I. Kritik des logischen Absolutismus
Wenn uns ein Engel einmal aus seiner Philosophie erzählte, ich glaube, es müßten wohl manche Sätze so klingen, als wie 2 mal 2 ist 13.
Lichtenberg
Seit Cartesianischen Zeiten ist im Verhältnis der Philosophie zu den Wissenschaften ein Widerspruch hervorgetreten, der schon in Aristoteles angelegt war. Philosophie versucht das Unbedingte zu denken, über die Positivität, das akzeptierte Dasein der auf getrennte Gegenstände willkürlich vereidigten, Sache und Methode voneinanderreißenden Wissenschaften hinauszugehen und ihrem Betrieb die ungefesselte Wahrheit zu kontrastieren. Aber sie nimmt selber die Wissenschaft sich zum Vorbild. Deren Arbeit überschnitt sich mit dem Bereich der überkommenen Metaphysik. Wissenschaft hat dieser seit der kosmologischen Spekulation mehr stets von dem entzogen, was sie als ihr Eigenstes erachtete, und zugleich ein Ideal zweifelsfreier Gewißheit entworfen, dem gegenüber Metaphysik, soweit sie nicht wissenschaftliche Disziplin benutzte, eitel und dogmatisch dünkte. Wie Metaphysik als Wissenschaft möglich sei, das umschreibt nicht allein das Thema der Kantischen Vernunftkritik als einer Erkenntnistheorie, sondern nennt den Impuls der gesamten neueren Philosophie. Er gilt jedoch von Anbeginn nicht bloß einem in ruhigem Fortschritt zu lösenden »Problem«, etwa der Reinigung der Philosophie von ihren vorwissenschaftlichen Begriffen durch Reflexion auf sich selbst. Die Verwandlung der Philosophie in Wissenschaft, wäre es auch, worauf man sich apologetisch immer wieder herausredete, als erste und die Einzelwissenschaften begründende oder als oberste und krönende, ist kein glückliches Reifen, in dem der Gedanke seiner kindischen Rudimente, der subjektiven Wünsche und Projektionen sich entäußerte. Sondern sie unterhöhlt zugleich den Begriff der Philosophie selber. Soweit sie im Kultus dessen, was, nach Wittgensteins Formulierung, »der Fall ist«, sich erschöpft, kommt sie im Wettlauf mit den Wissenschaften, denen sie sich verblendet assimiliert, doch stets ins Hintertreffen; sagt sie aber von diesen sich los, und denkt frisch-fröhlich drauflos, wird sie zum ohnmächtigen Reservat, dem Schatten der schattenhaften Sonntagsreligion. So ist es nicht der bornierten Fachwissenschaft, sondern objektivem Zwang zuzuschreiben, wenn die Philosophie bei jener in Verruf geriet.
An der Bewegung des philosophischen Gedankens selber läßt sich ablesen, was ihm mit dem unabdingbaren Fortschritt seiner wissenschaftlichen Kontrolle und Selbstkontrolle widerfährt. Indem er wahrer wird, verzichtet er auf Wahrheit. Wer in Freiheit nachdenkt über von der organisierten Wissenschaft beschlagnahmte Gegenstände, der mag manchmal dem taedium scientiae entrinnen, aber er wird dafür nicht nur mit dem schmählichen Lob des Anregenden und Intuitiven belohnt, sondern muß sich obendrein den Nachweis sei's mangelnder Sachkenntnis, sei's der Überholtheit dessen gefallen lassen, was sogleich zur Hypothese verzerrt und zwischen den Mühlsteinen »Wo ist der Beweis?« und »Wo ist das Neue?« zerrieben wird. Zieht aber Philosophie, um jener Gefahr zu entrinnen, sich auf sich selber zurück, so gerät sie ins entweder leere oder unverbindlich-scholastische Begriffsspiel, auch wenn sie es hinter pathetischen Neologismen versteckt, wie sie, De Maistre zufolge, die großen Schriftsteller fürchten1. Der Gedanke, der danach tastet, zu begreifen – und über dem Begreifen selbst liegt mittlerweile das Tabu der Unwissenschaftlichkeit – findet alles schon besetzt. Er wird nicht nur heilsam vorm Amateurhaften, dem Komplement des Experten, gewarnt, sondern gelähmt, ohne sich doch etwa bei der Anfertigung jenes geistigen Bandes zwischen all dem Festgestellten bescheiden zu dürfen, dessen Abwesenheit Faust beklagt. Denn die »Synthese«, die mit je schon verfügbaren wissenschaftlichen Befunden vorlieb nimmt, bleibt der spontanen Beziehung des Gedankens auf den Gegenstand äußerlich und ist selbst ein Teilakt jener Organisation, die sie zu widerrufen wähnt. Das konservierte Ideal der Wissenschaft, das einmal der Philosophie zur Befreiung von der theologischen Fessel verhalf, ist selber mittlerweile zur Fessel geworden, die es dem Denken verbietet zu denken. Das ist aber so wenig bloße Fehlentwicklung wie die gleichsinnige jener Gesellschaft, der die Philosophie innewohnt, und läßt darum nicht durch Einsicht und Entschluß beliebig sich korrigieren. Die Verwissenschaftlichung des Denkens unterwirft es der Arbeitsteilung. Entweder es verfährt nach den vorgezeichneten und überflüssige Anstrengung einsparenden Schemata der etablierten Einzelfächer, oder es etabliert sich als zusätzliches Einzelfach, das sich auf dem Markt durch die Differenz von den anderen behauptet. Denken, das sich gegen die Arbeitsteilung sperrt, fällt hinter die Entwicklung der Kräfte zurück und verhält sich »archaisch«; ordnet es sich aber als Wissenschaft den Wissenschaften ein, so verzichtet es auf den eigenen Impuls eben dort, wo es dessen am dringendsten bedürfte. Es bleibt dinghaft, bloße Nachkonstruktion eines durch die gesellschaftlichen Kategorien und schließlich Produktionsverhältnisse bereits Vorgeformten auch dann noch, wenn es über sogenannte Prinzipienfragen wie das Verhältnis von Subjekt und Objekt wissenschaftlich zu urteilen sich zutraut. Wissenschaft verdinglicht, indem sie die geronnene geistige Arbeit, das seiner gesellschaftlichen Vermittlungen unbewußte Wissen, zum Wissen schlechthin erklärt. Ihre Forderungen und Verbote drücken das allesamt aus. So ist jegliche Thematik auf der wissenschaftlichen Landkarte vorweg abgesteckt; etwa wie Mathematik herkömmlicherweise die Frage, was eine Zahl sei, als außermathematisch fortwies, soll Philosophie mit nichts sich befassen als der Struktur und den Bedingungen des stets und überall Gültigen. Da jedoch die Themen bereits präpariert, vom gesellschaftlichen Betrieb fertig geliefert sind, so schmiegt der wissenschaftliche Gedanke nicht dem sich an, was sie etwa von sich aus verlangten, sondern unterwirft sie den gesellschaftlich erheischten oder eingeschliffenen Prozeduren. Heute wird der Primat der Methode bereits so weit getrieben, daß weithin nur solche Forschungsaufgaben gestellt werden können, die mit den Mitteln der verfügbaren Apparatur sich lösen lassen. Der Primat der Methode ist der Primat der Organisation. Die Verfügbarkeit der Erkenntnisse durch logisch-klassifikatorische Ordnung wird zu ihrem eigenen Kriterium; was nicht hineinpaßt, erscheint nur am Rande als »Datum«, das auf seine Stelle wartet und, wofern keine sich findet, fortgeworfen wird. Wie Menschen in einem straff organisierten Gemeinwesen, müssen alle Sätze der Kontinuität aller andern sich einfügen: das »Unverbundene«, nicht Integrierbare wird zur Todsünde. Drastisch wird der Gedanke der Kontrolle durch die gesellschaftliche Organisation vollends überantwortet, indem grundsätzlich jede wissenschaftliche Aussage von jedem approbierten Wissenschaftler des Sachgebiets, gleichgültig wie er geistig beschaffen ist, überprüft werden, jede geistige Leistung für jeden beliebigen anderen nachvollziehbar sein soll. Die Einsicht hat gleichsam einen Personalausweis beizubringen, wenn sie geduldet werden will, die »Evidenz«, die nicht in ihrem eigenen Gehalt und dessen Entfaltung, sondern im Stempel einer Anweisung auf künftige Daten gesucht wird. So verweilt Erkenntnis nicht bei ihrem Gegenstand, um ihn aufzuschließen. Eigentlich meint sie ihn überhaupt nicht, sondern setzt ihn herab zur bloßen Funktion des Schemas, mit dem sie ihn souverän überspinnt; je objektiver, von aller Täuschung und Zutat des Betrachters gereinigter sie jeweils sich aufspielt, um so subjektiver wird sie in der Totalität des Verfahrens. Die Organisationsform, die der Wissenschaft immanent ist und die Philosophie aufsaugt, verwehrt das Ziel, das der Philosophie vor Augen steht. Wenn aber das Verhältnis der Philosophie zur Wissenschaft in sich antagonistisch ist; wenn sie als Wissenschaft in Gegensatz tritt zur eigenen raison d'être und doch, wofern sie der Wissenschaft die kalte Schulter zeigt, buchstäblich ihre raison, die Vernunft einbüßt, dann muß notwendig ihr Versuch, als Wissenschaft sich zu behaupten, auf Widersprüche führen. Das Hegelsche Prinzip der Dialektik ist, von der Spannung zwischen Spekulation und Wissenschaft her verstanden, der positive Ausdruck solcher Negativität. Hegel sucht sie zum Organon der Wahrheit umzuschmieden. Woran alle Philosophie laboriert, die mit der Phänomenologie des Geistes ihre »Erhebung zur Wissenschaft« sich erhofft, und die begriffliche Bewegung, die jener Widersprüchlichkeit Herr zu werden trachtet, indem sie sie austrägt – das wird dem Wesen der Philosophie gleichgesetzt. Wenig fehlt, und man möchte den Metaphysiker des absoluten Geistes, bei dem allemal die Welt recht behält, den konsequenten Positivisten nennen.
