1. April
2014
Washington D.C., USA
Klara lehnte den Kopf gegen die schmutzige Taxischeibe. Aus ihren großen Kopfhörern drang Arvo Pärt, «Spiegel im Spiegel». In der ersten Zeit, nach Weihnachten, hatte sie fast nur auf ihrem Bett bei ihren Großeltern gelegen und sich zwanzig-, dreißig-, vierzigmal am Tag, immer wieder, dieses Stück angehört. Hatte an die Decke gestarrt und das Zimmer nur verlassen, um im Essen herumzustochern oder auf die Toilette zu gehen. Hatte die SIM-Karte aus dem Handy genommen, um nicht mit Gabriella oder ihren flüchtigen Bekannten aus Brüssel sprechen zu müssen. Hatte offiziell einen Burn-out und war krankgeschrieben.
Sie hatte den Überblick darüber verloren, wie viele Tage sie so dagelegen hatte. Vielleicht war es auch eine ganze Woche gewesen. Hatte nur die Musik und die besorgten Gesichter ihrer Großeltern wahrgenommen.
Schließlich hatte sie Gabriella natürlich nicht länger von sich fernhalten können. Eines Tages hatte die Freundin einfach auf ihrer Bettkante gesessen, ein bisschen besorgter als sonst, ein bisschen gealtert. Ohne sich um Klaras Proteste oder ihre blutleere Wut zu scheren, hatte sie Klara dazu bewegt aufzustehen.
Nachdem sie sie dazu gebracht hatte, sich warm anzuziehen, hatte sie Klara die Treppen hinuntergeschubst, durch die Haustür und zum Boot, wo die Großeltern und Bosse schon warteten. Dann hatte sie Klara und sich selbst gezwungen, zur Schmugglerschäre zurückzufahren. Um den Schärengarten wieder für sich zu erobern, wie Klaras Großvater es ausgedrückt hatte. Um die Angst auszulöschen und wieder Herr ihrer Erinnerungen zu werden. Sie waren einen Nachmittag dort geblieben. Nichts auf der Insel erinnerte mehr an die fürchterliche Nacht vor Heiligabend. Kein Blut, keine Körper, keine Einschusslöcher. Nichts. Sankt Anna war nichts als eine schneebedeckte Schäre weit draußen auf dem Meer. Bosse hatte den Gasherd angestellt und Mokka zubereitet. Sie hatten kaum ein Wort gesprochen.
Aber danach war alles etwas leichter gewesen. Vor allem dank Gabriella, die sich der praktischen Dinge angenommen hatte. Sie hatte Verbindung zu Eva-Karin Boman aufgenommen, sich als Klaras juristische Vertretung vorgestellt und in Klaras Namen gekündigt, nachdem sie Eva-Karin ein Jahresgehalt als Abfindung abgerungen hatte. Gabriella war knallhart, viel härter als Klara. Sie war schon am 2. Januar wieder in der Kanzlei gewesen. Als frischgebackene Teilhaberin, die jüngste der Firma. Womöglich die jüngste in ganz Schweden.
Nachdem Klara erst einmal aus dem Bett gekommen war, tat sie ihr Bestes, um auf Trab zu bleiben. Zuerst versuchte sie sich an Kleinigkeiten. Essen kochen mit ihrer Großmutter, ihren Großvater auf Bootstouren begleiten.
Nach einer weiteren Woche schlüpfte sie in ihre Stadtkleidung und fuhr mit Bosse in die Zivilisation. Sie begann mit Söderköping, damit der Zivilisationsschock nicht zu heftig ausfiel. Kaufte sich ein paar Taschenbücher und aß eine Pizza in der Skönbergagatan. Spazierte durch die Winterlandschaft und ließ wieder Normalität einkehren. Eines Abends ging sie allein in Norrköping ins Kino, um sich eine bedeutungslose Komödie anzuschauen, aber danach fühlte sie sich fast wieder lebendig.
Und nachdem ein paar weitere Wochen vergangen waren, besuchte sie für ein Wochenende Gabriella in Stockholm. Ging bei Nordiska Kompaniet und Nitty Gritty shoppen, ging aus, aß in einem neuen Bistro Fleisch und Austern, nahm ein paar Drinks und kuschelte und fummelte anschließend mit einem bärtigen Drehbuchautor einen Abend lang auf einer Couch im Riche. Lachte, hatte einen Schwips. Stolperte an der gefrorenen Wasserkante mit einem Würstchen vom Kiosk in der Hand entlang. Gewöhnte sich vorsichtig wieder an das ganz normale wunderbare Leben.
Aber als sie zurück in den Schären war, holten die Ereignisse sie wieder ein. Als würde sie sich nicht mit dem Verrat abfinden können. Dem Verrat, den ihr Vater, den Cyril und, vor allem, den sie selbst begangen hatte.
Was sie auch anstellte, sie wurde den Gedanken nicht los, für Mahmouds Tod verantwortlich zu sein. Und für den ihres Vaters.
