23. Dezember
2013
Sankt-Anna-Schärengarten, Schweden
Der Sturm hatte nachgelassen, aber das Schneetreiben war noch dichter geworden. Klara stand mit dem Rücken an der Hauswand. Die Schrotflinte lag kalt in ihren Händen. Die Gedanken jagten mit ihrem Herz um die Wette. Was ging da vor? Vorsichtig nahm sie die kleine Taschenlampe heraus, die sie in der Küche gefunden hatte.
Da hörte sie es, gedämpft vom Wind und Schnee. Schnelle Schritte, gefolgt von einem scharrenden Geräusch und einem dumpfen Rums. Als wäre jemand auf den Klippen gestürzt. Sie suchte mit einem Knie auf dem Boden Halt, den Kolben an die Schulter gedrückt. Den Lauf und die Taschenlampe hielt sie in der linken Hand. Jemand hustete, röchelte, spuckte. Ein Geräusch, das wie eine Stimme klang. Einen Steinwurf entfernt, nicht weiter. Hinter dem Giebel. Dann eine andere Stimme. Angestrengt, flüsternd. Nur Bruchstücke. Klara atmete aus. Atmete ein. Setzte alles auf eine Karte.
Im selben Moment, als sie die Taschenlampe einschaltete, wirbelte sie um die Hausecke und ging sofort wieder in die Hocke, ein Knie in den Schnee, gegen das Felsgestein gestemmt. Den Kolben an der Schulter, den Lauf und den Lichtkegel der Taschenlampe direkt auf die Stelle gerichtet, von der die Geräusche gekommen waren. Die Zeit stand still.
Der Lichtschein fing drei Menschen ein. Zwei schwarz gekleidete Männer. Einer saß in der Hocke, der andere stand. Auf dem Boden lag der Amerikaner. Dunkles Blut zeichnete sich auf dem weißen Schnee ab.
Jemand sagte etwas. Alle Geräusche schienen verzögert, in die Länge gezogen, ergaben keinen Sinn. Der stehende Mann hob geblendet vom Licht der Taschenlampe die Hand. Auch er bewegte sich langsam, wie in Zeitlupe. Sie nahm den hockenden Mann neben dem Amerikaner ins Visier. Sein Gesicht. Seine Narbe. Die spärlichen grauen Haare, die unter einer schwarzen Mütze hervorschauten. Im Licht funkelnde Augen.
Es dauerte eine Ewigkeit, bis der Mann mit der Narbe sein kleines Maschinengewehr auf sie richtete. Eine Ewigkeit, bis der andere Mann seine Waffe erhob. Klara drückte ab und wurde vom Rückstoß zurückgeworfen.
Dann setzte die Zeit wieder ein. Der Knall des Gewehres war ohrenbetäubend. Der Mann mit der Narbe flog rückwärts über den schneebedeckten Fels und landete ausgestreckt neben einem einsamen nackten Wacholderstrauch.
Schräg hinter sich hörte Klara ein mechanisches Husten. Dreimal, viermal, fünfmal, gefolgt von einem Klicken. Als sie den Blick wieder auf die Szenerie vor sich richtete, lag der Mann, der gerade noch gestanden hatte, rücklings im Schnee. Hinter sich vernahm Klara Atemzüge. Ein leises Wimmern. Stolpernde Schritte auf dem schneebedeckten Fels. Vorsichtig drehte sie sich in die Richtung des Geräuschs, zum Haus. Ließ die Taschenlampe an der Fassade entlangschweifen, bis sie schließlich ein seltsames Geschöpf einfing. Es war groß und dünn. Hohläugig. Sein Gesicht bedeckten Abschürfungen, Wunden und sich lösende Pflaster. Seine Lippen waren blau vor Kälte. In der Hand hielt der Mann eine dunkelgraue Pistole, an deren Lauf ein langer Zylinder saß. Er ließ die Pistole in den Schnee fallen und stützte sich an der Hauswand ab. Schloss die Augen. Brach im Schnee zusammen. Sein Rücken rutschte an der Hauswand hinunter.
Klara schwenkte den Lauf ihrer Flinte. Wusste nicht, wohin sie ihn richten sollte. «Wer sind Sie?», fragte sie.
Unentschlossen nahm sie den Mann ins Visier. Ihr war nicht mehr klar, wo oben und unten war, wer Freund oder Feind. Sie lehnte sich vor. Etwas an dem geschundenen Gesicht kam ihr bekannt vor.
Als sie einen Schritt auf ihn zumachte, hob der Mann abwehrend die Hände.
«George», sagte er. «George Lööw.»
Klara blieb stehen, schüttelte den Kopf. Ihre Ohren waren noch taub von den Schüssen. Ungehindert peitschte ihr der Wind Schnee ins Gesicht. George Lööw? Hatte er wirklich George Lööw gesagt?
«Wo zum Teufel kommst du denn her?», fragte sie.
George zuckte nur die Schultern und starrte leer und idiotisch vor sich hin. Klara zögerte. Dann wandte sie sich zu dem Amerikaner um, der noch immer im Schnee lag.
«Alles okay?», rief sie George über die Schulter zu, während sie zu dem Amerikaner hinüberlief.
«Ja, alles okay. Glaube ich jedenfalls.»
Georges Stimme klang völlig ausdruckslos.
Klara beugte sich über den Amerikaner, ließ den Lichtkegel der Taschenlampe über ihn gleiten. Blut, viel zu viel Blut. Seine Augen waren geschlossen, aber seine Lippen bewegten sich kaum sichtbar. Blut rann aus seinem Mundwinkel. Klara legte ihr Ohr an seinen Mund, roch das Blut, den Gestank von Tod, nichts als Tod.
«Ich konnte dich nicht beschützen.»
Die Stimme des Mannes war schwach, so undeutlich.
«Gib ihnen nicht, was sie wollen. Du kannst ihnen nicht vertrauen.»
Klara kämpfte gegen den Horror, das Weinen an.
«Das wird schon wieder in Ordnung kommen.»
Mehr konnte sie nicht sagen. Es war bedeutungslos. Nichts würde wieder in Ordnung kommen.
«Deine Mutter», flüsterte der Amerikaner. «Sie hat dich über alles geliebt.»
Dann nur noch Schweigen. Wind und Schnee. Klara griff nach seiner Hand, die er zur Faust geballt hatte. Sie war kalt, gleich würde sie tot sein. Sein Mund öffnete sich. In seine Augen trat ein leerer, gläserner Ausdruck. Klara öffnete mühsam seine Faust, um seine Hand halten zu können. Etwas fiel ihm aus den Fingern in den Schnee, ins Blut. Sie tastete danach. Das Silber des Amuletts war noch überraschend warm. Mit steifen Fingern öffnete sie den kleinen Verschluss.