Den gordischen Knoten hat Bergson, dessen Intuitionismus gern der Husserlschen Wesensschau verglichen wird, zu zerhauen versucht, indem er gegen das begrifflich-klassifikatorische Denken der Wissenschaft ein unmittelbar-anschauliches Innewerden des Lebendigen postulierte. Seine Kritik des Szientivismus hat wie keine andere den Triumph des dinghaft konventionellen Abgusses über das Eigentliche denunziert. Durch den Dualismus der beiden Erkenntnisweisen und »Welten« jedoch hat er die philosophische in ein Reservat verwandelt und eben damit paradox dem verdinglichten Leben doch wiederum eingegliedert, so wie es im Sinn des gesamten spätbürgerlichen Irrationalismus liegt, den Bergson durch Tiefe der Erfahrung und Nähe zum Phänomen so weit sonst überragt wie nur der Impressionismus die neuromantischen Ideologien. Im Mechanismus der Verdinglichung des Denkens gibt die ordnende Begrifflichkeit, der Bergson alles Unheil zuschiebt und die doch selbst nur Derivat der Tauschgesellschaft ist, bloß ein Moment ab2. Andererseits verfügt die lebendige Erkenntnis, um deren Rettung es Bergson geht, an sich keineswegs über ein andersgeartetes Erkenntnisvermögen. Dessen Annahme vielmehr reflektiert selber die dem Bergson verhaßten Bereich angehörige Spaltung von Methode und Sache; mit dem bürgerlichen Denken hat Bergson den Glauben an die isolierbare und wahre Methode gemein, nur daß er dieser eben jene Attribute zuteilt, welche ihr seit Descartes abgesprochen wurden, ohne zu durchschauen, daß man, indem man eine wohldefinierte Methode gegenüber ihren wechselnden Gegenständen verselbständigt, bereits die Starrheit sanktioniert, welche der Zauberblick der Intuition lösen soll. Erfahrung im emphatischen Sinn, das Geflecht der unverstümmelten Erkenntnis, wie es der Philosophie zum Modell dienen mag, unterscheidet sich von der Wissenschaft nicht durch ein höheres Prinzip oder Instrumentarium, sondern durch den Gebrauch, den sie von den Mitteln, zumal den begrifflichen, macht, die als solche denen der Wissenschaft gleichen, und durch ihre Stellung zur Objektivität. So wenig in solcher Erfahrung zu verleugnen ist, was bei Bergson Intuition heißt, so wenig läßt es sich hypostasieren. Die mit Begriffen und ordnenden Formen durchwachsenen Intuitionen gewinnen an Recht, je mehr das vergesellschaftete und organisierte Dasein sich expandiert und verhärtet. Nicht aber machen jene Akte eine absolute, vom diskursiven Denken durch einen ontologischen Abgrund getrennte Quelle der Erkenntnis aus. Wohl erscheinen sie jäh, unwillkürlich zuweilen – die Künstler wissen, daß sie sich auch kommandieren lassen – und sprengen den geschlossenen Zusammenhang des Schlußverfahrens auf. Darum jedoch sind sie nicht vom Himmel gefallen: so stellen sie nur die Positivisten sich vor, denen Bergsons Ursprünge, wie die Husserls, nicht fern waren. Sondern es setzt in ihnen sich durch, was an besserem Wissen der Zurichtung entschlüpfte, in der Geistfeindschaft und Wissenschaft so gut sich verstehen. Die Plötzlichkeit der Intuition mißt sich am Widerstand gegen die soziale Kontrolle, die den Gedanken aus seinen Schlupflöchern aufscheuchen möchte. Die sogenannten Einfälle sind weder so irrational noch so rhapsodisch, wie der Szientivismus und mit ihm Bergson ihnen zumutet: in ihnen explodiert das unbewußte, den Kontrollmechanismen nicht ganz botmäßige Wissen und durchschlägt die Mauer der konventionalisierten und »realitätsgerechten« Urteile. Indem sie an der manipulativen Leistung der vom Ich gesteuerten Erkenntnis nicht teilhaben, sondern passiv-spontan dessen an der Sache sich erinnern, was dem Ordnungsdenken bloßes Ärgernis heißt, sind sie in der Tat »ichfremd«. Aber was immer in rationaler Erkenntnis am Werk ist, geht auch in sie, sedimentiert und wiedererinnert, ein, um für einen Augenblick gegen die Apparatur sich zu wenden, über deren Schatten Denken allein nicht zu springen vermag. Das Diskontinuierliche der Intuition tut der von der Organisation verfälschten Kontinuität Ehre an: einzig die aufblitzenden Erkenntnisse sind gesättigt mit Erinnerung und Vorblick, während die offiziell »verbundenen«, wie Bergson wohl gewahrte, als solche gerade erinnerungslos aus der Zeit herausfallen. Der Erkennende wird im Moment der Intuition überwältigt und aus dem Einerlei des bloßen Subsumierens herausgerissen von der aktuellen Gegenwart vergangener Urteile, Schlüsse, zumal Relationen, deren Vereinigung das am Gegenstand ins Licht rückt, was mehr ist als sein Stellenwert in der Systematik. In den Intuitionen besinnt sich die ratio auf das, was sie vergaß, und in diesem von ihm freilich kaum intendierten Sinn hat Freud recht, wenn er dem Unbewußten eine eigene Art von Rationalität zuschreibt. Die Intuition ist kein einfacher Gegensatz zur Logik: sie gehört dieser an und mahnt sie zugleich an das Moment ihrer Unwahrheit. Als blinde Flecke im Prozeß der Erkenntnis, aus dem sie doch nicht herauszubrechen sind, verhalten die Intuitionen die Vernunft dazu, auf sich selbst als bloße Reflexionsform von Willkür zu reflektieren, um der Willkür ein Ende zu bereiten. In der unwillkürlichen Erinnerung versucht wie immer auch vergeblich der willkürliche Gedanke etwas von dem zu heilen, was er gleichwohl verüben muß. Das hat Bergson verkannt. Indem er die Intuitionen für die unmittelbare Stimme jenes Lebens ausgab, das doch nur als vermitteltes noch lebt, hat er sie selber zum abstrakten Prinzip verdünnt, das rasch mit der abstrakten Welt sich befreundet, gegen die er es ersann. Die Konstruktion der reinen Unmittelbarkeit, die Negation alles Starren veranlaßt ihn in der Schrift über das Lachen zu sagen, »daß jeder Charakter komisch ist, wenn man nämlich unter Charakter den ganz fertigen, in seiner Entwicklung abgeschlossenen Teil unserer Persönlichkeit versteht, dasjenige in uns, was einem fertig montierten Mechanismus gleicht, der automatisch funktionieren kann«.3 Charakter heißt ihm aber nichts anderes als die »Versteifung gegen das soziale Leben«4, also gerade jener Widerstand, der die Wahrheit der Intuition ist. Die Verabsolutierung des intuitiven Erkennens entspricht praktisch einer Verhaltensweise absoluter Anpassung: verworfen wird, was versäumt, »auf seine Umgebung aufzumerken, sich nach ihr zu richten« und statt dessen »sich in seinem Charakter wie in einem festen Turm einmauert«.5 Eben dessen bedarf, wer die versteinerten Verhältnisse ändern will, deren Abdruck die mechanistischen Begriffe bilden. Kein Begriff eines Lebendigen kann gedacht werden, ohne daß dabei ein Moment des identisch Beharrenden festgehalten würde. Die abstrakte Negation der Vermittlung, der Kultus der reinen Aktualität, der dagegen sich sperrt, fällt eben damit den Konventionen anheim und dem Konformismus. Während Bergson am Geist die gesellschaftlichen Schwielen tilgt, überantwortet er ihn der gesellschaftlichen Realität, die jene hinterließ.
Husserls Versuch, durch philosophische Meditation den Bann der Verdinglichung zu brechen und in »originär gebender Anschauung« die »Sachen selbst«, wie die Phänomenologen zu nennen es liebten, »in den Griff zu bekommen«, bleibt der eigenen Absicht nach, im Gegensatz zu Bergson, mit der Wissenschaft einverstanden. Zwar unterwirft er diese der Rechtsprechung der Philosophie, aber erkennt sie zugleich an als deren Ideal. Dadurch erscheint er unvergleichlich viel akademischer als Bergson. Trotz der Parole »Zu den Sachen« sind seine Texte gerade in ihren fruchtbarsten Partien überaus formal und voll von terminologischen Distinktionen. Vom Bewußtseins»strom« ist auch bei ihm die Rede, aber die Konzeption der Wahrheit ist die traditionelle, zeitlos-statische. An Nüchternheit sucht er die szientifische zu überbieten: seine bedeutende Kraft zur sprachlichen Darstellung hält sich hermetisch kunstfremd. Unradikal-kontemplativ, belastet sein Denken vorweg sich mit all dem, wogegen es aufbegehrt. Indem er jedoch sein in sich antagonistisches Verhältnis zur Wissenschaft nicht verleugnet, sondern es aus der eigenen Schwerkraft wirken läßt, vermeidet er den Trug des Irrationalismus, die abstrakte Negation hätte Macht über die Verdinglichung. Sein Ingenium verschmäht das ohnmächtige Glück eines Verhaltens, das den Gegner ignoriert, anstatt dessen Gewalt sich zuzueignen. Je unversöhnter in seiner Philosophie die Widersprüche hervortreten, desto mehr Licht fällt auf deren Notwendigkeit, die der Intuitionismus in den Wind schlägt, und desto näher kommt die ihrer selbst unbewußte Entfaltung der Widersprüche der der Wahrheit. Husserl akzeptiert das Denken in seiner verdinglichten Gestalt, folgt ihr jedoch so unbestechlich, bis sie über sich hinaustreibt. Sein Programm denkt Philosophie als »strenge Wissenschaft«6, während der »Ausschaltung alle Natur- und Geisteswissenschaften mit ihrem gesamten Erkenntnisbestande, eben als Wissenschaften«7 verfallen, und zwar nicht nur, wie er es möchte, die sachhaltigen, »die der natürlichen Einstellung bedürfen«8, sondern ebenso die »reine Logik als mathesis universalis«9, ohne die jener Begriff strenger Wissenschaft keinen Sinn hätte, dem doch Husserl die Phänomenologie unterwirft. Denken, Bewußtsein als »Seinssphäre absoluter Ursprünge«10 wird unterm Primat des Wissenschaftsideals als reines, von allem Vorurteil und aller theoretischen Zutat gereinigtes Forschungsthema behandelt. Damit aber gerinnt es zu dem, was nach Wesen und Möglichkeit aus ihm erst hervorgehen soll. Denken, von Denken »betrachtet«, zerlegt sich in ein daseiend objektives und ein solche Objektivität passiv registrierendes Element: durch die den Wissenschaften entlehnte Form der phänomenologischen Deskription, die ihm scheinbar nichts hinzufügt, ändert es sich gerade in sich selber. Denken wird aus Denken ausgetrieben. Das ist, trotz der Reduktion der natürlichen Welt, der strenge Tatbestand von Verdinglichung. Prototypisch dafür ist bereits die Lehre vom »logischen Absolutismus«. Mit ihr hat Husserl nicht bloß erstmals intensiv gewirkt, sondern, weitergebildet zur Theorie des idealen Sachverhalts, resultiert sie in der Konstruktion der Wesensschau, dem Extrem, in dem Husserl mit Bergson sich berührt. Unabdingbar haftet sich Irrationalismus an den europäischen Rationalismus.
Nichts konnte Husserl ferner liegen als die Rechenschaft von solchen Verschränkungen. Der Begriff von Wissenschaft, auf den seine Konzeption der Philosophie sich stützt, hält sich im Sinn des späteren neunzehnten Jahrhunderts für den Triumph gediegener Forscherarbeit über das dialektisch-spekulative Blendwerk. Alle Dialektik seiner Philosophie ereignet sich gegen deren Willen und ist ihr mit der Kraft ihrer eigenen Konsequenz erst abzuzwingen. Mit den meisten seiner deutschen Zeitgenossen hat er den Schein des Sophistischen an der Dialektik für bare Münze genommen. Nirgends ist bei ihm von Hegel anders als geringschätzig die Rede, mag selbst der Name Phänomenologie in Erinnerung an die des Geistes gewählt sein. Er spricht die Sprache der szientifischen Ranküne gegen eine Vernunft, die nicht vorm gesunden Menschenverstand kapituliert: »Im faktischen Denken des normalen Menschen tritt nun freilich die aktuelle Negation eines Denkgesetzes in der Regel nicht auf; aber daß es beim Menschen überhaupt nicht auftreten kann, wird man schwerlich behaupten können, nachdem große Philosophen wie Epikur und Hegel den Satz des Widerspruchs geleugnet haben. Vielleicht sind Genie und Wahnsinn einander auch in dieser Hinsicht verwandt, vielleicht gibt es auch unter den Irrsinnigen Leugner der Denkgesetze; als Menschen wird man doch auch sie müssen gelten lassen.«11 Noch als Husserl die eigene Aufgabe als eine der »Kritik der logischen Vernunft« ansah, verwahrte er sich gegen den Verdacht, womit er sich befasse, sei eine »bloße Spielfrage einer zwischen skeptischem Negativismus bzw. Relativismus und logischem Absolutismus verhandelnden Dialektik«12. Ähnlich verstockt heißt es in den Cartesianischen Meditationen: »Dieser Idealismus« – der von Husserls später transzendentaler Phänomenologie – »ist nicht ein Gebilde spielerischer Argumentationen, im dialektischen Streit mit Realismen als Siegespreis zu gewinnen«13. Der Starrsinn solcher dogmatischen Positivität, die den »Streit«, die begriffliche Bewegung nicht anders denn als Spiegelfechterei sich ausmalen kann, ist um so erstaunlicher – beteuernde Abwehr dessen, wohin sein eigenes Denken gravitiert – als fast orthodox Hegelisch der reife Husserl die Positivität der Wissenschaften verworfen hat: »Denn das ist nun stets die unabläßliche Forderung, sie macht überall das spezifisch Philosophische eines wissenschaftlichen Absehens, sie unterscheidet überall Wissenschaft in naiver Positivität (die nur als Vorstufe echter Wissenschaft und nicht als sie selbst gelten darf) und echte Wissenschaft, die nichts anderes als Philosophie ist.«14 Dort warnt Husserl nach wissenschaftlichem Gebrauch die Philosophie vor Begriffskonstruktionen, hier weist er die Idee von Wissenschaft, die in solcher Warnung sich aufspreizt, als naiv von sich. So mußte denn der Phänomenologe von einem anderen Philosophen, dem keine Widersprüche aufstießen, Wilhelm Wundt, sich vorhalten lassen, »daß er selber im zweiten Band seines Werkes einem Logizismus anheimfällt, wie ihn die Geschichte seit den Tagen der scholastischen Begriffs- und Wortdialektik nicht mehr erlebt hat«15.
