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Aufforderung zum Tanz. – Die Psychoanalyse tut sich etwas zugute darauf, den Menschen ihre Genußfähigkeit wiederzugeben, wie sie durch die neurotische Erkrankung gestört sei. Als ob nicht das bloße Wort Genußfähigkeit genügte, diese, wenn es so etwas gibt, aufs empfindlichste herabzusetzen. Als ob nicht ein Glück, das sich der Spekulation auf Glück verdankt, das Gegenteil von Glück wäre, ein weiterer Einbruch institutionell geplanter Verhaltensweisen ins immer mehr schrumpfende Bereich der Erfahrung. Welch einen Zustand muß das herrschende Bewußtsein erreicht haben, daß die dezidierte Proklamation von Verschwendungssucht und Champagnerfröhlichkeit, wie sie früher den Attachés in ungarischen Operetten vorbehalten war, mit tierischem Ernst zur Maxime richtigen Lebens erhoben wird. Das verordnete Glück sieht denn auch danach aus; um es teilen zu können, muß der beglückte Neurotiker auch noch das letzte bißchen an Vernunft preisgeben, das ihm Verdrängung und Regression übrig ließen, und dem Psychoanalytiker zuliebe an dem Schundfilm, dem teuren aber schlechten Essen im French Restaurant, dem seriösen drink und dem als sex dosierten Geschlecht wahllos sich begeistern. Das Schillersche »Das Leben ist doch schön«, das immer schon Papiermaché war, ist zur Idiotie geworden, seitdem es im Einverständnis mit der omnipräsenten Reklame ausposaunt wird, zu deren Fanalen auch die Psychoanalyse, ihrer besseren Möglichkeit zum Trotz, Scheite herbeiträgt. Wie die Leute durchweg zu wenig Hemmungen haben und nicht zu viele, ohne doch darum um ein Gran gesünder zu sein, so müßte eine kathartische Methode, die nicht an der gelungenen Anpassung und dem ökonomischen Erfolg ihr Maß findet, darauf ausgehen, die Menschen zum Bewußtsein des Unglücks, des allgemeinen und des davon unablösbaren eigenen, zu bringen und ihnen die Scheinbefriedigungen zu nehmen, kraft derer in ihnen die abscheuliche Ordnung nochmals am Leben sich erhält, wie wenn sie sie nicht von außen bereits fest genug in der Gewalt hätte. Erst in dem Überdruß am falschen Genuß, dem Widerwillen gegens Angebot, der Ahnung von der Unzulänglichkeit des Glücks, selbst wo es noch eines ist, geschweige denn dort, wo man es durch die Aufgabe des vermeintlich krankhaften Widerstands gegen sein positives Surrogat erkauft, würde der Gedanke von dem aufgehen, was man erfahren könnte. Die Ermahnung zur happiness, in der der wissenschaftlich lebemännische Sanatoriumsdirektor mit den nervösen Propagandachefs der Vergnügungsindustrie übereinstimmt, trägt die Züge des wütenden Vaters, der die Kinder anbrüllt, weil sie nicht jubelnd die Treppe hinunterstürzen, wenn er mißlaunisch aus dem Geschäft nach Hause kommt. Es gehört zum Mechanismus der Herrschaft, die Erkenntnis des Leidens, das sie produziert, zu verbieten, und ein gerader Weg führt vom Evangelium der Lebensfreude zur Errichtung von Menschenschlachthäusern so weit hinten in Polen, daß jeder der eigenen Volksgenossen sich einreden kann, er höre die Schmerzensschreie nicht. Das ist das Schema der ungestörten Genußfähigkeit. Triumphierend darf die Psychoanalyse dem, der es beim Namen nennt, bestätigen, er habe halt einen Ödipuskomplex.
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Ich ist Es. – Man pflegt die Entwicklung der Psychologie mit dem Aufstieg des bürgerlichen Individuums, in der Antike wie seit der Renaissance, zusammenzubringen. Darüber sollte nicht das konträre Moment übersehen werden, das die Psychologie ebenfalls mit der bürgerlichen Klasse gemein hat und das heute zur Ausschließlichkeit sich entfaltet: Unterdrückung und Auflösung eben des Individuums, in dessen Dienst die Rückbeziehung der Erkenntnis auf ihr Subjekt stand. Wenn alle Psychologie seit der des Protagoras den Menschen erhöhte durch den Gedanken, er sei das Maß aller Dinge, so hat sie damit von Anbeginn zugleich ihn zum Objekt gemacht, zum Material der Analyse, und ihn selber, einmal unter die Dinge eingereiht, deren Nichtigkeit überantwortet. Die Verleugnung der objektiven Wahrheit durch den Rekurs aufs Subjekt schließt dessen eigene Negation ein: kein Maß bleibt fürs Maß aller Dinge, es verfällt der Kontingenz und wird zur Unwahrheit. Das aber deutet zurück auf den realen Lebensprozeß der Gesellschaft. Das Prinzip der menschlichen Herrschaft, das zum absoluten sich entfaltete, hat eben damit seine Spitze gegen den Menschen als das absolute Objekt gekehrt, und die Psychologie hat daran mitgewirkt, jene Spitze zu schärfen. Das Ich, ihre leitende Idee und ihr apriorischer Gegenstand, ist unter ihrem Blick stets zugleich schon zum Nicht-Existenten geworden. Indem Psychologie sich darauf stützen konnte, daß das Subjekt in der Tauschgesellschaft keines ist, sondern in der Tat deren Objekt, konnte sie ihr die Waffen liefern, es erst recht zu einem solchen zu machen und unten zu halten. Die Zerlegung des Menschen in seine Fähigkeiten ist eine Projektion der Arbeitsteilung auf deren vorgebliche Subjekte, untrennbar vom Interesse, sie mit höherem Nutzen einsetzen, überhaupt manipulieren zu können. Psychotechnik ist keine bloße Verfallsform der Psychologie, sondern ihrem Prinzip immanent. Hume, dessen Werk mit jedem Satz Zeugnis ablegt vom realen Humanismus und der zugleich das Ich unter die Vorurteile verweist, drückt in solchem Widerspruch das Wesen der Psychologie als solcher aus. Dabei hat er noch die Wahrheit auf seiner Seite, denn was als Ich sich selber setzt, ist in der Tat bloßes Vorurteil, die ideologische Hypostase der abstrakten Zentren von Beherrschung, deren Kritik den Abbau der Ideologie von »Persönlichkeit« erfordert. Aber dieser Abbau macht zugleich die Residuen um so beherrschbarer. An der Psychoanalyse wird das flagrant. Sie zieht die Persönlichkeit als Lebenslüge ein, als die oberste Rationalisierung, welche die zahllosen Rationalisierungen zusammenhält, kraft deren das Individuum seinen Triebverzicht zuwege bringt und dem Realitätsprinzip sich einordnet. Zugleich aber bestätigt sie dem Menschen in eben solchem Nachweis sein Nichtsein. Sie entäußert ihn seiner selbst, denunziert mit seiner Einheit seine Autonomie und unterwirft ihn so vollends dem Rationalisierungsmechanismus, der Anpassung. Die unerschrockene Kritik des Ichs an sich selbst geht in die Aufforderung über, das der andern solle kapitulieren. Am Ende wird die Weisheit der Psychoanalytiker wirklich zu dem, wofür das faschistische Unbewußte der Schauermagazine sie hält, zur Technik eines Spezialrackets unter anderen, leidende und hilflose Menschen unwiderruflich an sich zu fesseln, sie zu kommandieren und auszubeuten. Suggestion und Hypnose, die sie als apokryph ablehnt, der marktschreierische Zauberer vor der Schaubude, kehrt in ihrem grandiosen System wieder wie im Großfilm der Kintopp. Aus dem, der hilft, weil er es besser weiß, wird der, welcher den andern durchs rechthaberische Privileg erniedrigt. Von der Kritik des bürgerlichen Bewußtseins bleibt nur jenes Achselzucken, mit dem alle Ärzte ihr geheimes Einverständnis mit dem Tod bekundet haben. – In der Psychologie, dem abgründigen Trug des bloß Inwendigen, der es nicht umsonst mit den »properties« der Menschen zu tun hat, reflektiert sich, was die Organisation der bürgerlichen Gesellschaft mit dem auswendigen Eigentum von je verübte. Sie hat es, als Resultat des gesellschaftlichen Tauschs, entwickelt, aber zugleich mit einer objektiven Vorbehaltsklausel, von der jeder Bürger ahnt. Der Einzelne ist damit gleichsam bloß von der Klasse belehnt, und die Verfügenden sind bereit, es zurückzunehmen, sobald allgemeines Eigentum seinem Prinzip selber gefährlich werden könnte, das gerade in der Vorenthaltung besteht. Psychologie wiederholt an den Eigenschaften, was dem Eigentum widerfuhr. Sie expropriiert den Einzelnen, indem sie ihm ihr Glück zuteilt.
