20. Dezember 2013
Brüssel, Belgien

Niemand konnte ohne besondere Einladung das Europaparlament betreten, es sei denn, er besaß eine spezielle Karte – einen badge, wie man in Brüssel sagte. Alle EU-Beamten besaßen einen, genau wie gewisse Lobbyisten permanent gültige Karten hatten. Georges Lobbyisten-Badge erlaubte ihm den Zutritt zum Parlament werktags zwischen acht Uhr morgens und achtzehn Uhr abends.

Um zwei Minuten vor acht stand er an der obligatorischen Sicherheitskontrolle und wartete, bis seine Tasche durchleuchtet worden war. Er war blass. Der kalte Schweiß stand ihm auf der Stirn. Unter den Augen hatte er so dunkle Ringe wie der Verlierer eines Boxkampfs. Und genau so fühlte er sich auch. Seit er in der Nacht von Reiper zurückgekehrt war, hatte er kein Auge zugetan. Hellwach hatte er auf dem Rücken im Bett gelegen und die Situation wieder und wieder gedreht und gewendet, ohne einen Ausweg zu finden. Wenn er Reipers Auftrag verweigerte, würde es für ihn das Aus bedeuten. Er würde von Merchant & Taylor gefeuert werden. Und käme ins Gefängnis.

Es gab ganz einfach keine Alternative.

Andererseits würde er sich gleich mehrfach strafbar machen, wenn er tat, worum Reiper ihn bat. Und Reiper würde noch mehr gegen ihn in der Hand haben. Wirklich kein verlockender Gedanke. Wo sollte das alles hinführen? Er musste den Tatsachen ins Auge sehen: Digital Solutions, wer auch immer dahintersteckte, hatte die Macht über ihn.

Gegen halb sechs hatte er den Versuch zu schlafen aufgegeben und war aus dem Bett gestiegen, um zu duschen und sich anzuziehen. Wahrscheinlich war die einzige Chance, um seinen Auftrag auszuführen, ein Einbruch in Klaras Büro, ehe sie dort eintraf. Josh hatte ihm irgendeinen elektronischen Spezialdietrich gegeben, der angeblich auch die verschlossenen Türen im Parlament im Handumdrehen öffnete, ohne das Schloss zu zerstören.

«You can’t go wrong, buddy. It’s a catwalk», hatte er gesagt und George zu einem High Five gezwungen, während er sein blitzweißes Sportlerlächeln aufsetzte, das ebenso aufmunternd wie höhnisch wirkte.

Natürlich hatte George wie alle anderen Jungen früher davon geträumt, Spion zu werden. In verschlossene Büros einzubrechen, um an geheime Informationen zu kommen und gleichzeitig den scharfen Bräuten zu imponieren. Geheime Übergaben in düsteren Parks. Beschatten und beschattet werden. Aber diese Sache hier erschien ihm einfach nur abscheulich. Als wäre er ein kleiner Einbrecher. So plump. So armselig. Und noch dazu hatte er eine Heidenangst. Was sollte er tun, wenn Klara schon dort war? Wenn sie ihn in ihrem Büro ertappte? Oder noch schlimmer, auf welche Ideen würde Reiper kommen, wenn er versagte?

Normalerweise waren die Referenten nicht vor halb neun im Büro. Besprechungen und Telefonate wurden im Parlament üblicherweise erst ab neun geführt. Wenn er seinen Auftrag in Klaras Büro bis zwanzig nach acht erledigt hatte, sollte er auf der sicheren Seite sein. Hoffte er. Er spürte, wie er unter den Achseln schwitzte. Ekelhaft.

Bevor er von zu Hause aufgebrochen war, hatte er einen Grundriss auf der Homepage des Parlaments studiert, um genau zu wissen, wo die Büros von Klara und Boman lagen. Aus Erfahrung wusste er, dass alle Büros vom Flur aus erreichbar, aber auch durch Zwischentüren miteinander verbunden waren.

Er hob seine Tasche vom Band und ging auf die Aufzüge zu, um zur kleinen Domäne der schwedischen Sozialdemokraten im fünfzehnten Stock hinaufzufahren.

Genau wie George gehofft hatte, war der Korridor leer. Er hörte nur seine eigenen gedämpften Schritte auf dem hellblauen Teppich. Klaras und Bomans Büroräume lagen am anderen Ende des Gangs.

Während er sich umsah, steckte er die Hand in die Tasche und zog das elektrische Werkzeug heraus, das Josh ihm gegeben hatte. Es sah aus wie ein kleiner Rasierapparat. Mit einem einfachen Handgriff befestigte er ein langes, schmales Metallstück am Gerät und drückte hastig auf den Einschaltknopf. Es surrte, genau wie heute Nacht, als Josh es ihm gezeigt hatte.

Georges Hände zitterten, das Hemd klebte an seinem Rücken. Er warf erneut einen Blick über die Schulter und holte ein Tütchen Kokain aus der Tasche. Nur eine kleine, feine Line. Um das durchzustehen.

Ziemlich abgewrackt, schon morgens damit anzufangen, aber dies war ein Notfall. Nichts lief nach Plan. Wären nicht Reiper und all dieser ganze Mist, würde er nie morgens eine Line durchziehen. Niemals. Aber unter diesen Umständen? Dies war wirklich ein Notfall. Er schüttete ein wenig von dem kreideweißen Pulver auf seine Platinum Card. Machte sich nicht die Mühe, eine gerade Linie zu formen, sondern hielt sich nur das linke Nasenloch zu und zog mit dem anderen das Pulver ein. Seine Synapsen reagierten sofort. Der Körper erwachte zu neuem Leben. Er sah klarer. War zielgerichteter, konzentrierter. Er schloss die Augen und schüttelte den Kopf, ehe er sich die Nasenlöcher mit Daumen und Zeigefinger säuberte. Irgendwie würde er diese Scheiße schon hinkriegen. Also los!