Aber Husserls Philosophie war wissenschaftlich motiviert als »philosophische Klärung«16 der reinen Mathematik und Logik, die vom Bestand der Wissenschaften abhängen sollen: »Ob eine Wissenschaft in Wahrheit Wissenschaft, eine Methode in Wahrheit Methode ist, das hängt davon ab, ob sie dem Ziele gemäß ist, dem sie zustrebt. Was den wahrhaften, den gültigen Wissenschaften als solchen zukommt, m. a. W. was die Idee der Wissenschaft konstituiert, will die Logik erforschen, damit wir daran messen können, ob die empirisch vorliegenden Wissenschaften ihrer Idee entsprechen, oder inwieweit sie sich ihr nähern, und worin sie gegen sie verstoßen. Dadurch bekundet sich die Logik als normative Wissenschaft und scheidet von sich ab die vergleichende Betrachtungsweise der historischen Wissenschaft, welche die Wissenschaften als konkrete Kulturerzeugnisse der jeweiligen Epochen nach ihren typischen Eigentümlichkeiten und Gemeinsamkeiten zu erfassen und aus den Zeitverhältnissen zu erklären versucht.«17 Sätze solcher Art erscheinen am Eingang weitreichender theoretischer Erörterungen plausibel bis zur gleichgültigen Selbstverständlichkeit, während in ihnen sich verbirgt, was erst zu beweisen wäre. Husserls Begriff von Logik setzt den Bestand der Wissenschaften als deren Kontrollinstanz voraus, und ihr selber wird ihr Feld im System der Wissenschaften angewiesen. Wissenschaftlichkeit mißt sich an der Zweckmäßigkeit der Mittel – der Methode – gegenüber dem selbst außerhalb der Betrachtung gehaltenen »Ziel«, ganz ähnlich wie in Max Webers Theorie der Zweckrationalität; als Kriterium der Wissenschaftlichkeit dient die Stringenz ihres eigenen Begründungszusammenhanges, keine Beziehung auf eine wie immer auch geartete Sache. Damit aber wird auch die Logik stillschweigend vom Denken losgelöst: nicht dessen Form soll sie sein, sondern die der vorhandenen Wissenschaft. Indem deren Existenz von der Untersuchung supponiert wird, ist der Faden zwischen Logik und Geschichte durchschnitten, ehe die Beweisführung nur anhebt, die eben darauf hinaus will. Was Logik sei, möchte die Analyse der formalen Konstituentien der Wissenschaft zeigen; Geschichte aber habe es einzig mit den Wissenschaften als »konkreten Kulturerzeugnissen der jeweiligen Epochen« zu tun, nicht mit den in den Wissenschaften sedimentierten Denkfunktionen als solchen. Wie diese im Prozeß zwischen subjektiven und objektiven Momenten sich gebildet haben und was von jener Auseinandersetzung in ihnen sich niederschlug, bleibt außerhalb der säuberlichen Demarkationslinie der wissenschaftlichen »Regionen«. So affiziert die geistige Arbeitsteilung die immanente Gestalt von Fragen, die auftreten, als wären sie allem Sachhaltigen vorgeordnet. Husserls logischer Absolutismus spiegelt die Fetischisierung der Wissenschaften, die sich und ihre Hierarchie als ein an sich Seiendes verkennen, in deren eigener Begründung wider. In der Tat heißt es an der Stelle der Prolegomena, die das Verhältnis von Mathematik – bei Husserl durchweg dem Äquivalent der reinen Logik – und Philosophie umreißt: »Und wirklich fordert die Natur der Sache hier durchaus eine Arbeitsteilung.«18 Im Sinn des hierarchischen Vorrangs der deduktiven Wissenschaften wird danach der Streit der Fakultäten geschlichtet: »Nicht der Mathematiker, sondern der Philosoph überschreitet seine natürliche Rechtssphäre, wenn er sich gegen die ›mathematisierenden‹ Theorien der Logik wehrt und seine vorläufigen Pflegekinder nicht ihren natürlichen Eltern übergeben will.«19 Ihn beunruhigt einzig die Sorge: »Gehört aber die Bearbeitung aller eigentlichen Theorien in die Domäne der Mathematiker, was bleibt dann für den Philosophen übrig?«20 Die positive Wissenschaft, wäre es auch die formale Charakteristik des Denkens, beansprucht Vorrang vor dessen Selbstbesinnung: es werden für sie, als »Domäne«, Besitzrechte angemeldet. Je abstrakter und isolierter aber das wissenschaftliche »Gebiet«, desto größer Versuchung und Bereitschaft es zu hypostasieren. Keine Grenze kennt der Drang zum Ausschließen als die Möglichkeit von Wissenschaft selber, deren abgrenzendes Verfahren zum metaphysischen Prinzip erhöht ist: »Indessen ins Schrankenlose können wir Transzendenzen nicht ausschalten, transzendentale Reinigung kann nicht Ausschaltung aller Transzendenzen besagen, da sonst zwar ein reines Bewußtsein, aber keine Möglichkeit für eine Wissenschaft vom reinen Bewußtsein übrig bliebe.«21 Der kritisch-idealistische Rückverweis jeglicher Gegenständlichkeit – auch der Wissenschaft – auf die Bewußtseinsimmanenz darf an die Prärogative der Wissenschaft nicht rühren. Die allen Wissenschaften voraufgehende Analyse des im reinen Bewußtsein Vorfindlichen muß es selber als wissenschaftlichen Gegenstand traktieren. Dies Paradoxon ist der Schlüssel zur gesamten Phänomenologie. Die wissenschaftliche Vergegenständlichung wird auf die Begründung von Gegenständlichkeit und Wissenschaft übertragen. Der Transzendentalphilosoph Husserl, der die gesamte positivistische Kritik am nachkantischen Idealismus unterschreibt, wagt nicht Fichtisch die Wissenschaft dem Absoluten gleichzusetzen. Aber von ihrem Primat will er nichts nachlassen. Darum muß die idealistische Jagd nach dem Transzendentalen vorerst abgeblasen, die Ausklammerung der Transzendenz unterbrochen werden. Das Transzendentale wird substituiert durch ein trotz aller »Reduktion« von den empirisch vorliegenden Wissenschaften abgezogenes Erkenntnisideal. Darin ähnelt Husserl aufs tiefste der Kantischen Resignation: nicht ob, sondern wie Wissenschaft möglich sei, wird zur Frage, und jede andere ist gebrandmarkt als bodenlose Spekulation. Keine intellektuelle Operation Husserls, und gebärdete sie sich noch so radikal, traut sich den Gedanken von der Eitelkeit der Wissenschaften noch zu, wie ihn Agrippa von Nettesheim in der Frühzeit des bürgerlichen Humanismus hegte. Noch in den Cartesianischen Meditationen ist das Ideal der Philosophie und das der Wissenschaft – »Universalwissenschaft« – das gleiche, und Philosophie wird als eine Hierarchie wissenschaftlicher Erkenntnisse ganz nach dem Schema des Cartesianischen Rationalismus beschrieben22. Wenn dem unraffinierteren Descartes gegenüber der Zweifelsversuch auf die Wissenschaften ausgedehnt scheint, so besagt das nicht mehr, als daß die unreflektiert »vorgegebenen« Wissenschaften, auch die formale Logik, selber vor einem strengeren Begriff von Wissenschaft, dem des lückenlos gefügten Stufenbaus der Evidenzen, sich verantworten sollen. Husserl kümmert nicht, ob Wissenschaft wahr, sondern ob die Wissenschaften wissenschaftlich genug seien. Die kritische Rückwendung der etablierten wissenschaftlichen Methodologie auf die Legitimation der Wissenschaft selbst ist ihm so fraglos wie irgendeinem seiner positivistischen Gegner. Das erklärt, warum auch dem späteren Husserl Wahrheit ein dinghaft Vorgegebenes, »deskriptiv« zu Fassendes bleibt. Noch die idealistischen Motive der Erzeugung und des Ursprungs versteinern dem szientifischen Blick zu feststellbaren Sachverhalten. Nie traut seine Philosophie die spontane Teilhabe am Prozeß der Erzeugung, darum auch nie den Eingriff in die Realität, selber sich zu. Durchwegs stilisiert der Phänomenologe sich als »Forscher«, der »Gebiete« entdeckt und ihre Landkarte entwirft; er nimmt die Kantische Metapher vom »Land der Wahrheit«, einem »reizenden Namen«23, buchstäblich. Ja sogar der Terminus Ontologie, später die Gegenparole wider szientifische Systematik, dürfte bei Husserl heraufbeschworen sein vom Willen, das System der Wissenschaften zum Absoluten zu erheben. Die obersten Allgemeinheiten eines jeglichen wissenschaftlichen Sachgebiets sollen sich, seiner Konzeption zufolge, zu nicht weiter reduktibeln Sätzen höchst formaler Art zusammenfügen, und deren Inbegriff heißt Ontologie, darin vielleicht übrigens mehr im Geist von Aristoteles und Thomas, als die neuen Ontologien wenigstens zu Anfang Wort haben mochten. Husserls Modell auf allen Stufen ist die Mathematik, trotz des Einspruchs der »Ideen« gegen deren Konfusion mit der Philosophie.24 Wenn in den »Prolegomena« ein Wertunterschied der Erkenntnisse nach dem Maß ihrer Gesetzlichkeit postuliert wird25, so durchherrscht solcher Mathematismus der Form nach das gesamte Denken Husserls bis zum Ende, auch dort noch, wo er sich nicht mehr bei der »Klärung« der Logik bescheidet, sondern es auf die Kritik der logischen Vernunft abgesehen hat. Mag immer der Husserl der phänomenologischen Reduktionen die natürliche Dingwelt »ausgeklammert« haben, sein Philosophieren selber hat nie anders sich bestimmt denn nach der Form eines sublimierten Auffassens von Dinghaftem, wie es im Verhältnis des Bewußtseins zur Einsicht in mathematische »Sachverhalte« vorgezeichnet ist.
Daß Husserl, im Rückgriff auf die Anfänge der bürgerlichen Philosophie und unangefochten von der Kritik, die Hegels Logik eben daran übte, der Mathematik den Primat zuerteilt, geschieht um deren »Reinheit« willen: der Mathematiker »unterläßt [es], je Fragen möglicher Wirklichkeit von Mannigfaltigkeiten zu stellen«26. Der analytische Charakter der Mathematik behütet sie vor jeder Störung durch unvorhergesehene Erfahrung. Darum mißt sich an ihr Apriorität, unbedingte Gewißheit und Sicherheit. Der Preis dafür wird von Husserl ausgeplaudert: »Diese Reinheit in der thematischen Beschränkung auf gegenständliche Sinne in ihrer Eigenwesentlichkeit – auf ›Urteile‹ im erweiterten Sinne – kann auch gewissermaßen unbewußt betätigt sein.«27 Der Terminus »unbewußt« zeigt an, daß der Vollzug mathematischer Akte unabhängig sei nicht nur von den »Fragen möglicher Wirklichkeit«, sondern auch von der Reflexion auf ihre eigene Losgelöstheit. Wohl möglich, daß Mathematik als Wissenschaft solcher Unbewußtheit des Vollzugs bedarf. Aber objektiv zersetzt diese schließlich den Begriff von Wahrheit selber. Das bloße Operieren ist die verhexte Gestalt, in der die von der Theorie und von der Qualität ihrer Objekte gleichermaßen getrennte, leerlaufende Praxis in der Theorie wiederkehrt. Die Frage nach jeglichem Bedeuten wird unterm Primat der Mathematik ersetzt durch eine Art abgeblendeter, technischer Denkaktivität, die den verwirrt, der auf Bedeutung aus ist, während umgekehrt der Mathematiker in jeder Frage nach Bedeutung Sabotage an der Maschinerie wittert und sie deshalb verbietet. Seine entschlossene Unbewußtheit bezeugt den Zusammenhang von Arbeitsteilung und analytischer »Reinheit«: der Mathematiker beschäftigt sich mit idealen Gegenständen wie der Paläontologe mit Fossilien, und die blinde Anerkennung einer von außen her gestellten Thematik, wie übrigens Husserls Sprache durchweg sie auch der Philosophie zumutet, entbindet ihm zufolge den Mathematiker von der Verpflichtung, jene Akte zu vollziehen, welche sein »Sachgebiet« als Moment des Ganzen und Wirklichen enthüllen könnten. Philosophie wiederholt, was real oft genug sich bewährt, und weiht Ignoranz als Rechtsquelle der Sicherheit. Je hermetischer aber die Unbewußtheit des Mathematikers seine Sätze gegen das Gedächtnis dessen abdichtet, worin sie verflochten sind, um so vollkommener erscheinen dafür die reinen Denkformen, aus denen die Erinnerung ans Abstrahieren getilgt ward, als eigene »Wirklichkeit«. Ihre Vergegenständlichung ist das Äquivalent dafür, daß sie aus allem Gegenständlichen herausgesprengt wurden, ohne das doch von »Form« nicht einmal zu reden wäre. Die unbewußte Gegenständlichkeit kehrt als falsches Bewußtsein von den reinen Formen wieder. Es stellt sich ein naiver Realismus der Logik her. Ihm eifern alle realistischen Motive Husserls nach, er motiviert seinen Ausbruchsversuch aus der erkenntniskritischen Immanenztheorie.