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Immer davon reden, nie daran denken. – Seitdem mit Hilfe des Films, der Seifenopern und der Horney die Tiefenpsychologie in die letzten Löcher dringt, wird den Menschen auch die letzte Möglichkeit der Erfahrung ihrer selbst von der organisierten Kultur abgeschnitten. Die fertig gelieferte Aufklärung verwandelt nicht nur die spontane Reflexion, sondern auch die analytischen Einsichten, deren Kraft gleich ist der Energie und dem Leiden, womit sie errungen werden, in Massenprodukte und die schmerzlichen Geheimnisse der individuellen Geschichte, die schon die orthodoxe Methode auf Formeln zu reduzieren geneigt ist, in geläufige Konventionen. Die Auflösung der Rationalisierungen wird selbst zu einer Rationalisierung. Anstatt die Arbeit der Selbstbesinnung zu leisten, erwerben die Belehrten die Fähigkeit, alle Triebkonflikte unter Begriffe wie Minderwertigkeitskomplex, Mutterbindung, extrovert und introvert zu subsumieren, von denen sie im Grunde sich gar nicht erreichen lassen. Der Schrecken vorm Abgrund des Ichs wird weggenommen durch das Bewußtsein, daß es sich dabei um gar nicht so viel anderes als um Arthritis oder Sinus troubles handle. Dadurch verlieren die Konflikte das Drohende. Sie werden akzeptiert; keineswegs aber geheilt, sondern bloß in die Oberfläche des genormten Lebens als unumgängliches Bestandstück hineinmontiert. Zugleich werden sie, als ein allgemeines Übel, von dem Mechanismus der unmittelbaren Identifikation des Einzelnen mit der gesellschaftlichen Instanz absorbiert, der die angeblich normalen Verhaltensweisen längst ergriffen hat. Anstelle jener Katharsis, deren Gelingen ohnehin in Frage steht, tritt der Lustgewinn, in der eigenen Schwäche auch ein Exemplar der Majorität zu sein und damit nicht sowohl, wie ehedem die Sanatoriumsinsassen, das Prestige des interessanten pathologischen Falls zu gewinnen, als vielmehr gerade vermöge jener Defekte sich als dazugehörig auszuweisen und Macht und Größe des Kollektivs auf sich zu übertragen. Der Narzißmus, dem mit dem Zerfall des Ichs sein libidinöses Objekt entzogen ist, wird ersetzt durch das masochistische Vergnügen, kein Ich mehr zu sein, und über ihrer Ichlosigkeit wacht die heraufziehende Generation so eifersüchtig wie über wenigen ihrer Güter, als einem gemeinsamen und dauernden Besitz. Das Reich der Verdinglichung und Normierung wird auf diese Weise bis in seinen äußersten Widerspruch hinein, das vorgeblich Abnorme und Chaotische, ausgedehnt. Das Inkommensurable wird gerade als solches kommensurabel gemacht, und das Individuum ist kaum einer Regung mehr fähig, die es nicht als Beispiel dieser oder jener öffentlich anerkannten Konstellation benennen könnte. Solche auswendig übernommene und gleichsam jenseits der eigenen Dynamik vollzogene Identifizierung indessen schafft mit dem genuinen Bewußtsein der Regung schließlich auch diese selbst ab. Sie wird zum an- und abstellbaren Reflex stereotyper Atome auf stereotype Reize. Überdies bewirkt die Konventionalisierung der Psychoanalyse deren eigene Kastration: die sexuellen Motive, teils verleugnet, teils approbiert, werden gänzlich harmlos, aber auch gänzlich nichtig. Mit der Angst, die sie bereiten, entschwindet auch die Lust, die sie bereiten könnten. So wird Psychoanalyse das Opfer eben der Substitution des zugeeigneten Überichs durch die verbissene Übernahme eines beziehungslosen Äußeren, welche sie selber verstehen lehrte. Das letzte großkonzipierte Theorem der bürgerlichen Selbstkritik ist zu einem Mittel geworden, die bürgerliche Selbstentfremdung in ihrer letzten Phase zur absoluten zu machen und noch die Ahnung der uralten Wunde zu vereiteln, bei der die Hoffnung eines Besseren in der Zukunft liegt.
