beruhigte sie, gab ihr Sicherheit. Seine eiskalte Konzentration auf die Details. Es half ihr, Abstand zu gewinnen.
«Und wann kommt sie nach Schweden?», wollte Wiman wissen, als sie geendet hatte. «Falls sie überhaupt nach Schweden kommt? Wie lautet der Plan?»
«Sie hat erwähnt, dass sie einen Ort im Schärengarten kennt, an dem sie sich verstecken kann, während wir herausfinden, was vor sich geht. Bei Arkösund. Und das ist auch mein eigentliches Anliegen. Was soll ich tun? Was sagen? Die Medien werden die Story bestimmt schon morgen bringen.»
Gabriella kippte den restlichen Whiskey hinunter und spürte, wie er sie von innen heraus wärmte.
«Wen interessieren schon die Medien», sagte Wiman. Er nahm Gabriellas Glas und ging zur Bar, um ihr nachzuschenken. «Sehen Sie einfach zu, dass sie nach Schweden kommt. Sie soll sich verstecken, während wir uns etwas überlegen. Halten Sie mich nur darüber auf dem Laufenden, wo Sie beide sich genau befinden, ja? Es ist wichtig, dass wir in Verbindung bleiben.»
Wiman reichte Gabriella das Glas.
«Setzen Sie mich über alle Einzelheiten in Kenntnis, sobald Sie sie haben. Das ist jetzt nicht der Zeitpunkt für irgendwelche Alleingänge, ich meine es ernst.»
Gabriella nickte und trank den Whiskey in einem einzigen brennenden Zug aus.
«Ich sollte jetzt wirklich ein Taxi rufen», sagte sie und griff nach ihrem Handy.