Seine Rede von einer »›dogmatisch‹ behandelten reinen Logik«28 drückt aus, daß er sich in seiner transzendentalphilosophischen Phase schließlich selber am naiven Realismus der Logik geärgert hat. Darum wollte er im Alter die logische Vernunft aus dem reinen Bewußtsein erklären. Auf die Schwierigkeit ist er aber bereits in der ursprünglichen Formulierung des logischen Absolutismus gestoßen. Unter die »Bedingungen der Möglichkeit jeder Theorie überhaupt«29 rechnet er nämlich die subjektiven: »Die Theorie als Erkenntnisbegründung ist selbst eine Erkenntnis und hängt ihrer Möglichkeit nach von gewissen Bedingungen ab, die rein begrifflich in der Erkenntnis und ihrem Verhältnis zum erkennenden Subjekt gründen. Z.B.: Im Begriff der Erkenntnis im strengen Sinne liegt es, ein Urteil zu sein, das nicht bloß den Anspruch erhebt, die Wahrheit zu treffen, sondern auch der Berechtigung dieses Anspruches gewiß ist und diese Berechtigung auch wirklich besitzt. Wäre der Urteilende aber nie und nirgends in der Lage, diejenige Auszeichnung, welche die Rechtfertigung des Urteils ausmacht, in sich zu erleben und als solche zu erfassen, fehlte ihm bei allen Urteilen die Evidenz, die sie von blinden Vorurteilen unterscheidet, und die ihm die lichtvolle Gewißheit gibt, nicht bloß für wahr zu halten, sondern die Wahrheit selbst zu haben – so wäre bei ihm von einer vernünftigen Aufstellung und Begründung der Erkenntnis, es wäre von Theorie und Wissenschaft keine Rede.«30 Das ist, aus der Konsequenz der Reflexion, schon ganz transzendental-philosophisch gedacht und mit dem »logischen Absolutismus« streng nicht zu vereinen. Denn die Geltung der logischen Sätze »an sich« wird getragen – und eingeschränkt – von der Forderung möglicher Evidenz für menschliches Bewußtsein. Damit schleichen alle die erkenntniskritischen Besorgnisse aufs neue sich ein, die der logische Absolutismus bannen wollte. Der rationale Impuls Husserls hat nicht bloß die dogmatische Begründung der Logik in Psychologie, sondern ebenso den logischen Dogmatismus angegriffen und jene Wendung erzwungen, die ihn dem billigen Vorwurf aussetzte, er hätte den Psychologismus erst eliminiert, um ihn dann wieder einzuschmuggeln. Der Anspruch eines logischen Ansichseins zergeht. Nur wird die Erkenntnis der Bedingungen der Möglichkeit von Logik selbst wiederum eines jeglichen Moments der Spontaneität entäußert und dem positivistischen Ideal bloßen Hinnehmens irreduzibler Fakten, »Gegebenheiten«, untergeordnet. Das geschieht durch den Begriff der Evidenz. Dessen zentrale Rolle im gesamten Denken Husserls erklärt sich damit, daß Evidenz die kontradiktorischen Forderungen der Begründung durch subjektive Rückfrage und des Gewahrwerdens irreduzibler, »absoluter« Sachverhalte zur Deckung zu bringen verspricht: »Also verstößt eine Theorie gegen die subjektiven Bedingungen ihrer Möglichkeit als Theorie überhaupt, wenn sie, diesem Beispiel gemäß, jeden Vorzug des evidenten gegenüber dem blinden Urteil leugnet; sie hebt dadurch das auf, was sie selbst von einer willkürlichen, rechtlosen Behauptung unterscheidet.«31 So bereits wird rudimentär das positivistische Ideal sinnlicher Gewißheit ausgeweitet und um seine kritische Funktion gebracht. Die Forderung unmittelbarer Gegebenheit ist aufs geistige Bereich übertragen: daß logische Sachverhalte an sich seiend, absolut und doch vernünftig zu begründen sein sollen, zieht die Konstruktion der kategorialen Anschauung herbei. Deren spätere Doktrin ist nichts als die Beschwörungsformel der Evidenz. Ohne solchen Hilfsbegriff jedoch, in dem das Ansichsein von Geistigem und dessen subjektive Rechtfertigung zusammenfallen, kommt Husserl nicht aus. Wenn es »subjektive Bedingungen der Möglichkeit einer Theorie« gibt, die in einem Zusammenhang von Urteilen vorliegen, kann die logische Theorie als ein An sich nicht behauptet werden. Eben darauf aber muß Husserl von Anbeginn bestehen. Das gleiche Postulat der »Erfahrungsunabhängigkeit«, das auf die »realistische« Konstruktion des logischen An sich hinausläuft und Logik und Mathematik behandelt, als wären sie schlechterdings da, gebietet zugleich die Idealität von Logik und Mathematik als ihre Reinheit von Faktischem. Verdinglichung und Idealisierung werden dieser Philosophie – und nicht ihr zum erstenmal – zu Korrelaten. Würden die logischen Sätze legitimiert durch die Analyse des Wie ihres »Erscheinens« – als des Bewußtseins, der Erfahrung von ihnen – so wäre die Konstitutionsfrage aufgerollt und Daseiendes nicht fernzuhalten. Nur als auf wie immer Seiendes bezogene sind logische Sätze überhaupt »erfahrbar« und lassen motiviert sich nachvollziehen; sonst bleiben sie leer vorgestellt, und es wird der Logik Stringenz zugeschrieben, ohne daß diese selbst im Denken der Logik einsichtig würde. Daher verschränkt sich der naive Realismus der Logik paradox mit der Behauptung der Idealität der Sätze an sich gegenüber dem Seienden. Der Gedanke muß sich selbst sistieren, um dem als logischer Automatismus entfremdeten Geist, in dem der Gedanke sich nicht wiedererkennt, das Privileg in sich ruhender Absolutheit zu bewahren. Wird aber Wissenschaft als systematische, lückenlos immanente Einheit der »Sätze an sich« entworfen wie durchweg bei Husserl, so verfällt sie dem Fetischcharakter: »Man denke etwa an die phänomenologische Methode Husserls, in der letzten Endes das ganze Gebiet der Logik in eine ›Faktizität‹ höherer Ordnung verwandelt wird.«32 Die Borniertheit einer auf »Domänen«33 geeichten Methode ausdrücklich postulieren und sie durchschauen, ist aber beinahe dasselbe. Indem Husserl die Verdinglichung von Mathematik – und reiner Logik – einbekennt, erreicht er die Kritik am Positivismus zweiten Grades: »Hier ist zu beachten, daß der Mathematiker in Wahrheit nicht der reine Theoretiker ist, sondern nur der ingeniöse Techniker, gleichsam der Konstrukteur, welcher, in bloßem Hinblick auf die formalen Zusammenhänge, die Theorie wie ein technisches Kunstwerk aufbaut. So wie der praktische Mechaniker Maschinen konstruiert, ohne dazu letzte Einsicht in das Wesen der Natur und ihrer Gesetzlichkeit besitzen zu müssen, so konstruiert der Mathematiker Theorien der Zahlen, Größen, Schlüsse, Mannigfaltigkeiten, ohne dazu letzte Einsicht in das Wesen von Theorie überhaupt und in das Wesen ihrer sie bedingenden Begriffe und Gesetze besitzen zu müssen.«34
Nirgends wird der fetischistische Aspekt solches innehaltenden, um die eigene bewegende Konsequenz unbesorgten Denkens deutlicher als in Husserls Auseinandersetzung mit den »Logischen Studien« F. A. Langes: »Nur die Unachtsamkeit auf den schlichten Bedeutungsgehalt des logischen Gesetzes ließ es übersehen, daß dieses zur tatsächlichen Aufhebung des Widersprechenden im Denken weder direkt noch indirekt die mindeste Beziehung hat. Diese tatsächliche Aufhebung betrifft offenbar nur die Urteilserlebnisse eines und desselben Individuums in einem und demselben Zeitpunkt und Akt; es betrifft nicht Bejahung und Verneinung verteilt auf verschiedene Individuen oder auf verschiedene Zeiten und Akte. Für das Tatsächliche, das hier in Frage ist, kommen dergleichen Unterscheidungen wesentlich in Betracht, das logische Gesetz wird durch sie überhaupt nicht berührt. Es spricht eben nicht von dem Kampfe kontradiktorischer Urteile, dieser zeitlichen, real so und so bestimmten Akte, sondern von der gesetzlichen Unverträglichkeit unzeitlicher, idealer Einheiten, die wir kontradiktorische Sätze nennen. Die Wahrheit, daß von einem Paar solcher Sätze nicht beide wahr sind, enthält nicht den Schatten einer empirischen Behauptung über irgendein Bewußtsein und seine Urteilsakte.«35 Husserl kritisiert die landläufige psychologische Begründung der Logik aus der Unvereinbarkeit kontradiktorischer Sätze im gleichen Bewußtsein. Weil das gleiche Urteil von verschiedenen Individuen und zu verschiedenen Zeiten bejaht oder verneint werden könne, reiche das Argument nicht aus. Seine Beweisführung ist aber nur möglich, weil er das Bewußtsein verschiedener Individuen zu verschiedenen Zeiten monadologisch isoliert, ohne daß die kollektive Einheit im Vollzug von Bewußtseinsakten, das gesellschaftliche Moment der Synthesis des Denkens, überhaupt in sein Blickfeld träte. Indem er jene nicht konzediert, aber die über das einzelne Individuum hinausgreifende Gültigkeit der logischen Sätze anerkennen muß, sieht er sich gezwungen, diesen unvermittelt ein Ansichsein zuzuerkennen. Faßte er das Subjekt der logischen Gültigkeit als gesellschaftlich und bewegt anstatt als isoliert-»individuell«, so müßte er keinen ontologischen Graben zwischen das Denken und dessen eigene Gesetze legen. Wäre in der Tat Denken bloß das von Monaden, so wäre es ein Wunder, daß diese nach denselben Gesetzen denken müssen, und die Theorie hätte keinen Ausweg, als dies Wunder durch den Platonischen Realismus der Logik sich zuzueignen. Aber Denken ist allein schon durch Sprache und Zeichen dem je Einzelnen vorgeordnet, und dessen Meinung, »für sich« zu denken, enthält noch in der äußersten Opposition zum Allgemeinen ein Moment des Scheins: was dem individuellen Denkenden von seinem Gedanken zugehört, ist dem Inhalt wie der Form nach ein Verschwindendes. Das ist wahr an der Lehre vom transzendentalen Subjekt, das über das empirische den Vorrang habe. Husserl aber kennt, individualistisch verblendet, Bewußtsein nur als das von Monaden, und da er einsieht, daß die Geltung der logischen Sätze sich nicht in der Abstraktion von der Monade erschöpft, muß er jene Geltung hypostasieren. Die Emanzipation des reinen Denkgesetzes vom Denken fällt auf jenen Standpunkt zurück, an dessen Kritik Philosophie seit Aristoteles ihren Inhalt hat; Wissenschaft selber gerät durch ihr obstinat durchgeführtes Prinzip zwangshaft in eben die Mythologie, die sie tilgen wollte.