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Drinnen und draußen. – Aus Pietät, Schlamperei und Berechnung läßt man die Philosophie in immer engerem akademischen Rahmen weiterwursteln und ist selbst dort stets mehr bestrebt, durch die organisierte Tautologie sie zu ersetzen. Wer dem beamteten Tiefsinn sich anvertraut, verfällt wie vor hundert Jahren dem Zwang, in jedem Augenblick ebenso naiv zu sein wie die Kollegen, von denen die Karriere abhängt. Aber dem außerakademischen Denken, das solchem Zwang und dem Widerspruch zwischen hochtrabenden Stoffen und spießbürgerlicher Behandlung sich entziehen möchte, droht kaum geringere Gefahr: durch den ökonomischen Druck des Marktes, vor dem in Europa wenigstens die Professoren geschützt waren. Der Philosoph als Schriftsteller, der seinen Lebensunterhalt erwerben will, muß gleichsam in jedem Augenblick etwas Piekfeines, Erlesenes bieten, durchs Monopol der Seltenheit gegen das des Amtes sich behaupten. Der widerliche Begriff des geistigen Leckerbissens, den Pedanten sich ausgedacht haben, kommt am Ende an ihren Widersachern noch zu seinem beschämenden Recht. Wenn der gute alte Schmock stöhnt unter der Forderung des Zeitungschefs, er solle lauter Brillantes schreiben, so meldet er in aller Unbefangenheit das Gesetz an, das verschwiegen hinter den Werken über den kosmogonischen Eros und den Kosmos Atheos, den Gestaltwandel der Götter und das Geheimnis des Johannesevangeliums waltet. Der Lebensstil des verspäteten Bohémiens, der dem nichtakademischen Philosophen aufgezwungen wird, bringt ihn ohnehin in fatale Affinität zu Kunstgewerbe, Seelenkitsch und sektiererischer Halbbildung. Das München vorm ersten Weltkrieg war eine Brutstätte jener Geistigkeit, deren Protest gegen den Rationalismus der Schulen über die Kulte vom Kostümfest womöglich noch rascher in den Faschismus mündete als das verzagte System des alten Rickert. So groß ist die Macht der fortschreitenden Organisation des Gedankens, daß sie jene, die sich draußen halten wollen, zur Eitelkeit des Ressentiments, zur Geschwätzigkeit der Selbstanpreisung, schließlich die Unterlegenen zur Hochstapelei treibt. Wenn die Ordinarien den Grundsatz Sum ergo cogito aufstellen und im offenen System der Platzangst, in der Geworfenheit der Volksgemeinschaft verfallen, so verirren sich ihre Gegner, wenn sie nicht gar sehr auf der Hut sind, in die Gegend der Graphologie und der rhythmischen Gymnastik. Den Zwangstypen dort entsprechen die Paranoiker hier. Der sehnsüchtige Gegensatz zur Tatsachenforschung, das rechtmäßige Bewußtsein, im Szientivismus sei das Beste vergessen, kommt als naives der Spaltung zugute, unter der es leidet. Anstatt die Fakten zu begreifen, hinter denen die andern sich verschanzen, rafft es davon zusammen, was in der Eile sich bietet, macht sich auf die Flucht und spielt mit den apokryphen Kenntnissen, mit ein paar isolierten und hypostasierten Kategorien und mit sich selber so unkritisch, daß dann auch noch der Verweis auf die unnachgiebigen Fakten recht behält. Gerade das kritische Element geht dem scheinbar unabhängigen Denken verloren. Die Insistenz auf dem unter der Schale verborgenen Weltgeheimnis, die ehrfürchtig dessen Beziehung zur Schale unausgemacht läßt, bestätigt dieser oft genug gerade durch solche Enthaltsamkeit, daß sie eben doch ihren guten Sinn habe, den man hinnehmen müsse, ohne zu fragen. Zwischen der Lust an der Leere und der Lüge von der Fülle läßt der herrschende Stand des Geistes kein Drittes mehr zu.
Trotzdem ist der Blick aufs Entlegene, der Haß gegen Banalität, die Suche nach dem Unabgegriffenen, vom allgemeinen Begriffsschema noch nicht Erfaßten die letzte Chance für den Gedanken. In einer geistigen Hierarchie, die unablässig alle zur Verantwortung zieht, ist Unverantwortlichkeit allein fähig, die Hierarchie unmittelbar selber beim Namen zu rufen. Die Zirkulationssphäre, deren Male die intellektuellen Außenseiter tragen, eröffnet dem Geist, den sie verschachert, die letzten Refugien in dem Augenblick, in dem es sie eigentlich schon gar nicht mehr gibt. Wer ein Unikum anbietet, das niemand mehr kaufen will, vertritt, selbst gegen seinen Willen, die Freiheit vom Tausch.
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Gedankenfreiheit. – Die Verdrängung der Philosophie durch die Wissenschaft hat, wie man weiß, zu einer Trennung der beiden Elemente geführt, deren Einheit Hegel zufolge das Leben von Philosophie ausmacht, Reflexion und Spekulation. Den Reflexionsbestimmungen wird ernüchtert das Land der Wahrheit überlassen und die Spekulation darin mißmutig bloß zwecks Formulierung von Hypothesen geduldet, die außerhalb der Arbeitszeit ausgedacht und so schnell wie möglich eingelöst werden müssen. Wer aber darum glaubte, daß der spekulative Bereich in seiner außerwissenschaftlichen Gestalt unangefochten erhalten, gleichsam vom Betrieb der universalen Statistik in Ruhe gelassen würde, irrte gründlich. Vorweg bekommt die Lostrennung von der Reflexion der Spekulation selber schlecht genug. Diese wird entweder zum gelehrsamen Nachbeten überlieferter philosophischer Entwürfe degradiert oder entartet, in ihrer Distanz von den blind gemachten Fakten, zum Geschwätz unverbindlich privater Weltanschauung. Damit jedoch nicht zufrieden, gliedert der Wissenschaftsbetrieb selber die Spekulation sich ein. Unter den öffentlichen Funktionen der Psychoanalyse ist das nicht die letzte. Ihr Medium ist die freie Assoziation. Der Weg ins Unbewußte der Patienten wird gebahnt, indem man ihnen die Verantwortung der Reflexion ausredet, und die analytische Theoriebildung selber folgt der gleichen Spur, sei's, daß sie von Verlauf und Stockung jener Assoziationen ihre Befunde sich vorzeichnen läßt, sei's, daß die Analytiker, und gerade die begabtesten wie Groddeck, der eigenen Assoziation sich anvertrauen. Entspannt wird auf dem Diwan vorgeführt, was einmal die äußerste Anspannung des Gedankens von Schelling und Hegel auf dem Katheder vollbrachte: die Dechiffrierung des Phänomens. Aber solches Nachlassen der Spannung affiziert die Qualität der Gedanken: der Unterschied ist kaum geringer als der zwischen der Philosophie der Offenbarung und dem Gequatsche der Schwiegermutter. Die gleiche Bewegung des Geistes, die einmal dessen »Material« zum Begriff erheben sollte, wird selber herabgesetzt zum bloßen Material für begriffliche Ordnung. Was einem einfällt, ist gerade gut genug dazu, daß Geschulte entscheiden, ob der Produzierende ein Zwangscharakter, ein oraler Typ, ein Hysteriker sei. Vermöge der Lockerung der Verantwortlichkeit, die in der Loslösung von der Reflexion, der Kontrolle des Verstandes liegt, wird Spekulation selber als Objekt der Wissenschaft überlassen, deren Subjektivität mit ihr erloschen ist. Indem der Gedanke vom Verwaltungsschema der Analyse an seine unbewußten Ursprünge sich erinnern läßt, vergißt er, Gedanke zu sein. Aus dem wahren Urteil wird er zum neutralen Stoff. Anstatt daß er, um seiner selbst mächtig zu werden, die Arbeit des Begriffs leistete, vertraut er sich ohnmächtig der Bearbeitung durch den Doktor an, der ohnehin alles schon weiß. So wird Spekulation endgültig gebrochen und selber zur Tatsache, die sich einer der Branchen des Klassifizierens als Belegstück des Immergleichen einfügt.