Aber so konnte sie nicht weitermachen, konnte nicht nur in ihrem alten Kinderzimmer liegen und alles unaufhörlich durchspielen. Nur wenn sie ständig in Bewegung blieb, konnte sie das vermeiden.
Mitte März nahm sie Verbindung zu ihrem alten Professor und Mahmouds Doktorvater Lyset auf und verabredete sich mit ihm zum Mittagessen in Uppsalas Saluhall.
Er hatte sich nicht verändert. Stahlgraue Haare und eine aufrechte Haltung. Ein gut verborgenes mitfühlendes Herz. Filterlose Camel-Zigaretten. Er ahnte natürlich, dass hinter Mahmouds Tod etwas anderes als die Geschichte steckte, die der Öffentlichkeit von den Medien nach dem PR-Schachzug von Bronzelius und seinen Kollegen aufgetischt worden war. Lyset ließ sich nicht einreden, dass Mahmoud durch seine Arbeit Kontakt zu einem Terrornetz aufgenommen hätte, das er für seine Forschung habe unterwandern wollen, und dies der Grund für seinen Heldentod gewesen sei. Trotzdem versuchte Lyset nicht, Klara auszuhorchen, wofür sie ihm dankbar war. Und er war, ohne zu zögern, damit einverstanden, dass sie Mahmouds Doktorarbeit zu Ende schrieb.
Anschließend flog sie nach Brüssel und regelte ihren Umzug. Mietete eine kleine Einzimmerwohnung in Luthagen und bezog Mahmouds altes Arbeitszimmer. Vielleicht war das krank, keine gewöhnliche Trauerarbeit. Aber sie musste es tun.
Und später, als das Eis auf dem Fyrisån vor ihrem Arbeitszimmer geschmolzen war, als ganz Uppsala sich im Taumel der Frühjahrsbälle und Walpurgisnachtfeiern befand, griff Klara nach dem Zettel mit der E-Mail-Adresse der Frau, die sich Susan nannte.
Sie bat den Taxifahrer, an der Metro-Haltestelle der Smithsonian Institution zu halten. Als sie die Hintertür öffnete, schlug ihr frühsommerliche Wärme entgegen. Die Bäume waren grün, die National Mall war bevölkert von Joggern und Leuten, die ihr Mittagessen im Freien einnahmen. Klara war zum ersten Mal in Amerika, wie war es möglich, dass sie die Staaten noch nie besucht hatte? Alles kam ihr so vertraut vor. Sie nahm die Kopfhörer ab, um sich ungehindert auf diese neue Welt einlassen zu können.
Noch nicht einmal zehn Minuten später stand sie vor dem Capitol Hill. Sie warf einen raschen Blick auf das Navi ihres Handys, machte einen Schlenker nach rechts zur Independence Avenue, die um die Kongressgebäude verlief, und bog dann nach links in die First Avenue ein. Inhalierte den Geruch von Sommer, Hot Dogs und Zwiebeln von den Ständen der Straßenverkäufer. Männer und Frauen in Geschäftskleidung eilten auf dem Weg zur nächsten, ach so wichtigen, sinnlosen Besprechung die Straße entlang. Es war verwirrend. Vor weniger als einem halben Jahr hätte sie das sein können. In einer anderen Zeit, in einem anderen Leben.
Und da stand er schließlich vor ihr. Der Supreme Court. Weiß und hochmütig wie ein römischer Tempel.
Klara entdeckte sie sofort. Links auf der Treppe. Einsam, klein und blass. Unscheinbar, eine Person, die niemandem auffiel. Genau so, wie sie sich in ihrer E-Mail beschrieben hatte.
Klara schaute zum Giebel des Gebäudes hoch. «Equal justice under law». Hatte Susan diesen Treffpunkt in ironischer Absicht gewählt?
Klara erklomm die Treppe und ließ sich neben der Frau auf einer Stufe nieder.
«Willkommen in Washington», sagte Susan, ohne sie anzusehen.
Ihr Blick schien auf die Rückseite des Kongressgebäudes geheftet zu sein. Klara entgegnete nichts. Sie hatte das Gefühl, als wüsste sie nicht mehr, wo sie sich befand.
«Der Sommer kommt früh in diesem Jahr», setzte Susan an.
Klara nickte. «Scheint so.»
Susan holte tief Luft. «Also, was möchten Sie wissen?»
Um sie herum waren die Geräusche der Stadt, des Verkehrs, eine Sirene zu hören. Klara beugte sich vor und atmete tief die Frühlingsluft ein. Der Zeitpunkt war gekommen.
«Was war er für ein Mensch?»
Susan schien sie zuerst nicht gehört zu haben. Dann wandte sie sich langsam Klara zu. Ihre Augen waren so grau wie die Klippen im Schärengarten, wie leblose Asche, wie scharfe Rasierklingen.
«Er ist gern geschwommen.»