Der paradoxe Ursprung der Verdinglichung der Logik in der Abstraktion von aller Faktizität liegt dort zutage, wo der frühe Husserl sich um die Motivation seiner Arbeit an der »philosophischen Klärung« der reinen Logik und Mathematik bemüht: »Damit aber hängt der unvollkommene Zustand aller Wissenschaften zusammen. Wir meinen hier nicht die bloße Unvollständigkeit, mit der sie die Wahrheiten ihres Gebietes erforschen, sondern den Mangel an innerer Klarheit und Rationalität, die wir unabhängig von der Ausbreitung der Wissenschaft fordern müssen.«36 Abermals wird ein keineswegs Selbstverständliches als selbstverständlich unterstellt: der Dualismus zwischen der sachlichen Entfaltung einer Wissenschaft und ihrem »Wesen«, das sie formal charakterisieren soll – der idealistische Dualismus von Inhalt und Form. Der tatsächliche Fortschritt der Erkenntnis in den Wissenschaften habe nichts zu tun mit dem, was sie an sich sind. Wird aber die Klärung der Logik strikt jenem Postulat zufolge unternommen, so begeht die Theorie eine petitio principii. Objektivität und Idealität der Logik – ihr dinghaftes Ansichsein – die von der philosophischen Kritik erwiesen werden sollen, sind bereits vorausgesetzt von einer Methode, die der Logik eine vom Stand ihrer Ausbildung unabhängige Rationalität und Klarheit zuschreibt und damit zufrieden ist, sie deskriptiv darzutun. Dabei handelt es sich um mehr als die von Husserl später erörterte »Selbstbezogenheit« der Logik. Gewiß ist es legitim, auf die Logik logische Sätze anzuwenden: sonst ließe über sie vernünftig sich nicht urteilen. Ein anderes aber ist die Frage nach dem Wesen der Logik, die sinnvoll nur gestellt werden kann, wenn sie nicht die Antwort präjudiziert. Das jedoch geschieht in jener Annahme Husserls – der eines faktenfreien und darum gegen das historische Faktum der wissenschaftlichen Entwicklung gleichgültigen formalen Apriori. Wie nur an einer weit geförderten Logik deren Konstituentien herausgearbeitet werden können, so sind Klarheit und Rationalität dem eigenen Wesen nach in Geschichte verflochten: daß sie erst als Resultat hervortreten, in der Trennung von Methode und Sache sich kristallisieren, ist ihnen nicht äußerlich, so obstinat sie auch der Erinnerung daran sich sperren. Die Indifferenz gegen solche Erinnerung verleiht den Prolegomena, bei all ihrem Verdienst gegenüber einem Psychologismus, der in der Tat bloß das Korrelat der verdinglichten Logik ist, ein eigentümlich Ohnmächtiges. Immer wieder enthält die Argumentation als implizite Prämisse, worauf sie als explizites Resultat hinausmöchte. Notwendig fällt der Schatten des von Husserl Ausgeschlossenen – und die Grundoperation seiner Philosophie ist ein Ausschließen, sie ist defensiv durch und durch – über die behütete Zone der Reinheit. So hat Husserl nicht geleugnet, daß »Übung und Assoziation« wesentliche, nicht bloß akzidentelle Momente eines jeglichen logischen Vollzugs abgeben. Dann ist aber Logik erst recht nicht vom Denken zu scheiden. Er sucht Übung und Assoziation aus der »eingeprägten« Gesetzmäßigkeit der logischen Form abzuleiten37, ohne auch nur die Frage aufzuwerfen, auf der später aller Nachdruck liegt, wie nämlich ein rein Logisches Ursache eines psychisch Faktischen sein könne, und sonderbar unbekümmert darum, daß jene Denkpraktiken offensichtlich dem faktischen Vollzug von Akten, nicht der reinen Form zugehören.
Anfechtbar jedoch ist nicht nur die Voraussetzung der Argumentation für den logischen Absolutismus, sondern der Kern jener Argumentation selbst. Die Stelle des ersten Bandes der Logischen Untersuchungen, welche die zwingendste Kritik des Psychologismus enthält, die Polemik dagegen, es seien die Denkgesetze »vermeintliche Naturgesetze, welche in isolierter Wirksamkeit das vernünftige Denken kausieren«38, ist zugleich das Opfer von Verdinglichung. Husserl führt aus39, es sei unsinnig, die logischen Gesetze als kausalpsychologische Ursachen für den Verlauf menschlichen Denkens anzusehen. Eine Rechenmaschine sei »naturgesetzlich« derart konstituiert, daß die Ziffern so herausspringen, wie die mathematischen Sätze es verlangen. Niemand jedoch werde, um das Funktionieren der Maschine zu erklären, anstatt der mechanischen Gesetze die arithmetischen heranziehen. Das sei auf den Menschen übertragbar. Er habe zwar außerdem noch »Einsicht« in die Richtigkeit des Gedachten durch ein »anderes« gesetzmäßiges Denken, gleichsam eine zweite Maschine. Sein Denkapparat als solcher aber funktioniere nicht anders als die Rechenmaschine. Durch das Beispiel hat Husserl in der Tat schlagend dargetan, daß Psychologisches aus logischen Sätzen nicht abgeleitet werden kann, daß diese nicht Naturgesetzen gleichzusetzen sind. Freilich würde ohne die ideale »Gültigkeit« der arithmetischen Sätze die Maschine genau so wenig funktionieren, wie wenn sie nicht den Gesetzen der Mechanik entsprechend organisiert wäre. Selbst in dem Beispiel will die Trennung der Sphären nicht ohne peinlichen Rest gelingen. Aber das Gleichnis, nicht umsonst mechanisch, läßt sich auf den lebendigen Vollzug von Einsicht überhaupt nicht anwenden. Die Unmöglichkeit der Deduktion faktischer Denkleistungen aus logischen Gesetzen bedeutet keinen Chorismos zwischen beiden. Darin ist der Vergleich mit der Maschine trügerisch. Daß in dieser die mathematische Richtigkeit der Resultate und die kausal-mechanischen Bedingungen des Funktionierens nichts miteinander zu tun zu haben scheinen, verdankt sich einzig dem Absehen von der Konstruktion der Maschine. Diese verlangt eine wie immer auch geartete Verbindung zwischen den arithmetischen Sätzen und der physikalischen Möglichkeit, ihnen gemäß zu operieren. Ohne solche Verbindung käme keine korrekte Lösung heraus, und sie herzustellen ist die Aufgabe des Konstrukteurs. Nicht die Maschine, wohl aber sein Bewußtsein vollzieht die Synthesis von beiden. »Ding« wird die Maschine, indem die Relation von Logik und Mechanik ein für allemal festgelegt und darum dann nicht mehr in den Einzeloperationen sichtbar ist. In der Maschine ist die Arbeit des Konstrukteurs geronnen. Das Subjekt, das kausal-mechanische Verfahren auf logische Sachverhalte abstimmte, hat sich aus der Maschine zurückgezogen wie der Gott der Deisten aus seiner Schöpfung. Der unvermittelte Dualismus von Realität und Mathematik entsteht historisch durch ein Vergessen, den Rückzug des Subjekts. Das gilt nun aber nicht bloß für die Maschine, sondern auch für den Menschen selbst, insofern sein Denken in logische und psychologische Momente zerfällt. Das Subjekt überträgt seine eigene Spaltung in einen diszipliniert geistig Arbeitenden und einen scheinbar isoliert Daseienden auf die Ontologie. Die logischen Momente repräsentieren, ihm entfremdet, das Übergreifende. Als Denkender und Handelnder ist er mehr als nur er selbst. Er wird zum Träger gesellschaftlichen Vollzugs und mißt sich zugleich an der Realität, die dem abgespaltenen Fürsichsein seiner Subjektivität vorgeordnet ist. Als psychologische Person dünkt er sich selbst nicht entfremdet. Aber für das Zurückgeworfensein auf die bloße Identität mit sich hat er den Preis der Unverbindlichkeit eines jeglichen Inhalts seines Bewußtseins zu zahlen, ohne doch dem Verhängnis zu entgehen, vor dem die psychologische Person sich retten möchte. Bar der Beziehung aufs Allgemeine, schrumpft sie zum Faktum zusammen, unterliegt einer ihr äußerlichen Determination und wird, als zur festen Einzelheit verhärtete Subjektivität, ebenso zum subjektlosen Ding wie das Gesetz, das über ihr waltet. Das Getrennte läßt beim Menschen so wenig aus der Willkür des Gedankens sich zusammenbringen wie bei der Maschine. Über Trennung und Vereinigung entscheidet der gesellschaftliche Prozeß. Aber das Bewußtsein bleibt zugleich auch die Einheit des voneinander Gerissenen. Wäre Selbstentfremdung radikal, sie wäre der Tod. Als von Menschen Angestiftetes ist sie auch Schein. Dieser verblendet Husserl als den bewußtlosen, doch getreuen Historiographen der Selbstentfremdung des Denkens. Er projiziert diese auf die Wahrheit. Gewiß bemerkt er die Grenze der Analogie mit der Maschine. Aber er fertigt den Einwand eilends ab: »Die Maschine ist freilich keine denkende, sie versteht sich selbst nicht und nicht die Bedeutung ihrer Leistungen; aber könnte nicht unsere Denkmaschine sonst in ähnlicher Weise funktionieren, nur daß der reale Gang des einen Denkens durch die in einem anderen Denken hervortretende Einsicht in die logische Gesetzlichkeit allzeit als richtig anerkannt werden müßte?«40 Allein schon das hypothetische »Könnte« an einer zentralen Stelle der Beweisführung müßte den Phänomenologen, der verspricht, sich rein »an die Sachen« zu halten, stutzig machen. Vor allem jedoch besteht das Subjekt der Argumentation nicht aus mehreren »Denken« – die sprachliche Unmöglichkeit des Plurals von Denken verweist auf die sachliche – und auch durch die Unterscheidung reflektierender von geradehin vollzogenen Akten wäre kein absoluter Dualismus außerhalb der Einheit des Selbstbewußtseins begründet. Die Möglichkeit der Reflexion selbst setzt die Identität des reflektierenden Geistes mit dem Subjekt der Akte voraus, auf welche es reflektiert. Wie wäre aber vollkommene Divergenz zwischen der erkennenden Legitimation logischer Sätze und dem faktischen Vollzug logischer Operationen zu behaupten, wenn beide in ein und dem gleichen Bewußtsein sich durchdringen? Die Einheit des Denkens, das da logisch operiert und des Sinnes seiner Operationen selbst innewird, läßt nur um eines thema probandum willen sich ignorieren, das die Unterscheidung wissenschaftlicher Disziplinen in den Seinsgrund verschiebt. Ohne jene Einheit ließe nicht einmal die Konsistenz eben der Logik sich vorstellen, zu deren Verteidigung Husserl auf den Absolutismus verfallen ist. Daß über Gegenständliches nach logischen Gesetzen überhaupt geurteilt werden kann, würde zum Wunder, wäre nicht das Denken, das solche Urteile vollzieht, das der Logik gehorcht und das die Logik einsieht. Husserls Theorie des Bruches ist selber brüchig.