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Bangemachen gilt nicht. – Was objektiv die Wahrheit sei, bleibt schwer genug auszumachen, aber im Umgang mit Menschen soll man davon nicht sich terrorisieren lassen. Es gibt da Kriterien, die fürs erste ausreichen. Eines der zuverlässigsten ist, daß einem entgegengehalten wird, eine Aussage sei »zu subjektiv«. Wird das geltend gemacht und gar mit jener Indignation, in der die wütende Harmonie aller vernünftigen Leute mitklingt, so hat man Grund, ein paar Sekunden mit sich zufrieden zu sein. Die Begriffe des Subjektiven und Objektiven haben sich völlig verkehrt. Objektiv heißt die nicht kontroverse Seite der Erscheinung, ihr unbefragt hingenommener Abdruck, die aus klassifizierten Daten gefügte Fassade, also das Subjektive; und subjektiv nennen sie, was jene durchbricht, in die spezifische Erfahrung der Sache eintritt, der geurteilten Convenus darüber sich entschlägt und die Beziehung auf den Gegenstand anstelle des Majoritätsbeschlusses derer setzt, die ihn nicht einmal anschauen, geschweige denken – also das Objektive. Wie windig der formale Einwand subjektiver Relativität ist, stellt sich auf dessen eigentlichem Felde heraus, dem der ästhetischen Urteile. Wer jemals aus der Kraft seines präzisen Reagierens im Ernst der Disziplin eines Kunstwerks, dessen immanentem Formgesetz, dem Zwang seiner Gestaltung sich unterwirft, dem zergeht der Vorbehalt des bloß Subjektiven seiner Erfahrung wie ein armseliger Schein, und jeder Schritt, den er vermöge seiner extrem subjektiven Innervation in die Sache hineinmacht, hat unvergleichlich viel größere objektive Gewalt als die umfassenden und wohlbestätigten Begriffsbildungen etwa des »Stils«, deren wissenschaftlicher Anspruch auf Kosten solcher Erfahrung geht. Das ist doppelt wahr in der Ära des Positivismus und der Kulturindustrie, deren Objektivität von den veranstaltenden Subjekten kalkuliert ist. Ihr gegenüber hat Vernunft vollends, und fensterlos, in die Idiosynkrasien sich geflüchtet, denen die Willkür der Gewalthaber Willkür vorwirft, weil sie die Ohnmacht der Subjekte wollen, aus Angst vor der Objektivität, die allein bei diesen Subjekten aufgehoben ist.
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Für Nach-Sokratiker. – Nichts ist dem Intellektuellen, der zu leisten sich vornimmt, was früher Philosophie hieß, unangemessener, als in der Diskussion, und fast möchte man sagen in der Beweisführung, recht behalten zu wollen. Das Rechtbehaltenwollen selber, bis in seine subtilste logische Reflexionsform hinein, ist Ausdruck jenes Geistes von Selbsterhaltung, den aufzulösen das Anliegen von Philosophie gerade ausmacht. Ich kannte einen, der alle Zelebritäten aus Erkenntnistheorie, Natur- und Geisteswissenschaften der Reihe nach zu sich einlud, mit jedem einzeln sein System durchdiskutierte und, nachdem keiner mehr gegen dessen Formalismus ein Argument vorzubringen wagte, seine Sache für schlechterdings wertbeständig hielt. Etwas von solcher Naivetät ist überall dort noch am Werk, wo Philosophie auch nur von ferne dem Gestus des Überzeugens ähnelt. Ihm liegt die Voraussetzung einer universitas literarum zugrunde, eines apriorischen Einverständnisses der Geister, die miteinander kommunizieren können, und damit schon der ganze Konformismus. Wenn Philosophen, denen bekanntlich das Schweigen immer schon schwer fiel, aufs Gespräch sich einlassen, so sollten sie so reden, daß sie allemal unrecht behalten, aber auf eine Weise, die den Gegner der Unwahrheit überführt. Es käme darauf an, Erkenntnisse zu haben, die nicht etwa absolut richtig, hieb- und stichfest sind – solche laufen unweigerlich auf die Tautologie hinaus –, sondern solche, denen gegenüber die Frage nach der Richtigkeit sich selber richtet. – Damit wird aber nicht Irrationalismus angestrebt, das Aufstellen willkürlicher, durch den Offenbarungsglauben der Intuition gerechtfertigter Thesen, sondern die Abschaffung des Unterschieds von These und Argument. Dialektisch denken heißt, unter diesem Aspekt, daß das Argument die Drastik der These gewinnen soll und die These die Fülle ihres Grundes in sich enthalten. Alle Brückenbegriffe, alle Verbindungen und logischen Hilfsoperationen, die nicht in der Sache selber sind, alle sekundären und nicht mit der Erfahrung des Gegenstands gesättigten Folgerungen müßten entfallen. In einem philosophischen Text sollten alle Sätze gleich nahe zum Mittelpunkt stehen. Ohne daß Hegel das je ausgesprochen hätte, legt sein ganzes Verfahren Zeugnis ab von dieser Intention. Wie sie kein Erstes kennen möchte, so dürfte sie streng genommen kein Zweites und kein Abgeleitetes kennen, und den Begriff der Vermittlung hat sie gerade von den formalen Zwischenbestimmungen in die Sachen selber verlegt und damit deren Unterschied von einem ihnen äußerlichen, vermittelnden Denken überwinden wollen. Die Grenzen, die dem Gelingen solcher Intention in der Hegelschen Philosophie gesetzt bleiben, sind zugleich die Grenzen von deren Wahrheit, nämlich die Reste der prima philosophia, der Supposition des Subjekts als eines trotz allem »Ersten«. Zu den Aufgaben der dialektischen Logik gehört es, die letzten Spuren des deduktiven Systems zusammen mit der letzten advokatorischen Gebärde des Gedankens zu beseitigen.
