20. Dezember
2013
Paris, Frankreich
Ihre Schritte hallten noch immer hinter ihnen im Treppenhaus wider, als Mahmoud die Tür zum Innenhof aufriss. Eine einsame Lampe erhellte einen kleinen engen Parkplatz. Der Schneefall hatte zugenommen. Eine dünne Schicht bedeckte etwa zehn Karossen, die dicht an dicht vor ihnen parkten.
«Was für eine Karre hat er?», fragte Mahmoud.
«Einen blauen Jaguar.»
«Diskret.»
Wenig später hatten sie ihn gefunden. Mahmoud schloss den Wagen auf und glitt auf den hellen Ledersitz. Klara setzte sich neben ihn.
«Mensch, Klara», sagte Mahmoud und sah sie an. «Was hat eigentlich in dieser SMS gestanden, die du bekommen hast? Du bist da oben ja plötzlich zu Lisbeth Salander mutiert!»
Klara steckte eine Hand in ihre Manteltasche und hielt Mahmoud das Blackberry vor die Nase. Die Nachricht war kurz: Sie werden euch umbringen. Versteck dich. George.
«George?», sagte Mahmoud fragend.
«Ich kenne nur einen George. Ein Schwede, dem ich manchmal auf Partys in Brüssel begegnet bin. Typ reiches Muttersöhnchen. Ein Lobbyist. Ich weiß wirklich nicht, was er mit dieser Sache zu tun haben soll.»
Sie schüttelte den Kopf, als versuchte sie, die Einzelheiten zu einem Gesamtbild zu ordnen. Oder wie um aus einem Traum aufzuwachen.
«Das ist krank», sagte sie. «Als Cyril die Tür geöffnet hat, habe ich gleich gesehen, dass irgendetwas nicht stimmt.»
Mahmoud nickte nur. Ihm kam es vor, als wäre sein Kopf zum Bersten gefüllt, als wäre es unmöglich, einen klaren Gedanken zu fassen.
«Wir müssen hier weg, wer weiß, wie viel Zeit uns noch bleibt», drängte Klara.
Der Jaguar sprang mit einem Knurren an, als Mahmoud den Zündschlüssel umdrehte. Die Scheibenwischer fegten die dünne Schneedecke von der Windschutzscheibe. In der verdeckten Aufbewahrungsleiste zwischen den Sitzen fand Klara die Fernbedienung für das Tor zur Straße, während Mahmoud den Jaguar aus der Parklücke herausmanövrierte. Er fuhr zum Tor und bremste ab, bevor er sich Klara zuwandte.
«Auf der anderen Seite kann uns alles Mögliche erwarten.»
Sie nickte nur und starrte mit einem wilden Blick geradeaus. «Wir können genauso gut herausfinden, was es ist», sagte sie und drückte auf die Fernbedienung.
Das Tor reagierte mit einem Summen und rollte langsam hoch.
Mahmoud ließ den Motor aufheulen und warf einen weiteren Blick zu Klara hinüber.
«Du bist härter im Nehmen, als man glauben könnte.»
«Warte nur, you ain’t seen nothing yet», erwiderte sie.
Noch bevor das Tor ganz geöffnet war, drückte Mahmoud das Gaspedal durch und ließ die Kupplung kommen. Der sechszylindrige Motor des Jaguars gab ein Grollen von sich, die Reifen drehten durch, bevor sie griffen. Als der Wagen auf die Avenue Victor-Hugo schoss, trennte nur ein hauchdünner Abstand Tor und Wagendach. Funken flogen, als die Vorderpartie des Wagens gegen die Bordsteinkante schrammte.
Auf dem schneefeuchten Asphalt gerieten die Räder ins Schlittern. Mahmoud steuerte mit einer schnellen Bewegung des Lenkrads gegen. Autos hupten und bremsten scharf ab. Ein paar Fußgänger lugten unter ihren Regenschirmen hervor, um zu schauen, was da los war. Bevor Mahmoud und Klara es sich versahen, rasten sie die Straße entlang. Schmelzender Schnee lief in Rinnsalen über die Windschutzscheibe.
«Ist jemand hinter uns?», schrie Mahmoud.
Klara drehte sich um, reckte den Nacken, um etwas sehen zu können. «Ich weiß nicht. Dieser verdammte Schnee! Ich kann nicht durch die Heckscheibe gucken. Doch, warte, ein schwarzer Van! Als wir kamen, hat er auf dem Gehsteig geparkt. Er folgt uns. Verflucht!»