Seine Erwägungen über die »Ziele der Denkökonomik«, deren Begriff er von der positivistischen Erkenntniskritik des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts, insbesondere von Mach und Avenarius, übernimmt, brauchten nur weitergetrieben zu werden, um all das aufzudecken. Aber er ruft den Mechanismus der Verdinglichung beim Namen einzig, um vor ihm zu kapitulieren: »So ist es z.B. ein ernstes Problem, wie mathematische Disziplinen möglich sind, Disziplinen, in welchen nicht relativ einfache Gedanken, sondern wahre Türme von Gedanken und tausendfältig ineinandergreifenden Gedankenverbänden mit souveräner Freiheit bewegt und durch Forschung in immer sich steigernder Komplikation geschaffen werden. Das vermag Kunst und Methode. Sie überwinden die Unvollkommenheiten unserer geistigen Konstitution und gestatten uns indirekt, mittels symbolischer Prozesse und unter Verzichtleistung auf Anschaulichkeit, eigentliches Verständnis und Evidenz, Ergebnisse abzuleiten, die völlig sicher, weil durch die allgemeine Begründung der Leistungskräftigkeit der Methode ein für allemal gesichert sind.«41 Genauer denn als Verzicht auf Anschaulichkeit, Verständnis und Evidenz wäre der Widerspruch kaum zu bezeichnen, daß die mathematische Arbeit nur durch Verdinglichung, durch Preisgabe der Aktualisierung des je Bedeuteten geleistet werden kann und gleichwohl den Vollzug dessen, was sie als Verunreinigung tabuiert, als Rechtsgrund der eigenen Gültigkeit voraussetzt. Indem Husserl den Tatbestand beschreibt, ohne ihn aufzulösen, sanktioniert er bereits den Fetischismus, der sechzig Jahre später in der Faszination durch die abenteuerlich verbesserten Rechenmaschinen und die damit befaßte kybernetische Wissenschaft seinen wahnhaften Aspekt hervorkehrte. Er spricht, mit einem guten Gleichnis, von den mathematischen »Gedankentürmen«, die nur möglich seien, weil die in der Mathematik enthaltenen Leistungen nicht in jeder Operation vom Mathematiker erfüllt werden, sondern sich zwischen den Symbolen zutragen, so daß die Objektivität des mathematischen Verfahrens gegenüber dem subjektiven Denken selbständig aussieht. Jene »Türme« sind Artefakte, die sich darstellen, wie wenn sie natürlich wären. So wird, um im Bilde zu bleiben, altes Mauerwerk, dessen gesellschaftlicher Ursprung und Zweck vergessen ist, als Element der Landschaft wahrgenommen. Aber der Turm ist kein Felsen, wenngleich aus dem Gestein gefertigt, das der Landschaft die Farbe gibt. Husserl erkennt die Verdinglichung der Logik, um sie, wie es insgesamt seiner Methode eigen ist, »hinzunehmen«, das von der Logik Vergessene absichtlich nochmals zu vergessen. Unabweisbar die Analogie mit dem vulgär-ökonomischen Denken, das den Wert den Waren an sich zuschreibt, anstatt ihn als ein gesellschaftliches Verhältnis zu bestimmen. »Künstlich« ist die mathematische Methode bloß insofern, als in ihr das Denken nicht seiner selbst inne wird, aber gerade solche »Künstlichkeit« verzaubert Logik in zweite Natur und leiht ihr die Aura des idealen Seins. Ihr zuliebe hält Husserl an Mathematik als gleichsam vorphilosophischem Modell inmitten seiner Philosophie fest. Er nimmt kein Ärgernis an der Paradoxie der »Denkmaschinerie«42. Der geschworene Antipositivist begegnet paradox mit den Logistikern sich auch darin, daß er die dem lebendigen Vollzug entrückten Produkte der Maschinerie, die allgemeinen arithmetischen Zeichen für Zahlbegriffe, als »reine Operationszeichen« definiert, »nämlich als Zeichen, deren Bedeutung ausschließlich durch die äußeren Operationsformen bestimmt ist; ein jedes gilt nun als ein bloßes Irgendetwas, mit dem in diesen bestimmten Formen auf dem Papiere so und so hantiert werden darf«43. Dem logistischen Begriff der Spielmarke bleibt noch Husserls Sprachtheorie verhaftet, der die Worte lediglich »sinnliche Zeichen« und damit auswechselbar sind44. Der logische Absolutismus hebt sich selbst auf: indem Husserl die Begriffe von ihrer »Einsichtigkeit« dispensiert, werden sie notwendig zugleich zu »äußeren Operationsformen« und ihre absolute Geltung für Sachen zu einem Zufälligen. Die Verselbständigung und Verewigung des Formalen, die ihm die Konfrontation mit dem eigenen Sinn erspart, durchschneidet zugleich den Zusammenhang des als absolut wahr Statuierten mit der Idee der Wahrheit.
Der erste Band der Logischen Untersuchungen hat zur These, daß die logischen Sätze für alle überhaupt möglichen Urteile gelten. Insofern sie auf jegliches Denken von jeglichem Gegenstand anzuwenden sind, komme ihnen Wahrheit »an sich« zu: ihre Gültigkeit habe mit keinem Gegenstand etwas zu tun, eben weil sie alle Gegenstände beträfe. Als Ansichseiende sollen sie zugleich unabhängig sein von den Akten, die logisch ablaufen oder in denen auf Logik reflektiert wird. Die Rede von »jeglichem Gegenstand« ist aber mehrdeutig. Daß von jeglichem Gegenstand abgesehen werden mag, weil die formale Logik für alle paßt, besagt zwar, daß in der höchsten Allgemeinheit der Kategorie »Gegenstand überhaupt« sämtliche spezifischen Differenzen verschwinden; nicht aber verschwindet die Beziehung ihrer Sätze auf einen »Gegenstand überhaupt«. Sie gelten nur »für« Gegenstände. Einzig auf Sätze läßt Logik sich anwenden, einzig Sätze können wahr oder falsch sein. Das Prinzip des Widerspruchs etwa wäre nicht auszusprechen ohne Rücksicht auf den Begriff kontradiktorisch einander entgegengesetzter Sätze. Der Begriff solcher Sätze aber involviert notwendig ein Inhaltliches, sowohl mit Hinblick auf die Faktizität ihres eigenen Vollzugs, auf tatsächliches subjektives Urteilen, wie mit Hinblick auf die stofflichen Elemente, die auch dem abstraktesten Satz, sei es noch so vermittelt, zugrundeliegen, wenn er überhaupt etwas bedeuten, ein Satz sein soll. Daher ist die Rede vom Ansichsein der Logik streng nicht zulässig. Ihre bloße Möglichkeit hängt ab vom Dasein, von Sätzen, mit allem, was dies Dasein mit sich führt, so wie umgekehrt die Sätze abhängen von der Logik, der sie genügen müssen, um wahr zu sein. Die formale Logik ist funktionell, kein ideales Sein. Wird aber, in phänomenologischer Manier zu reden, das »Worauf überhaupt« als ihre konstitutive Bedingung anerkannt, so werden die Bedingungen der Möglichkeit eines solchen »Worauf überhaupt« zugleich zu solchen der formalen Logik. Das »Worauf überhaupt«, die Sätze, welche der Logik unterworfen sind, erheischen, als Synthesen, notwendig Denken, auch wenn das Zwingende der Synthesis das Moment der Spontaneität verbirgt und jene, analog der sinnlichen Wahrnehmung, als bloß passives Registrieren eines rein Objektiven erscheinen läßt. Damit aber verweisen die logischen Sätze zugleich auf eine Materie, die gerade nicht im Denken aufgeht, das an ihr sich betätigt. Indem Husserl das subjektive Moment, Denken, als Bedingung der Logik unterschlägt, eskamotiert er auch das objektive, die in Denken unauflösbare Materie des Denkens. An ihre Stelle tritt das unerhellte und darum zur Objektivität schlechthin aufgespreizte Denken: der logische Absolutismus ist, ohne es zu ahnen, von Anbeginn absoluter Idealismus. Einzig die Äquivokation des Terminus »Gegenstand überhaupt« erlaubt es Husserl, die Sätze der formalen Logik als Gegenstände ohne gegenständliches Element zu interpretieren. So wird der Mechanismus des Vergessens zu dem der Verdinglichung. Nutzlos die Berufung auf die Hegelsche Logik, der das abstrakte Sein zum Nichts werde, so wie beim Husserlschen »Gegenstand überhaupt« von allem Gegenständlichen abgesehen werden könne. Das Hegelsche »Seyn, reines Seyn, – ohne alle weitere Bestimmung«45 ist nicht mit der obersten Husserlschen Substratkategorie »Gegenstand überhaupt« zu verwechseln. Vor allem aber regt sich bei Husserl kein Zweifel am Satz der Identität. Die Begriffe bleiben was sie sind. Das Husserlsche »Nichts«, die Eliminierung der Faktizität in der Interpretation logischer Sachverhalte, beansprucht absolute Geltung als isolierendes Urteil. Darum müssen seine Termini sich seiner eigenen Lieblingsmethode, der kritischen Bedeutungsanalyse, stellen.
Eine solche ist scharfsinnig in der Einleitung zur Psychologie Brentanos von Oskar Kraus durchgeführt worden: »Es ist vor allem nötig, sich über den Terminus ›Gegenstand‹ (Objekt) klar zu werden; gebraucht man ihn im selben Sinne wie Sache, Ding, oder Reales, dann ist er ein selbstbedeutender (autosemantischer) Ausdruck. Er bedeutet dann nichts anderes, als das, was wir in dem höchsten Allgemeinbegriff denken, zu dem wir von den Anschauungen abstrahierend aufsteigen können und wofür Brentano eben auch den Ausdruck ›Wesen, Sache, Reales‹ verwendet. Gebraucht man aber ›Gegenstand‹, ›Objekt‹ in Fügungen wie ›Etwas-zum-Objekte-haben‹, ›Etwas-zum-Gegenstand-haben‹, dann ist das Wort ›Gegenstand‹ nicht selbstbedeutend, sondern mitbedeutend (synsemantisch), denn diese Wortgefüge können durch den Ausdruck ›Etwas-vorstellen‹ vollständig ersetzt werden. – Die Doppelbedeutung und fallweise Mitbedeutung des Wortes ›Gegenstand‹ wird vielleicht noch klarer, wenn man bedenkt, daß der Satz: ›Ich habe etwas, d.h. ein Ding, ein Reales, eine Sache, ein Wesenhaftes zum Gegenstand‹ auch äquivalent ausgedrückt werden kann durch die Wendung ›ich habe Etwas, d.h. einen Gegenstand zum Gegenstande‹. In diesem Satz steht ›Gegenstand‹ das erstemal selbstbedeutend für Sache, Ding, Wesen oder Reales, das zweitemal ist es synsemantisch und bedeutet für sich gar nichts und im Zusammenhang der Rede so viel wie der Satz ›Ich stelle ein Ding vor, ein Ding erscheint mir, ein Ding ist mein Phänomen, ich habe ein Ding gegenständlich oder 'gegeben oder 'phänomenal oder 'immanent, ich habe etwas gegenständlich‹.«46 Der Nachweis der Unterschiebung eines synsemantischen für einen autosemantischen Begriff charakterisiert bedeutungstheoretisch die Verdinglichung an ihrem Resultat, ohne sie freilich aus ihrem Ursprung zu entwickeln. Daß Husserls Theorie der Logik selbst ihren »Gegenstand überhaupt«, ihre dem Sinn der logischen Sätze implizite Relation auf Gegenständliches vernachlässigt, und daß Logik in dem von Kraus herausgearbeiteten Irrtum selber zum Gegenstand gemacht wird, sind nur zwei verschiedene Aspekte des Gleichen. Da kein Denken aus der Subjekt-Objekt-Polarität herausspringen, ja nicht einmal diese selbst fixieren, die unterschiedenen Momente unabhängig voneinander bestimmen kann, so kehrt das in der Hypostasierung der reinen Logik ausgetriebene Objekt in jener wieder: sie wird zu dem Gegenstand, an den sie vergaß. In ihrer Naivetät gegenüber der Beziehung auf Gegenständliches mißversteht die Logik notwendig sich selbst: ihre Stringenz, die sie ja im Urteil über Gegenstände gewinnt, schreibt sie sich als reiner Form zu und unterschiebt sich als Ontologie. Das affiziert aber nicht nur die Frage nach ihren »Grundlagen«, sondern ihr inneres Gefüge. Die vielberufene Starrheit der Logik seit Aristoteles, die erst durch Russell und Whitehead wieder in Fluß kam, dürfte bewirkt sein von der Verdinglichung der Logik, die sich gegen den eigenen gegenständlichen Sinn um so vollkommener abdichtete, je mehr sie als Einzelwissenschaft durchgebildet ward.