George sah auf die Uhr. Sieben Minuten nach acht. Nach seinen Berechnungen hatte er noch dreizehn Minuten Zeit. Er musste sich ranhalten. Rasch holte er das dünne, längliche Metallstück mit dem kleinen Haken am Ende hervor. Ohne zu zögern, schob er es in das Schloss von Klaras Bürotür, um einen Teil des Kolbens zu fixieren und den Dietrich direkt daneben einzuführen. Dann drückte er erneut den Einschaltknopf und zog den Dietrich über die kleinen Zacken im Schloss.

Es dauerte nicht einmal zwanzig Sekunden, schon hatte er sein erstes Schloss geknackt. Das Herz raste in seiner Brust. Er holte tief Luft und öffnete die Tür zu Klaras Büro. Dann schlüpfte er hinein und verriegelte die Tür von innen. Würde nun jemand die Tür aufsperren, hätte er genug Zeit, um durch die Verbindungstür in Bomans Büro zu flüchten. Klaras Arbeitszimmer unterschied sich nicht von denen der anderen Referenten in Brüssel. Seit er in der Stadt war, hatte George einige davon gesehen. Streng genommen war dieses Büro besser als die meisten, weil es so weit oben lag und noch dazu an einer Ecke. Die Aussicht war phantastisch. Aber er hatte jetzt wirklich keine Zeit, um sie zu bewundern.

Klaras kleiner aluminiumfarbener Laptop stand mitten auf dem Schreibtisch. Bingo. Er befand sich noch im Standby-Modus, und George öffnete den Bildschirm, um ihn zum Leben zu erwecken. Noch zehn Minuten. Als der Computer wieder lief, steckte George den USB-Stick in den Zugang und klickte auf das Symbol, das auf dem Bildschirm auftauchte. Er zog das Icon des Programms von dem Stick und legte es auf dem Desktop des Computers ab. Alles andere erledigte das Programm von selbst. Josh hatte es ihm letzte Nacht bestimmt zehnmal hintereinander vorgeführt. Der Vorgang würde eine knappe Minute dauern. Währenddessen befestigte George die kleine Plastikkapsel so weit hinten wie möglich unter dem Schreibtisch. Sie war oben mit einer Art Klebeband versehen und blieb problemlos haften. George wiederholte dieses Manöver in Bomans Büro und ging wieder zurück, um zu sehen, ob sich das Programm bei Klara installiert hatte.

Als er sich gerade vor den Computer gesetzt hatte, um den Stick wieder herauszuziehen, hörte er einen Schlüssel im Schloss. Wie zur Hölle war das möglich? Die Referenten waren doch nie so früh hier. Er riss den USB-Stick aus der Buchse und klappte hastig den Deckel des Laptops zu, um ihn wieder in den Ruhezustand zu versetzen. Mit langen Schritten hastete er in Bomans Büro. In dem Moment, als er die Tür zuschob, sah er, wie sich die Tür von Klaras Büro öffnete, und er nahm einen dezenten Parfümduft wahr. Seine Beine zitterten. Durch die dünne Wand hindurch hörte er, wie Klara in dem anderen Raum hin und her ging. Ihr Telefon klingelte.

«Hallo, Eva-Karin», hörte er sie sagen. «Ja, ich bin jetzt hier. Klar kann ich dir das ausdrucken. Okay, dann sehen wir uns gleich.»

So ein Mist, Boman war auch schon auf dem Weg hierher! George wollte lautlos zur Tür schleichen, wagte es jedoch nicht. Wie angewurzelt blieb er an der Wand stehen und versuchte, wieder die Kontrolle über seinen Körper zu erlangen. Schließlich riss er sich zusammen. Leise glitt er zur Tür und öffnete vorsichtig das Schloss. Es ertönte ein Klicken, das George wie ein hallender Schuss vorkam. Doch er hatte keine Zeit zu verlieren. Zum Glück war hier alles neu, und die Scharniere quietschten nicht. Er schob die Tür gerade so weit auf, dass er sich hinauszwängen konnte. Es gab keine Möglichkeit, sie wieder abzuschließen. Sie mussten ganz einfach annehmen, dass die Putzkolonne es in der Nacht vergessen hatte. George hastete den Gang hinunter. Die ganze Zeit über erwartete er, dass hinter ihm Klaras Tür geöffnet würde. Aber das geschah nicht. Endlich stand er vor den Aufzügen und drückte wie ein Besessener auf die Knöpfe. Schließlich ertönte am hinteren Fahrstuhl ein «Pling», und die Türen glitten auf. In seinem Eifer, endlich in den Aufzug zu gelangen, rannte George direkt in Eva-Karin Boman hinein.

«Sorry, I am so sorry», murmelte er in panischem Englisch und mit abgewandtem Gesicht. Eva-Karin schien ihn hingegen gar nicht zu beachten.

Drei Minuten später saß George auf der Treppe neben dem Haupteingang, den Kopf zwischen den Knien, und versuchte, wieder normal zu atmen. Wie der letzte Penner, dachte er. Was mache ich hier eigentlich? Was zum Henker mache ich nur? Seine linke Hand kramte in der Hosentasche nach dem Kokaintütchen. Wenn er sich nach diesem Morgen keine Line verdient hatte, wann dann?