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»Wie scheint doch alles Werdende so krank.« – Das dialektische Denken widersetzt sich der Verdinglichung auch in dem Sinn, daß es sich weigert, ein Einzelnes je in seiner Vereinzelung und Abgetrenntheit zu bestätigen: es bestimmt gerade die Vereinzelung als Produkt des Allgemeinen. So arbeitet es als Korrektiv gegen die manische Fixiertheit wie gegen den widerstandslosen und leeren Zug des paranoiden Geistes, der das absolute Urteil mit dem Preis der Erfahrung der Sache bezahlt. Aber darum ist Dialektik doch nicht, wozu sie in der englischen Hegelschule und dann vollends im angestrengten Pragmatismus Deweys wurde, sense of proportions, das Einstellen der Dinge in ihre rechte Perspektive, der einfache, aber hartnäckige gesunde Menschenverstand. Wenn Hegel im Gespräch mit Goethe solcher Auffassung selber nahezukommen schien, indem er seine Philosophie gegen den Goetheschen Platonismus damit verteidigte, daß sie »im Grunde nichts weiter« sei, »als der geregelte, methodisch ausgebildete Widerspruchsgeist, der jedem Menschen innewohnt, und welche Gabe sich groß erweist in Unterscheidung des Wahren vom Falschen«, so enthält die hintersinnige Formulierung eulenspiegelhaft im Lobe des »jedem Menschen Innewohnenden« zugleich die Denunziation des common sense, zu dessen innerster Bestimmung es gemacht wird, gerade nicht vom common sense sich leiten zu lassen, sondern diesem zu widersprechen. Common sense, die Einschätzung der richtigen Verhältnisse, der am Markt geschulte, weltläufig geübte Blick, hat mit der Dialektik die Freiheit von Dogma, Beschränkung und Verranntheit gemein. Seine Nüchternheit gibt ein unabdingbares Moment von kritischem Denken ab. Aber der Verzicht auf verblendeten Eigensinn ist doch auch wiederum dessen geschworener Feind. Die Allgemeinheit der Meinung, unmittelbar angenommen als eine in der Gesellschaft, wie sie ist, hat zum konkreten Inhalt notwendig das Einverständnis. Es ist kein Zufall, daß im neunzehnten Jahrhundert gerade der abgestandene und durch die Aufklärung mit schlechtem Gewissen versetzte Dogmatismus auf den gesunden Menschenverstand sich berief, so daß ein Erzpositivist wie Mill gezwungen war, gegen diesen zu polemisieren. Der sense of proportions vollends bezieht sich darauf, daß man in den Maßverhältnissen und Größenordnungen des Lebens denken solle, die feststehen. Man muß nur einmal einen hartgesottenen Repräsentanten einer herrschenden Clique haben sagen hören: »Das ist nicht so wichtig«, muß nur beobachten, wann die Bürger von Übertreibung, Hysterie, Narretei reden, um zu wissen, daß es gerade an der Stelle, an der die Berufung auf Vernunft am promptesten eintritt, unweigerlich um die Apologie der Unvernunft geht. Den gesunden Widerspruchsgeist hat Hegel mit der Dickköpfigkeit des Bauern hervorgehoben, der jahrhundertelang lernte, Jagd und Zins der mächtigen Feudalherren zu überstehen. Das Anliegen der Dialektik ist es, den gesunden Ansichten, die spätere Gewalthaber von der Unabänderlichkeit des Weltlaufs hegen, ein Schnippchen zu schlagen und in ihren »proportions« das treue und reduzierte Spiegelbild der unmäßig vergrößerten Mißverhältnisse zu entziffern. Die dialektische Vernunft ist gegen die herrschende die Unvernunft: erst indem sie jene überführt und aufhebt, wird sie selber vernünftig. Wie verrannt und talmudistisch war schon, mitten in der funktionierenden Tauschwirtschaft, die Insistenz auf dem Unterschied der vom Arbeiter verausgabten Arbeitszeit und der zur Reproduktion seines Lebens notwendigen. Wie hat nicht Nietzsche alle Pferde am Schwanz aufgezäumt, auf denen er seine Attacken ritt, wie haben nicht Karl Kraus, Kafka, selbst Proust, jeder auf seine Weise, das Bild der Welt befangen verfälscht, um Falschheit und Befangenheit abzuschütteln. Vor den Begriffen des Gesunden und Kranken, ja den mit ihnen verschwisterten des Vernünftigen und Unvernünftigen selber vermag Dialektik nicht Halt zu machen. Hat sie einmal das herrschende Allgemeine und seine Proportionen als krank – und im wörtlichsten Sinn, gezeichnet mit der Paranoia, der »pathischen Projektion« – erkannt, so wird ihr zur Zelle der Genesung einzig, was nach dem Maß jener Ordnung selber als krank, abwegig, paranoid – ja als »verrückt« sich darstellt, und es gilt heute wie im Mittelalter, daß einzig die Narren der Herrschaft die Wahrheit sagen. Unter diesem Aspekt wäre es die Pflicht des Dialektikers, solcher Wahrheit des Narren zum Bewußtsein ihrer eigenen Vernunft zu verhelfen, ohne welches sie freilich untergehen müßte im Abgrund jener Krankheit, welche der gesunde Menschenverstand der andern mitleidslos diktiert.
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Zur Moral des Denkens. – Naiv und unnaiv, das sind Begriffe, so unendlich ineinander verschlungen, daß es zu nichts Gutem taugt, den einen gegen den andern auszuspielen. Die Verteidigung des Naiven, wie sie von Irrationalisten und Intellektuellenfressern aller Art betrieben wird, ist unwürdig. Die Reflexion, welche die Partei der Naivetät nimmt, richtet sich selbst: Schlauheit und Obskurantismus sind immer noch dasselbe. Vermittelt die Unmittelbarkeit behaupten anstatt diese als in sich vermittelte begreifen, verkehrt Denken in die Apologetik seines eigenen Gegensatzes, in die unmittelbare Lüge. Sie dient allem Schlechten, von der Verstocktheit des privaten Nun-einmal-so-Seins bis zur Rechtfertigung des gesellschaftlichen Unrechts als Natur. Wollte man jedoch darum das Entgegengesetzte zum Prinzip erheben und – wie ich selber einmal es tat – Philosophie die bündige Verpflichtung zur Unnaivetät nennen, so führe man kaum besser. Nicht bloß ist Unnaivetät im Sinne von Versiertheit, Abgebrühtheit, Gewitzigtsein ein fragwürdiges Medium der Erkenntnis, durch Affinität zu den praktischen Ordnungen des Lebens, allseitigen mentalen Vorbehalt gegen Theorie selber stets bereit, in Naivetät, das Hinstarren auf Zwecke zurückzuschlagen. Auch wo Unnaivetät in dem theoretisch verantwortlichen Sinn des Erweiternden, des nicht beim isolierten Phänomen Stehenbleibens, des Gedankens ans Ganze gefaßt wird, liegt eine Wolke darüber. Es ist eben jenes Weitergehen und nicht Verweilenkönnen, jene stillschweigende Zuerkennung des Vorrangs ans Allgemeine gegenüber dem Besonderen, worin nicht nur der Trug des Idealismus besteht, der die Begriffe hypostasiert, sondern auch seine Unmenschlichkeit, die das Besondere, kaum daß sie es ergreift, schon zur Durchgangsstation herabsetzt und schließlich mit Leiden und Tod der bloß in der Reflexion vorkommenden Versöhnung zuliebe allzu geschwind sich abfindet – in letzter Instanz die bürgerliche Kälte, die das Unausweichliche allzu gern unterschreibt. Nur dort vermag Erkenntnis zu erweitern, wo sie beim Einzelnen so verharrt, daß über der Insistenz seine Isoliertheit zerfällt. Das setzt freilich auch eine Beziehung zum Allgemeinen voraus, aber nicht die der Subsumtion, sondern fast deren Gegenteil. Die dialektische Vermittlung ist nicht der Rekurs aufs Abstraktere, sondern der Auflösungsprozeß des Konkreten in sich. Nietzsche, der selber oft in allzu weiten Horizonten dachte, hat davon doch gewußt: »Wer zwischen zwei entschlossenen Denkern vermitteln will«, heißt es in der Fröhlichen Wissenschaft, »ist gezeichnet als mittelmäßig: er hat das Auge nicht dafür, das Einmalige zu sehen; die Ähnlichseherei und Gleichmacherei ist das Merkmal schwacher Augen.« Die Moral des Denkens besteht darin, weder stur noch souverän, weder blind noch leer, weder atomistisch noch konsequent zu verfahren. Die Doppelschlächtigkeit der Methode, welche der Hegelschen Phänomenologie unter vernünftigen Leuten den Ruf abgründiger Schwierigkeit eingetragen hat, nämlich die Forderung, gleichzeitig die Phänomene als solche sprechen zu lassen – das »reine Zusehen« – und doch in jedem Augenblick ihre Beziehung auf das Bewußtsein als Subjekt, die Reflexion präsent zu halten, drückt diese Moral am genauesten und in aller Tiefe des Widerspruchs aus. Wie viel schwieriger aber ist es geworden, ihr nachzukommen, wenn man nicht mehr die Identität von Subjekt und Objekt sich vorgeben darf, in deren endlicher Annahme Hegel die antagonistischen Forderungen des Zusehens und Konstruierens noch zur Deckung brachte. Vom Denkenden heute wird nicht weniger verlangt, als daß er in jedem Augenblick in den Sachen und außer den Sachen sein soll – der Gestus Münchhausens, der sich an dem Zopf aus dem Sumpf zieht, wird zum Schema einer jeden Erkenntnis, die mehr sein will als entweder Feststellung oder Entwurf. Und dann kommen noch die angestellten Philosophen und machen uns zum Vorwurf, daß wir keinen festen Standpunkt hätten.