Die Verdinglichung der Logik, als Selbstentfremdung des Denkens, hat zum Äquivalent und Vorbild die Verdinglichung dessen, worauf Denken sich bezieht: der Einheit von Objekten, die dem Denken, das an ihnen arbeitet, derart zur Identität geronnen sind, daß, von ihrem wechselnden Inhalt abgesehen, die bloße Form ihrer Einheit festgehalten werden kann. Solche Abstraktion bleibt die sinngemäße Voraussetzung aller Logik. Sie weist zurück auf die Warenform, deren Identität in der »Äquivalenz« des Tauschwerts besteht. Damit aber auf ein sich selbst uneinsichtiges gesellschaftliches Verhältnis, auf falsches Bewußtsein, aufs Subjekt. Der logische Absolutismus ist beides: die Reflexion der vom Subjekt vollzogenen Verdinglichung im Subjekt, das am Ende sich selber zum Ding wird, und der Versuch, den Bann der universalen Subjektivierung zu brechen, dem in aller Macht sich als Willkür, wenn nicht Ohnmacht beargwöhnenden Subjekt Einhalt zu gebieten durch ein schlechterdings Irreduzibles. Der radikalisierte Subjektivismus wird zum Phantasma der eigenen Überwindung: das ist schon in den Prolegomena das Schema Husserls. Seine Verfahrensweise ist bereits, wie später in der Erkenntnistheorie, ein »Durchstreichen«, »Ausklammern«. Zugrunde liegt jener Residualbegriff der Wahrheit, den alle bürgerliche Philosophie, mit Ausnahme von Hegel und Nietzsche, gemeinsam hat. Wahrheit erscheint diesem Denken als das, was »übrig bleibt«, nachdem man die Unkosten ihres Gestehungsprozesses, gleichsam den Lohn der Arbeit, kurz das weggelassen hat, was schließlich in der Vulgärsprache der dem Positivismus überantworteten Wissenschaft die »subjektiven Faktoren« heißt. Ob dabei nicht das Substantielle der Erkenntnis, Fülle und Bewegtheit ihres Gegenstandes, abgeschnitten wird, ist einem Bewußtsein gleichgültig, das am Besitz des Unveränderlichen und Unauflöslichen das Surrogat der Erfahrung besitzt, die ihm nach klassifikatorischen Kategorien zerfällt. Das Instrument, das alles Absolute auflöst, wirft sich selbst zum Absoluten auf. Wie Faust nichts in Händen behält als Helenas Gewand, tröstet die Wissenschaft, die immer strebend sich bemüht, sich mit der Leerform des Denkens. Husserl selbst nennt sich, nicht ohne durch die beschwichtigende Formel sit venia verbo leises Unbehagen anzumelden, einen »logischen Absolutisien«47. Gemeint sind die von der »Besonderheit des menschlichen Geistes unabhängigen Gesetze der reinen Logik«48, deren Begriff abermals mit der zögernden Parenthese »falls es dergleichen gibt« eingeführt wird. Der logische Absolutismus geht somit weit hinaus über die Kritik der psychologischen Deutung der Logik als der Ableitung ihrer Geltung aus der Dynamik des »Seelenlebens«; über den gelungenen Nachweis, daß die logischen Gesetze kein bloß innermenschlich Seelisches sind. Absolutistisch ist Husserls Theorie vielmehr, weil sie die Abhängigkeit logischer Gesetze von Seiendem überhaupt als der Bedingung ihres möglichen Sinnes leugnet. Sie drückt ihm kein Verhältnis von Bewußtsein und Gegenständlichem aus, sondern es wird ihr ein Sein sui generis zugeschoben: »Wir unsererseits würden nun aber sagen: Allgemeingleichheit nach Inhalt und konstanten Funktionsgesetzen (als Naturgesetzen für die Erzeugung des allgemeingleichen Inhalts) macht keine echte Allgemeingültigkeit, die vielmehr in der Idealität ruht.«49 Solche Idealität kommt ihm mit Absolutheit überein: »Sind alle Wesen einer Gattung ihrer Konstitution nach zu gleichen Urteilen genötigt, so stimmen sie miteinander empirisch überein; aber im idealen Sinne der über alles Empirische erhabenen Logik können sie dabei doch statt einstimmig vielmehr widersinnig urteilen. Die Wahrheit durch Beziehung auf die Gemeinsamkeit der Natur bestimmen, heißt ihren Begriff aufgeben. Hätte die Wahrheit eine wesentliche Beziehung zu denkenden Intelligenzen, ihren geistigen Funktionen und Bewegungsformen, so entstände und verginge sie mit ihnen, und wenn nicht mit den Einzelnen, so mit den Spezies. Wie die echte Objektivität der Wahrheit wäre auch die des Seins dahin, selbst die des subjektiven Seins, bzw. des Seins der Subjekte. Wie wenn z.B. die denkenden Wesen insgesamt unfähig wären, ihr eigenes Sein als wahrhaft seiend zu setzen? Dann wären sie und wären auch nicht. Wahrheit und Sein sind beide im gleichen Sinne ›Kategorien‹ und offenbar korrelativ. Man kann nicht Wahrheit relativieren und an der Objektivität des Seins festhalten. Freilich setzt die Relativierung der Wahrheit doch wieder ein objektives Sein als Beziehungspunkt voraus – darin liegt ja der relativistische Widerspruch.«50 So schlüssig das lautet, so angreifbar bleibt es im einzelnen. Indem die »Nötigung« zu gleichen Urteilen von den urteilenden Subjekten getrennt und der idealen Logik zugeschoben wird, ist zugleich auch das aus der Sache folgende Moment des Zwanges in solcher Nötigung vernachlässigt. Nur in der vom Subjekt vollzogenen Synthesis des Urteils macht dies Moment sich geltend; ohne die konstitutive Vermittlung durch Denken wären die vorgeblichen Idealgesetze auf Wirkliches gar nicht anwendbar; das ideale Sein hätte mit realem nicht einmal als dessen »Form« etwas zu tun. Was Husserl höchste Objektivität dünkt, die »über alles Empirische erhabene Logik«, wäre in solcher Erhabenheit zu bloßer Subjektivität verdammt: ihr Verhältnis zu Wirklichem stünde beim Zufall. Auch die plausible und gegenüber dem Empirismus triftige These, der Begriff der Wahrheit wäre aufgegeben, wenn man ihn durch die »Gemeinsamkeit der Natur« bestimmt, erweist sich als abstrakte Negation, als zu grob. Das Denken von Wahrheit erschöpft sich weder im sei's auch transzendentalen Subjekt noch in der reinen Idealgesetzlichkeit, sondern erheischt die Beziehung des Urteils auf Sachverhalte, und diese Beziehung – und damit die Objektivität der Wahrheit – begreift die denkenden Subjekte mit ein, die, indem sie die Synthesis vollbringen, zu dieser zugleich von der Sache her veranlaßt werden, ohne daß Synthesis und Nötigung voneinander sich isolieren ließen. Gerade die Objektivität der Wahrheit bedarf des Subjekts; von diesem getrennt, wird sie Opfer bloßer Subjektivität. Husserl sieht nur die starre Alternative zwischen dem empirischen, kontingenten Subjekt – und dem absolut notwendigen, von aller Faktizität reinen Idealgesetz: nicht aber, daß Wahrheit weder in jenem noch diesem aufgeht, sondern eine Konstellation von Momenten ist, die nicht als »Residuum« der subjektiven oder objektiven Seite sich zurechnen läßt. Er unterstellt in einem Versuch der reductio ad absurdum der »subjektivistischen« Logik, dieselben denkenden Wesen »wären und wären auch nicht«, wenn ihre Anlage ihnen verböte, »ihr eigenes Sein als wahrhaft seiend zu setzen«. Die Absurdität soll darin bestehen, daß solche Wesen, trotz ihres Defekts, eben doch »wären«. Aber ohne die Möglichkeit von Denken, der der Begriff von Subjekten immanent ist, wäre der logische Absolutismus selber sinnlos. Die scheinbar schlagende Absurdität kommt nur dadurch zustande, daß Husserl hier kontingente psychophysische Personen, dort logische Gesetze annimmt; über diese haben freilich die Personen unmittelbar keine Gewalt. Aber sie sind vermittelt durch einen Begriff von Subjektivität, der über die psychophysischen Individuen hinausgeht, ohne sie doch einfach zu durchstreichen, sondern der sie als Moment der eigenen Fundierung in sich bewahrt. So wenig die Wahrheit durch die bloße Faktizität subjektiver Organisation sich ausweist, so wenig durch eine Idealität, die einzig vermöge der Blindheit gegen ihre eigenen faktischen Implikate konstituiert wird. Die empiristische wie die idealistische Theorie verfehlen die Wahrheit, indem sie sie als ein Seiendes – Husserl nennt es »Sein« – festnageln: sie ist aber ein Kraftfeld. Gewiß, »man kann nicht Wahrheit relativieren und an der Objektivität des Seins festhalten«. Aber Husserl selbst setzt an Stelle solcher Objektivität ihren Abguß, die bloße Form ein, weil er Objektivität nicht anders denn als statisch-dinghaft zu fassen vermag.
Die Vergötzung der Logik als reines Sein erheischt die unbedingte Trennung von Genesis und Geltung: sonst würde das logisch Absolute mit Seiendem und nach dem Maßstab des Chorismos Kontingentem und Relativem versetzt. Husserl hat die Trennung polemisch gegen den Empirismus entwickelt. Ihm zufolge zeigt der Psychologismus der logischen Theorie »überall die Neigung, die psychologische Entstehung gewisser allgemeiner Urteile aus der Erfahrung, wohl vermöge dieser vermeintlichen ›Natürlichkeit‹, mit einer Rechtfertigung derselben zu verwechseln«51. Diese Klarstellung der Termini greift in die Sache selbst nicht eigentlich ein. Daraus, daß Entstehung und Rechtfertigung von Urteilen nicht miteinander zu »verwechseln« seien, sondern daß Geltung etwas anderes heißt als Genesis, folgt keineswegs, daß die Explikation des Sinnes von Geltungscharakteren nicht auf genetische Momente zurückverweise als auf ihre notwendige Bedingung, wie es übrigens der spätere transzendentalphilosophische Husserl stillschweigend konzediert hat, ohne doch die These des logischen Absolutismus ausdrücklich zu berichtigen. Soweit die Beziehung der logischen Geltung auf Genesis notwendig ist, gehört diese selber zu dem zu explizierenden, zu »erweckenden« logischen Sinn. Husserl hat die Antinomien, in welche der logische Psychologismus mündet, eindringlich und mit viel Autorität dargestellt. Aber die unvermittelte absolutistische Gegenposition verwickelt sich in kaum harmlosere. Zwei Auslegungen der absoluten, unabhängig von aller Genesis und damit endlich allem Seienden geltenden Logik sind möglich. Das Bewußtsein steht der Logik, den »Idealgesetzen« gegenüber. Will es ihren Anspruch nicht krud supponieren, sondern als begründet dartun, so müssen die logischen Gesetze dem Denken einsichtig sein. Dann muß aber das Denken sie als seine eigenen Gesetze, als sein eigenes Wesen erkennen; denn Denken ist der Inbegriff logischer Akte. Reine Logik und reines Denken wären voneinander unablösbar, der radikale Dualismus zwischen Logik und Bewußtsein würde aufgehoben und das Subjekt von Denken ginge in die Begründung der Logik mit ein. – Oder aber Husserl verzichtet, um der Reinheit des Absolutheitsanspruchs willen, auf die Begründung der Logik als der dem Denken immanenten und ihm als sein eigenes Wesen durchsichtigen Form. Dann aber wäre sie – wenn anders eine erkenntnistheoretische Redeweise auf höchst formale Sachverhalte übertragen werden darf – dem Bewußtsein bloß »phänomenal« gegeben und nicht »an sich« evident. Nicht als ein dem Bewußtsein bloß Erscheinendes und von ihm heteronom Hinzunehmendes, sondern als wahr wüßte das Bewußtsein die Logik nur, wenn sie selbst das Wissen des Bewußtseins wäre. Durch ihre lediglich registrierende Hinnahme, der eines »Phänomens« höherer Ordnung, mag zwar die Reinheit des logischen Apriori gerettet sein. Die Logik verliert aber zugleich den Charakter der unbedingten Gültigkeit, der für den logischen Absolutismus ebenso unverletzlich ist wie die ideale Reinheit. Ihre Gesetze gälten dann nur im Rahmen ihres »Erscheinens« und blieben dogmatisch, unausgewiesen, kontingent. Sie würden, paradox, zu Erfahrungsregeln: der Absolutismus schlüge in Empirismus um. Wenn dem Bewußtsein andere logische Gesetze »erschienen«, so müßte es diesen ebenso sich beugen wie denen der bestehenden Logik, und der Phänomenologe fände sich in eben jener Lage, deren Möglichkeit Husserl selbst einer Logik von Engeln abgesprochen hat52. Es könnten dann in der Tat, wie Husserl Erdmann zu konzedieren sich weigert, »andere Wesen ganz andere Grundsätze haben«53. Beide Interpretationen des absolutistischen Anspruchs führen in Aporien so gut wie die psychologistische Gegenposition. Logik ist kein Sein, sondern ein Prozeß, der weder auf einen Pol »Subjektivität« noch auf einen »Objektivität« sich rein reduzieren läßt. Die Selbstkritik der Logik hat zur Konsequenz die Dialektik.
