20. Dezember
2013
Stockholm, Schweden
Gabriella Seichelman eilte durch die Empfangshalle des Stockholmer Verwaltungsgerichts im Tegeluddsvägen. Ihr Blick wanderte zu den Anzeigetafeln, die angaben, in welchem Raum die mündliche Verhandlung stattfinden sollte. Bis zu deren Beginn blieben ihr noch fünfundzwanzig Minuten, und gestern hatte sie ihren Klienten Joseph Mbila bis sechs Uhr abends dafür gerüstet. Es sollte alles glattgehen.
Aber normalerweise kam sie nicht so spät, wenn sie vor Gericht sprechen sollte, sondern sorgte dafür, mindestens eine halbe Stunde vor Verhandlungsbeginn mit einer Tasse Tee in einem freien Besprechungszimmer Zeit für sich zu haben. Das hatte sie sich zur Gewohnheit gemacht und hielt sich nahezu abergläubisch daran. Meistens kannte sie die Akten mehr oder weniger auswendig, wenn es schließlich zur mündlichen Verhandlung kam. Aber diese halbe Stunde vorher brauchte sie, um sich zu sammeln. So ließ sie den Alltag hinter sich und schöpfte neue Kraft.
Gabriella war eine Meisterin darin, Dinge auszublenden. Sie wusste, dass sie noch härter arbeitete als die anderen Workaholics der prestigeträchtigen Anwaltskanzlei Lindblad und Wiman. Niemand widmete sich den Klienten hingebungsvoller als sie, niemand schlug sich länger die Nächte um die Ohren, niemand war vor ihr im Büro. Viele neidvolle Blicke waren ihr zugeworfen worden, als sie rascher als sämtliche älteren Kollegen in die Anwaltskammer aufgenommen worden war. Sie erklomm die Karriereleiter in rasantem Tempo.
Und allmählich hasste sie es. Allmählich, anfangs fast unmerklich, war sie zu einer der Tussis geworden, die Klara und sie während ihres Jurastudiums immer verachtet hatten – eine Karrieristin. Eine Streberin, die nichts anderes mehr kannte als die Arbeit. Wann hatte sie zuletzt Urlaub gemacht, war ausgegangen und hatte die ganze Nacht gefeiert oder mit einem Typen geknutscht? Wann hatte sie zuletzt etwas anderes als diese nagende Angst verspürt, nicht genügend die Akten studiert, ihr Plädoyer nicht scharfsichtig genug formuliert, nicht ausreichend Zeit für die Rettung eines Klienten aufgebracht zu haben? Wann hatte sie zuletzt eine der Platten angehört, die ihr einst alles bedeutet hatten und jetzt im hintersten Winkel ihres Kleiderschranks ihr Dasein fristeten, unter Papierbergen begraben, die mit jedem Tag wuchsen?
In letzter Zeit hatte sie es immer stärker verspürt: das Gefühl, von Wänden eingeschlossen zu werden, ein Gefühl der Leere, das hinter den Papierstapeln lauerte, die sie turmhoch umgaben. Die unendliche Sinnlosigkeit von all dem.
Diese Einsicht hatte sie zu Tode erschreckt, sodass sie sich Hals über Kopf in die nächste Achtzig-Stunden-Woche stürzte, das nächste Ziel, den nächsten Klienten anvisierend. Sie redete sich ein, dass es nötig sei. Dass ihre Klienten sie brauchten. Dass alles gemächlicher zugehen würde, sowie sie erst einmal Teilhaberin der Kanzlei wäre.
Hinter dem verglasten Empfangstresen standen ein roter Weihnachtsstern und ein elektrischer Kerzenleuchter. Am Dienstag war Heiligabend. Herrgott, den ganzen Herbst hatte sie nur bei Gerichtsverhandlungen, in Polizeipräsidien und Behörden zugebracht. Und in ihrem Büro, vor allem in ihrem Büro. Als sie den Empfangstresen beinahe erreicht hatte, hörte sie eine Stimme hinter sich.