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De gustibus est disputandum. – Auch wer von der Unvergleichbarkeit der Kunstwerke sich überzeugt hält, wird stets wieder in Debatten sich verwickelt finden, in denen Kunstwerke, und gerade solche des obersten und darum unvergleichlichen Ranges, miteinander verglichen werden und gegeneinander gewertet. Der Einwand, bei solchen Erwägungen, die eigentümlich zwangshaft zustandekommen, handle es sich um Krämerinstinkte, ums Messen mit der Elle, hat meist nur den Sinn, daß solide Bürger, denen die Kunst nie irrational genug sein kann, von den Werken die Besinnung und den Anspruch der Wahrheit fernhalten wollen. Der Zwang zu jenen Überlegungen ist aber in den Kunstwerken selber gelegen. So viel ist wahr, vergleichen lassen sie sich nicht. Aber sie wollen einander vernichten. Nicht umsonst haben die Alten das Pantheon des Vereinbaren den Göttern oder Ideen vorbehalten, die Kunstwerke aber zum Agon genötigt, eines Todfeind dem andern. Die Vorstellung eines »Pantheons der Klassizität«, wie noch Kierkegaard sie hegte, ist eine Fiktion der neutralisierten Bildung. Denn wenn die Idee des Schönen bloß aufgeteilt in den vielen Werken sich darstellt, so meint doch jedes einzelne unabdingbar die ganze, beansprucht Schönheit für sich in seiner Einzigkeit und kann deren Aufteilung nie zugeben, ohne sich selber zu annullieren. Als eine, wahre und scheinlose, befreit von solcher Individuation, stellt Schönheit nicht in der Synthesis aller Werke, der Einheit der Künste und der Kunst sich dar, sondern bloß leibhaft und wirklich: im Untergang von Kunst selber. Auf solchen Untergang zielt jedes Kunstwerk ab, indem es allen anderen den Tod bringen möchte. Daß mit aller Kunst deren eigenes Ende gemeint sei, ist ein anderes Wort für den gleichen Sachverhalt. Von solchem Selbstvernichtungsdrang der Kunstwerke, ihrem innersten Anliegen, das hintreibt ins scheinlose Bild des Schönen, werden immer wieder die angeblich so nutzlosen ästhetischen Streitigkeiten aufgerührt. Während sie trotzig und verstockt das ästhetische Recht finden wollen und eben damit einer unstillbaren Dialektik verfallen, gewinnen sie wider Willen ihr besseres Recht, indem sie vermöge der Kraft der Kunstwerke, die sie in sich aufnehmen und zum Begriff erheben, jedes einschränken und so auf die Zerstörung der Kunst hinarbeiten, die deren Rettung ist. Ästhetische Toleranz, wie sie die Kunstwerke unmittelbar in ihrer Beschränktheit gelten läßt, ohne sie zu brechen, bringt ihnen nur den falschen Untergang, den des Nebeneinander, in dem der Anspruch der einen Wahrheit verleugnet ist.
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Für Anatole France. – Tugenden selbst wie die der Aufgeschlossenheit, das Vermögen, überall, noch im Alltäglichsten und Unscheinbarsten des Schönen sich zu versichern und sich daran zu freuen, beginnen, ein fragwürdiges Moment hervorzukehren. Einmal, im Zeitalter der überströmenden subjektiven Fülle, sprach in der ästhetischen Gleichgültigkeit gegen die Wahl des Objekts zugleich mit der Kraft, allem Erfahrenen Sinn abzuzwingen, die Beziehung zur gegenständlichen Welt selber sich aus, die gleichsam noch in all ihren Bruchstücken dem Subjekt antagonistisch zwar, doch nah und bedeutend gegenübertritt. In der Phase, in der das Subjekt vor der entfremdeten Übermacht der Dinge abdankt, zeigt seine Bereitschaft, Positives oder Schönes überall zu gewahren, Resignation wie des kritischen Vermögens so der interpretierenden Phantasie an, welche von jenem untrennbar ist. Wer alles schön findet, ist nun in Gefahr, nichts schön zu finden. Das Allgemeine der Schönheit vermag nicht anders dem Subjekt sich mitzuteilen als in der Obsession durchs Besondere. Kein Blick erreicht das Schöne, dem nicht die Gleichgültigkeit, ja fast die Verachtung gegen alles außerhalb des angeschauten Gegenstandes beigesellt wäre. Und es ist einzig die Verblendung, das ungerechte Verschließen des Blicks gegen den Anspruch, den alles Daseiende erhebt, wodurch dem Daseienden Gerechtigkeit widerfährt. Indem es, in seiner Einseitigkeit, hingenommen wird, als das was es ist, wird seine Einseitigkeit als sein Wesen begriffen und versöhnt. Der Blick, der ans eine Schöne sich verliert, ist ein sabbatischer. Er rettet am Gegenstand erwas von der Ruhe seines Schöpfungstages. Wird aber die Einseitigkeit durchs von außen hineingetragene Bewußtsein des Universalen aufgehoben, das Besondere aufgestört, substituiert und abgewogen, so macht der gerechte Überblick über das Ganze das universale Unrecht sich zu eigen, das in Vertauschbarkeit und Substitution selber gelegen ist. Solche Gerechtigkeit wird zum Vollstrecker des Mythos an dem Geschaffenen. Wohl ist kein Gedanke von solcher Verflechtung dispensiert, keiner darf borniert beharren. Aber alles liegt an der Weise des Übergangs. Das Verderben kommt vom Gedanken als Gewalt, dem Abkürzen des Wegs, der einzig durchs Undurchdringliche hindurch das Allgemeine findet, dessen Gehalt in der Undurchdringlichkeit selber bewahrt ist, nicht in der abgezogenen Übereinstimmung verschiedener Gegenstände. Fast könnte man sagen, daß vom Tempo, der Geduld und Ausdauer des Verweilens beim Einzelnen, Wahrheit selber abhängt: was darüber hinausgeht, ohne sich erst ganz verloren zu haben, was zum Urteil fortschreitet, ohne der Ungerechtigkeit der Anschauung erst sich schuldig gemacht zu haben, verliert sich am Ende im Leeren. Liberalität, die unterschiedslos den Menschen ihr Recht widerfahren läßt, läuft auf Vernichtung hinaus wie der Wille der Majorität, die der Minorität Böses zufügt und so der Demokratie Hohn spricht, nach deren Prinzip sie handelt. Aus der unterschiedslosen Güte gegen alles droht denn auch stets Kälte und Fremdheit gegen jedes, die dann wiederum dem Ganzen sich mitteilt. Ungerechtigkeit ist das Medium wirklicher Gerechtigkeit. Uneingeschränkte Güte wird zur Bestätigung all des Schlechten was ist, indem sie seine Differenz von der Spur des Guten herabsetzt und auf jene Allgemeinheit nivelliert, die hoffnungslos auf die bürgerlich-mephistophelische Weisheit herauskommt, alles was besteht sei wert, daß es zugrunde geht. Die Rettung des Schönen noch im Stumpfen oder Gleichgültigen scheint um so viel edler als das eigensinnige Beharren auf Kritik und Spezifikation, wie sie in Wahrheit den Ordnungen des Lebens geneigter sich zeigt.