Der Verkehr hatte mittlerweile abgenommen. Mahmoud fuhr noch immer im zweiten Gang und wechselte auf die linke Fahrspur. Gab Gas. Schoss an den beiden Autos vor ihnen vorbei und schwenkte wieder zurück in die rechte Spur. Das Hupen des entgegenkommenden Verkehrs nahm er kaum wahr, ignorierte die geballten Fäuste und Mittelfinger. Einfach nur weg.
«Und jetzt?», rief er Klara zu.
Klara wandte sich erneut um, machte sich lang. «Ich kann sie nicht sehen.»
Irgendwo in der Ferne heulten Sirenen auf. Im Rückspiegel sah Mahmoud den schwachen Schein aufblitzenden Blaulichts. Die Polizei.
«Sind sie hinter uns her?», fragte Klara.
Mahmoud zuckte die Schultern, konzentrierte sich auf die Straße, den nassen Asphalt, den unaufhörlich fallenden Schnee. «Wer weiß? Vielleicht hatte dein Typ die Nase voll und hat uns wegen Diebstahls angezeigt.»
«Er ist nicht mein Typ. Nicht mehr.»
Sie näherten sich einer Kreuzung. Mahmoud sah die Ampel auf Gelb springen, wechselte erneut die Spur und drückte das Gaspedal durch. Alles oder nichts. Er nahm kaum wahr, dass die anderen Fahrzeuge auf den Gehsteig ausscherten, um ihnen auszuweichen. Hinter ihnen die Sirenen. Der schwarze Kastenwagen. Mahmoud blieb in seiner Spur und hielt direkt auf die rote Ampel zu. Der entgegenkommende Verkehr schien stillzustehen, wie paralysiert von ihrer Wahnsinnsfahrt. Er schlug das Lenkrad ein. In rasendem Tempo näherten sie sich der Kreuzung. Rechts schien sich eine schnurgerade Gasse, schmal wie ein Tunnel, zwischen blankgeputzten Pariser Balkonen zu erstrecken. Mahmoud setzte alles auf eine Karte und bog scharf ab. Die Reifen kreischten auf dem Asphalt, griffen aber. Das Sirenengeheul nahm ab.
«Wo sind sie? Kannst du sie sehen?», brüllte Mahmoud Klara zu. Seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt.
«Da vorn!», rief sie und zeigte nach links. «Ein Supermarkt mit Tiefgarage. Fahr da runter!»
Mahmoud sah das Schild. Supermarché Casino. Ein Pfeil, der zu einem Parkhaus zeigte. Noch fünfzig Meter. Er bremste erst ab, als er das Lenkrad einschlug. Der Wagen hüpfte und ruckte, als er über die abgeflachte Bordsteinkante fuhr. Der Supermarkt schien noch geöffnet zu sein. Ein Schlagbaum blockierte die Einfahrt zum Parkhaus. Mahmoud blieb stehen, ließ die Scheibe herunter, drückte auf den grünen Knopf. Es dauerte eine Ewigkeit, bis die Schranke hochging. Sie rollten eine abfallende Rampe hinunter.
«Siehst du sie? Siehst du sie?»
Mahmoud ließ den Rückspiegel nicht aus den Augen.
«Bis jetzt nicht.»
Die Tiefgarage war eine Welt für sich. Im kalten Licht der Neonröhren schoben Kleinfamilien Einkaufswagen zu ihren Kombis, Mütter, Väter, Kinder. Diese Alltäglichkeit zu sehen war fast schockierend. Mahmoud hatte beinahe vergessen, dass es eine wirkliche, normale Welt gab. Eine Welt, in der er nicht wegen Mordes gesucht wurde. Eine Welt, in der er nicht von Maschinengewehren bedroht wurde, vielversprechende französische Politiker misshandelte oder zusehen musste, wie sein alter Wehrdienstkamerad erschossen wurde. Wie irgendein Pariser, der Freitagseinkäufe machte, hielt er auf einem Parkfeld an. Nachdem er den Motor ausgestellt hatte, ließ er den Kopf aufs Lenkrad sinken. Die Verkleidung aus Walnussholz an seiner Stirn fühlte sich kühl und beruhigend an. Vorsichtig löste er seinen krampfhaften Griff. Seine Fingerknöchel schmerzten.
Klara hatte bereits die Beifahrertür geöffnet.
«Nun komm schon, verdammt, wer weiß, wie viel Zeit wir noch haben», schrie sie ihn an.