«Gabriella Seichelman?»
Sie blieb stehen, wollte sich etwas zu hastig umdrehen und glitt auf dem grauen Steinboden aus. Jemand streckte eine Hand aus, um sie zu stützen.
«Hoppla, Sie sind ganz schön flink, das muss man Ihnen lassen», sagte die Stimme.
Gabriella wandte sich um und lächelte gezwungen. Gegen ihren Willen errötete sie. Die Stimme gehörte einem Mann in den Fünfzigern. Mit grauen kurzgeschnittenen Haaren unter einer schwarzen Mütze, verschlissenen, etwas zu weit hochgezogenen Jeans, einem Dressman-Hemd und einer abgetragenen kurzen Lederjacke. Zweifellos ein Polizist in Zivil. Wenn Gabriella ein Gespür für etwas hatte, dann dafür.
Bevor sie etwas sagen konnte, hielt er ihr seine Dienstmarke hin.
«Mein Name ist Anton Bronzelius, ich komme von der Säpo», sagte er.
«Aha?», antwortete Gabriella und verspürte einen Anflug von Stress. Sie hatte keine Zeit für so etwas, nicht die geringste.
«Haben Sie einen Moment?», fragte er. «Oder besser gesagt, ich weiß, dass Sie noch …» Er warf einen Blick auf die Plastikuhr an seinem Handgelenk. «Ich weiß, dass Sie bis zur Verhandlung noch zwanzig Minuten Zeit haben. Und ich habe mir erlaubt, ein Besprechungszimmer für uns zu reservieren.»
Gabriella sah auf die Uhr ihres Smartphones. Noch knapp zwanzig Minuten bis zum Beginn der Verhandlung. Natürlich, Joseph war gut vorbereitet, er erwartete sie frühestens in einer Viertelstunde. Ihre Beine unter dem Tisch zitterten, sie spielte mit dem Telefon. Mist, so sollte es auf keinen Fall sein.
Bronzelius vergeudete immerhin keine Zeit. Kaum hatten sie das Zimmer betreten, hatte er zwei Boulevardzeitungen auf den weiß gestrichenen Tisch gepfeffert. Die Räume hier waren alle weiß. Gabriella hatte das Gefühl, mehr Zeit in solchen Räumen als in ihrer ebenfalls weiß gestrichenen Wohnung in der Vasastan verbracht zu haben.
Die Schlagzeilen waren nahezu identisch. Verschiedene Versionen von SCHWEDE IN BRÜSSEL WEGEN MORDES GEJAGT. Expressen hatte sie um das Wort TERRORIST ergänzt. Aftonbladet setzte auf ELITESOLDAT. Was sind das doch für Schwachköpfe beim Aftonbladet, dachte Gabriella. Ein gejagter Elitesoldat verkaufte sich natürlich besser als eine weitere öde Terroristen-Story.
«Haben Sie davon gehört?», begann Bronzelius.
«Ja, ich lese schließlich Zeitung, das ließ sich also nicht vermeiden», erwiderte Gabriella. «Aber das ist auch schon alles. Ich habe die Schlagzeilen heute Morgen im Internet gelesen, mehr nicht.»
Bronzelius nickte still. Dieser Mann hatte etwas an sich, etwas Aufrichtiges. Ein selbstsicheres Auftreten, wie es Polizisten an sich hatten. Gabriella beruhigte sich wieder.
«Was ich jetzt sage, bleibt unter uns. Es unterliegt der höchsten Geheimhaltungsstufe. Sie sind Anwältin. Sie wissen, was das heißt.»
«Ja, was das bedeutet, ist mir bekannt.»
Sie lächelte schwach. Bronzelius wirkte ernst.
«Bei dem Terroristen – beziehungsweise dem Elitesoldaten, je nachdem, welche Zeitung Sie lesen – handelt es sich um Mahmoud Shammosh.»