Dem wird die Heiligkeit des Lebendigen entgegengehalten, die gerade noch im Häßlichsten und Entstelltesten widerscheint. Aber ihr Widerschein ist kein unmittelbarer, sondern einzig ein gebrochener: was schön sein soll, nur weil es lebt, ist eben darum bereits das Häßliche. Der Begriff des Lebens in seiner Abstraktion, auf welchen dabei rekurriert wird, ist gar nicht zu trennen von dem Unterdrückenden, Rücksichtslosen, eigentlich Tödlichen und Destruktiven. Der Kultus des Lebens an sich läuft stets auf den jener Mächte heraus. Was so Äußerung von Leben heißt, von quellender Fruchtbarkeit und dem stoßenden Treiben von Kindern bis hinauf zur Tüchtigkeit derer, die etwas Rechtes zustandebringen, und zum Temperament der Frau, die vergöttert wird, weil in ihr der Appetit so unvermischt sich darstellt, all das hat, absolut gefaßt, etwas davon, dem anderen, Möglichen das Licht wegzunehmen in blinder Selbstbehauptung. Das Wuchernde des Gesunden ist als solches immer schon zugleich die Krankheit. Ihr Gegengift ist Krankheit als ihrer bewußte, die Einschränkung von Leben selber. Solche heilsame Krankheit ist das Schöne. Es gebietet dem Leben Halt und damit seinem Verfall. Verleugnet man jedoch die Krankheit um des Lebens willen, so geht das hypostasierte Leben vermöge seiner blinden Losgetrenntheit vom anderen Moment gerade in dieses, ins Zerstörende und Böse über, ins Freche und sich Brüstende. Wer das Zerstörende haßt, muß das Leben mithassen: nur das Tote ist das Gleichnis des nicht entstellten Lebendigen. Anatole France hat, auf seine aufgeklärte Weise, von solchem Widerspruch wohl gewußt. »Nein«, sagt gerade der milde Herr Bergeret, »ich will lieber glauben, daß das organische Leben eine spezielle Krankheit unseres unschönen Planeten ist. Es wäre unerträglich zu glauben, daß man auch im unendlichen All immer nur fräße und gefressen würde.« Der nihilistische Widerwille in seinen Worten ist nicht bloß die psychologische, sondern die sachliche Bedingung der Humanität als Utopie.
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Moral und Zeitordnung. – Während die Literatur alle psychologischen Arten erotischer Konflikte behandelt hat, ist der einfachste auswendige Konfliktstoff unbeachtet geblieben um seiner Selbstverständlichkeit willen. Das ist das Phänomen des Besetztseins: daß ein geliebter Mensch sich uns versagt nicht wegen innerer Antagonismen und Hemmungen, wegen zuviel Kälte oder zuviel verdrängter Wärme, sondern weil bereits eine Beziehung besteht, die eine neue ausschließt. Die abstrakte Zeitordnung spielt in Wahrheit die Rolle, die man der Hierarchie der Gefühle zuschreiben möchte. Es liegt im Vergebensein, außer der Freiheit von Wahl und Entschluß, auch ein ganz Zufälliges, das dem Anspruch der Freiheit durchaus zu widersprechen scheint. Selbst und gerade in einer von der Anarchie der Warenproduktion geheilten Gesellschaft würden schwerlich Regeln darüber wachen, in welcher Reihenfolge man Menschen kennenlernt. Wäre es anders, so müßte ein solches Arrangement dem unerträglichsten Eingriff in die Freiheit gleichkommen. Daher hat denn auch die Priorität des Zufälligen mächtige Gründe auf ihrer Seite: wird einem Menschen ein neuer vorgezogen, so tut man jenem allemal Böses an, indem die Vergangenheit des gemeinsamen Lebens annulliert, Erfahrung selber gleichsam durchstrichen wird. Die Irreversibilität der Zeit gibt ein objektives moralisches Kriterium ab. Aber es ist dem Mythos verschwistert wie die abstrakte Zeit selbst. Die in ihr gesetzte Ausschließlichkeit entfaltet sich ihrem eigenen Begriff nach zur ausschließenden Herrschaft hermetisch dichter Gruppen, schließlich der großen Industrie. Nichts rührender als das Bangen der Liebenden, die Neue könnte Liebe und Zärtlichkeit, ihren besten Besitz, eben weil sie sich nicht besitzen lassen, auf sich ziehen, gerade vermöge jener Neuheit, die vom Vorrecht des Älteren selber hervorgebracht wird. Aber von diesem Rührenden, mit dem zugleich alle Wärme und alles Geborgensein zerginge, führt ein unaufhaltsamer Weg über die Abneigung des Brüderchens gegen den Nachgeborenen und die Verachtung des Verbindungsstudenten für seinen Fuchs zu den Immigrationsgesetzen, die im sozialdemokratischen Australien alle Nichtkaukasier draußen halten, bis zur faschistischen Ausrottung der Rasseminorität, womit dann in der Tat Wärme und Geborgensein ins Nichts explodieren. Nicht nur sind, wie Nietzsche es wußte, alle guten Dinge einmal böse Dinge gewesen: die zartesten, ihrer eigenen Schwerkraft überlassen, haben die Tendenz, in der unausdenkbaren Roheit sich zu vollenden.
Es wäre müßig, aus solcher Verstrickung den Ausweg weisen zu wollen. Doch läßt sich wohl das unheilvolle Moment benennen, das jene ganze Dialektik ins Spiel bringt. Es liegt beim ausschließenden Charakter des Ersten. Die ursprüngliche Beziehung, in ihrer bloßen Unmittelbarkeit, setzt bereits eben jene abstrakte Zeitordnung voraus. Historisch ist der Zeitbegriff selber auf Grund der Eigentumsordnung gebildet. Aber das Besitzenwollen reflektiert die Zeit als Angst vor dem Verlieren, der Unwiederbringlichkeit. Was ist, wird in Beziehung zu seinem möglichen Nichtsein erfahren. Damit wird es erst recht zum Besitz gemacht und gerade in solcher Starrheit zu einem Funktionellen, das für anderen äquivalenten Besitz sich austauschen ließe. Einmal ganz Besitz geworden, wird der geliebte Mensch eigentlich gar nicht mehr angesehen. Abstraktheit in der Liebe ist das Komplement der Ausschließlichkeit, die trügerisch als das Gegenteil, als das sich Anklammern an dies eine so Seiende in Erscheinung tritt. Dies Festhalten verliert gerade sein Objekt aus den Händen, indem es zum Objekt gemacht wird, und verfehlt den Menschen, den es auf »meinen Menschen« herunterbringt. Wären Menschen kein Besitz mehr, so könnten sie auch nicht mehr vertauscht werden. Die wahre Neigung wäre eine, die den anderen spezifisch anspricht, an geliebte Züge sich heftet und nicht ans Idol der Persönlichkeit, die Spiegelung von Besitz. Das Spezifische ist nicht ausschließlich: ihm fehlt der Zug zur Totalität. Aber in anderem Sinne ist es doch ausschließlich: indem es die Substitution der unlösbar an ihm haftenden Erfahrung – zwar nicht verbietet, aber durch seinen reinen Begriff gar nicht erst aufkommen läßt. Der Schutz des ganz Bestimmten ist, daß es nicht wiederholt werden kann, und eben darum duldet es das andere. Zum Besitzverhältnis am Menschen, zum ausschließenden Prioritätsrecht, gehört genau die Weisheit: Gott, es sind alles doch nur Menschen, und welcher es ist, darauf kommt es gar nicht so sehr an. Neigung, die von solcher Weisheit nichts wüßte, brauchte Untreue nicht zu fürchten, weil sie gefeit wäre vor der Treulosigkeit.
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Lücken. – Die Aufforderung, man solle sich der intellektuellen Redlichkeit befleißigen, läuft meist auf die Sabotage der Gedanken heraus. Ihr Sinn ist, den Schriftsteller dazu anzuhalten, alle Schritte explizit darzustellen, die ihn zu seiner Aussage geführt haben, und so jeden Leser zu befähigen, den Prozeß nachzuvollziehen und womöglich – im akademischen Betrieb – zu duplizieren. Das arbeitet nicht bloß mit der liberalen Fiktion der beliebigen, allgemeinen Kommunizierbarkeit eines jeden Gedankens und hemmt dessen sachlich angemessenen Ausdruck, sondern ist falsch auch als Prinzip der Darstellung selber. Denn der Wert eines Gedankens mißt sich an seiner Distanz von der Kontinuität des Bekannten. Er nimmt objektiv mit der Herabsetzung dieser Distanz ab; je mehr er sich dem vorgegebenen Standard annähert, um so mehr schwindet seine antithetische Funktion, und nur in ihr, im offenbaren Verhältnis zu seinem Gegensatz, nicht in seinem isolierten Dasein liegt sein Anspruch begründet. Texte, die ängstlich jeden Schritt bruchlos nachzuzeichnen unternehmen, verfallen denn auch unweigerlich dem Banalen und einer Langeweile, die sich nicht nur auf die Spannung bei der Lektüre, sondern auf ihre eigene Substanz bezieht. Die Schriften Simmels etwa kranken allesamt an der Unvereinbarkeit ihrer aparten Gegenstände mit der peinlich luziden Behandlung. Sie erweisen das Aparte als das wahre Komplement jener Durchschnittlichkeit, die Simmel zu Unrecht für Goethes Geheimnis hielt. Aber weit darüber hinaus ist die Forderung nach intellektueller Redlichkeit selber unredlich. Gäbe man ihr selbst einmal die fragwürdige Anweisung zu, die Darstellung solle den Denkprozeß abbilden, so wäre dieser Prozeß so wenig einer des diskursiven Fortschreitens von Stufe zu Stufe, wie umgekehrt dem Erkennenden seine Einsichten vom Himmel fallen. Erkannt wird vielmehr in einem Geflecht von Vorurteilen, Anschauungen, Innervationen, Selbstkorrekturen, Vorausnahmen und Übertreibungen, kurz in der dichten, fundierten, aber keineswegs an allen Stellen transparenten Erfahrung. Von ihr gibt die Cartesianische Regel, man solle sich nur den Gegenständen zuwenden, »zu deren klarer und unzweifelhafter Erkenntnis unser Geist auszureichen scheine«, samt aller Ordnung und Disposition, worauf sie sich bezieht, einen so falschen Begriff wie die ihr entgegengesetzte und im innersten verwandte Lehre von der Wesensschau. Verleugnet diese das logische Recht, das trotz allem in jedem Gedanken sich geltend macht, so nimmt jene es in seiner Unmittelbarkeit, bezogen auf jeden einzelnen intellektuellen Akt und nicht vermittelt durch den Strom des ganzen Bewußtseinslebens des Erkennenden. Darin aber liegt zugleich das Eingeständnis der tiefsten Unzulänglichkeit. Denn wenn die redlichen Gedanken unweigerlich auf bloße Wiederholung, sei's des Vorfindlichen, sei's der kategorialen Formen hinauslaufen, so bleibt der Gedanke, der der Beziehung zu seinem Gegenstand zuliebe auf die volle Durchsichtigkeit seiner logischen Genesis verzichtet, allemal etwas schuldig. Er bricht das Versprechen, das mit der Form des Urteils selber gesetzt ist. Diese Unzulänglichkeit gleicht der der Linie des Lebens, die verbogen, abgelenkt, enttäuschend gegenüber ihren Prämissen verläuft und doch einzig in diesem Verlauf, indem sie stets weniger ist, als sie sein sollte, unter den gegebenen Bedingungen der Existenz eine unreglementierte zu vertreten vermag. Erfüllte Leben geradenwegs seine Bestimmung, so würde es sie verfehlen. Wer alt und im Bewußtsein des gleichsam schuldenlosen Gelingens stürbe, wäre insgeheim der Musterknabe, der mit unsichtbarem Ranzen auf dem Rücken alle Stadien ohne Lücken absolviert. Jedem Gedanken jedoch, der nicht müßig ist, bleibt wie ein Mal die Unmöglichkeit der vollen Legitimation einbeschrieben, so wie wir im Traum davon wissen, daß es Mathematikstunden gibt, die wir um eines seligen Morgens im Bett willen versäumten, und die nie mehr sich einholen lassen. Der Gedanke wartet darauf, daß eines Tages die Erinnerung ans Versäumte ihn aufweckt und ihn in die Lehre verwandelt.