Husserl jedoch pointiert den Gegensatz von Geltung und Genesis aufs äußerste: »Die Frage ist nicht, wie Erfahrung, die naive oder wissenschaftliche, entsteht, sondern welchen Inhalt sie haben muß, um objektiv gültige Erfahrung zu sein; die Frage ist, welches die idealen Elemente und Gesetze sind, die solche objektive Gültigkeit realer Erkenntnis (und allgemeiner: von Erkenntnis überhaupt) fundieren, und wie diese Leistung eigentlich zu verstehen ist. Mit anderen Worten: wir interessieren uns nicht für das Werden und die Veränderung der Weltvorstellung, sondern für das objektive Recht, mit dem sich die Weltvorstellung der Wissenschaft jeder anderen gegenüberstellt, mit dem sie ihre Welt als die objektiv-wahre behauptet.«54 Die These, daß es nicht darauf ankäme, wie Erfahrung entsteht, sondern welche Inhalte sie haben müsse, um objektiv gültige Erfahrung zu werden, sieht daran vorbei, daß der Inhalt von Erfahrung selber ein »Entstehen« ist, in dem subjektive und objektive Momente chemisch gleichsam sich verbinden. Das Urteil muß zugleich einen Sachgehalt ausdrücken und ihn durch Synthesis stiften. Nur wenn der immanente Spannungscharakter des Urteils verkannt wird, kann vom »Entstehen« des Inhalts abgesehen werden. In der Tat befaßt sich denn Husserl auch gar nicht, wie jene Sätze glauben machen, mit dem Inhalt, sondern bloß mit der abgezogenen Form des Urteils und weicht eben damit der Dynamik aus, die im logischen »Sachverhalt« selber spielt. Der Form-Inhalt-Dualismus ist das Schema von Verdinglichung. Husserl erklärt, »wir« – nämlich die zünftigen Logiker – interessierten uns nicht für das Werden, sondern für das objektive Recht wissenschaftlicher Weltvorstellung. So inthronisiert er hochmütig das von der wissenschaftlichen Arbeitsteilung diktierte »Interesse« als Kriterium der ontologischen Dignität vorgeblich unveränderlichen Seins gegenüber bloßem Werden. Das Wort »Interesse«, das ein willkürliches sich Hinwenden anzeigt, verrät gegen Husserls Absicht, daß jene Dignität nicht vom logischen Sachverhalt an sich, sondern von der »Einstellung« einer Wissenschaft herrührt, die um ihrer vermeintlichen Würde willen gegen den Zusammenhang der Erkenntnis zum Ganzen ängstlich sich abkapselt. Das Desinteressement des Logikers an der »Veränderung der Weltvorstellung« dankt allein dem Schillern von deren Begriff den Schein seiner Evidenz. Mit Recht bekümmert die Logik sich nicht um die Veränderung der Weltvorstellung als bloßer Vorstellung; mit Unrecht jedoch, soweit diese Vorstellung von der Veränderung der Welt ist. Das »objektive Recht, mit dem sich die Weltvorstellung der Wissenschaft jeder anderen gegenüberstellt«, hat nicht, wie Husserl es möchte, seinen gottgewollten Grund in der »Idee der Wissenschaft«, sondern findet Maß und Grenze am Vermögen der Wissenschaft, ihren Gegenstand zu erkennen. Dazu hilft ihr die Arbeitsteilung und verhindert sie daran. Husserls starrer Objektivismus des Logischen bewährt sich als ein sich selbst verborgener Subjektivismus auch insofern, als die Idee der Wissenschaft, das vom menschlichen Bewußtsein den Gegenständen auferlegte Ordnungsschema, behandelt wird, als wäre das in diesem Schema angezeigte Bedürfnis die Ordnung in den Gegenständen selbst. Jede statische Ontologie hypostasiert naiv das Subjektiv-Kategoriale.
Husserl macht es sich darum mit seiner Polemik gegen die genetische Auffassung der Logik so leicht, weil er sie einengt auf den »Psychologismus«. Die genetische Interpretation der logischen Gesetze müsse auf die Bewußtseinsvorgänge im psychologischen Subjekt, im einzelmenschlichen Individuum als auf ihr letztes Substrat rekurrieren. Das erlaubt ihm recht wohl, den Unterschied zwischen der psychologischen Fundierung in individuellen Bewußtseinsakten und der Objektivität des logischen Gehalts hervorzukehren. Aber die implizite Genesis des Logischen ist gar nicht die psychologische Motivation. Sie ist ein gesellschaftliches Verhalten. In den logischen Sätzen schlagen Durkheim zufolge gesellschaftliche Erfahrungen wie die Ordnung von Generations- und Eigentumsverhältnissen sich nieder, welche den Vorrang über Sein und Bewußtsein des einzelnen behaupten. Verbindlich zugleich und dem Einzelinteresse entfremdet, treten sie dem psychologischen Subjekt stets als ein an sich Geltendes, Zwingendes, und doch wiederum auch Zufälliges gegenüber – ganz so, wie es bei Husserl gegen seinen Willen den »Sätzen an sich« widerfährt. Die Gewalt des logischen Absolutismus über die psychologische Begründung der Logik ist der Objektivität des die einzelnen unter sich zwingenden und ihnen zugleich undurchsichtigen gesellschaftlichen Prozesses abgeborgt. Husserls wissenschaftliche Besinnung nimmt im Angesicht dieses Gesellschaftlichen unreflektiert die Position des Individuums ein. Wie das vorkritische Bewußtsein die Dinge, erhöht er die Logik zu einem an sich Seienden. Damit drückt er richtig aus, daß die Denkgesetze des Individuums – psychologisch gesprochen, des Ichs, dessen Kategorien ja der Realität zugewandt, in Wechselwirkung mit dieser gebildet und insofern »objektiv« sind – ihre Objektivität nicht vom Individuum empfangen. Verzerrt dringt die Einsicht von der Vorgeordnetheit der Gesellschaft gegenüber dem Individuum durch. Dessen Priorität, die Selbsttäuschung des traditionellen Liberalismus, wird von Husserls nachliberaler Konzeption erschüttert. Aber die Ideologie behält gleichwohl ihre Macht über ihn. Der undurchschaute gesellschaftliche Prozeß verklärt sich ihm zur Wahrheit schlechthin, seine Objektivität wird transfiguriert in eine geistige, ins ideale Sein der Sätze an sich.
Der Einwand der Rückbeziehung der Logik auf Denken und damit auf Seiendes liegt zu nahe, als daß er Husserl nicht hätte begegnen müssen. »Man wird nicht einwenden, daß in aller Welt die Rede von logischen Gesetzen nicht hätte aufkommen können, wenn wir nie Vorstellungen und Urteile im aktuellen Erlebnis gehabt und die betreffenden logischen Grundbegriffe aus ihnen abstrahiert hätten; oder gar, daß in jedem Verstehen und Behaupten des Gesetzes die Existenz von Vorstellungen und Urteilen impliziert, also daraus wieder zu erschließen sei. Denn kaum braucht gesagt zu werden, daß hier die Folge nicht aus dem Gesetz, sondern aus dem Verstehen und Behaupten des Gesetzes gezogen ist, daß dieselbe Folge aus jeder beliebigen Behauptung zu ziehen wäre, und daß psychologische Voraussetzungen oder Ingredienzien der Behauptung eines Gesetzes nicht mit logischen Momenten seines Inhaltes vermengt werden dürfen.«55 Was »kaum gesagt zu werden braucht«, gleitet über die zentrale Schwierigkeit hinweg. Denn es handelt sich nicht um ein bloß subjektives, vom Sachverhalt unabhängiges und beliebig vollziehbares »Verstehen und Behaupten« des Gesetzes. Sondern der Anspruch von dessen Absolutheit kommt gleich dem seiner Richtigkeit, und diese ist in der Tat anders als an aktuellen »Vorstellungen und Urteilen« nicht zu gewinnen. Dem »Gesetz« läßt nicht dessen »Verstehen und Behaupten« als irrelevante Verhaltensweise des Zuschauers dort sich kontrastieren, wo das Gesetz als »Denkgesetz« verlangt, gedacht zu werden, um sich zu legitimieren, und wo es einzig als Gesetz für Denken – und »Verstehen« – ausgesprochen werden kann. Der Fehler des logischen Psychologismus ist es, unmittelbar aus Psychisch-Tatsächlichem die Gültigkeit der logischen Sätze abzuleiten, die gegenüber dem faktischen psychischen »Leisten« sich verselbständigt haben. Aber die Sinnanalyse der logischen Struktur selber erzwingt die Rückfrage auf Denken. Keine Logik ohne Sätze; kein Satz ohne die synthetische Denkfunktion. Husserl hat die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, daß die psychologische Voraussetzung zur Behauptung eines Gesetzes mit seiner logischen Geltung nicht vermengt werden darf. Wohl aber sind die logischen Gesetze nur dann »sinnvoll«, können nur dann erkannt werden, wenn ihnen die Anweisung auf Denkakte innewohnt, die sie einlösen. Der Sinn der Logik selber fordert Faktizität. Anders ist sie nicht vernünftig zu begründen: ihre Idealität ist kein reines An sich, sondern muß immer auch ein Für anderes sein, wenn sie überhaupt irgend etwas sein soll. Im Recht ist Husserl, wenn er fürs entfaltete wissenschaftliche Bewußtsein und den irrevokablen Stand der Entfremdung die unmittelbare Identität von Einsicht und Sachverhalt, Genesis und Geltung bestreitet; im Unrecht, wenn er die Differenz hypostasiert.
Husserl bleibt dabei nicht stehen. Er entfaltet seine Kritik an den logischen Hauptprinzipien, dem Satz vom Widerspruch und dem von der Identität. Für die psychologische Fehlinterpretation des Satzes vom Widerspruch stehen ihm insbesondere Heymans und Sigwart ein, dessen Logik Husserl die Formulierung entnimmt, »daß es unmöglich ist, mit Bewußtsein denselben Satz zugleich zu bejahen und zu verneinen«. Husserl argumentiert weiter gegen die Begründung des Satzes vom Widerspruch aus der Unmöglichkeit der psychologischen Koexistenz, wie sie in Mills Schrift gegen Hamilton und in der Logik von Höfler und Meinong vorliegt. Wiederum ist das Verfahren sprachkritisch, die gut Aristotelische Analyse von Äquivokationen: »Der Terminus Denken, der in weiterem Sinne alle intellektiven Betätigungen befaßt, wird im Sprachgebrauch vieler Logiker mit Vorliebe in Beziehung auf das vernünftige ›logische‹ Denken, also in Beziehung auf das richtige Urteilen gebraucht. Daß sich im richtigen Urteilen Ja und Nein ausschließen, ist evident, aber damit ist auch ein mit dem logischen Gesetz äquivalenter, nichts weniger als psychologischer Satz ausgesprochen. Er besagt, daß kein Urteilen ein richtiges wäre, in welchem derselbe Sachverhalt zugleich bejaht und verneint würde; aber mit nichten sagt er irgend etwas darüber, ob – gleichgültig ob in einem Bewußtsein oder in mehreren – kontradiktorische Urteilsakte realiter koexistieren können oder nicht.«56 Die Koexistenz von kontradiktorischen Urteilen wäre also nur einem Denken unmöglich, dessen »Korrektheit« bereits voraussetzt, daß es dem Satz vom Widerspruch gemäß verfährt, der demnach nicht aus der Unmöglichkeit jener Koexistenz abzuleiten ist. Aber die Unterscheidung von Denken schlechthin und logischem Denken, die am Resultat, den widerspruchsfreien Sätzen, so schneidend gerät, stellt der Reflexion auf den Denkprozeß nicht ebenso unproblematisch sich dar. Die logischen Grundsätze kristallisieren sich nicht nur vom objektiven Pol her, unterm Zwang logischer »Sachverhalte«, sondern diese kommen zugleich durch Bedürfnisse und Tendenzen des denkenden Bewußtseins zustande, die in der logischen Ordnung sich widerspiegeln. »Die Allgemeinheit der Gedanken, wie die diskursive Logik sie entwickelt, die Herrschaft in der Sphäre des Begriffs, erhebt sich auf dem Fundament der Herrschaft in der Wirklichkeit.«57 Die geschichtliche Entwicklung jener Allgemeinheit des Denkens ist eben die seiner logischen »Richtigkeit«; nur kontemplative Willkür könnte beides isolieren. Richtigkeit selbst ist nur als entspringende, als Konsequenz des entfalteten Denkens. Wenn aber Denken und richtiges Denken nicht derart semantisch unterschieden werden können, wie Husserl behauptet, dann ist auch für die Logik die Frage der möglichen Koexistenz kontradiktorischer Urteile nicht so gleichgültig, wie er es möchte. Er hat es darum so leicht, weil er mit den psychologischen Logikern die These von der Unmöglichkeit jener Koexistenz teilt und lediglich bestreitet, sie habe etwas mit der Geltung des Satzes vom Widerspruch zu tun. Wird ihm das nicht länger zugestanden, also dem Ursprung von Denken, der »Urgeschichte der Logik« nachgefragt, so ist die Möglichkeit der Koexistenz von Kontradiktorischem in faktischen Urteilen nicht länger irrelevant. Die psychologische These von der Unmöglichkeit der Koexistenz ahmt naiv den Satz nach, der gleiche Ort im Raum könne nicht gleichzeitig von zwei Materien besetzt sein. Ein solcher »Punkt« im Bewußtseinsleben ist, wie die Kritik der punktuellen Auffassung reiner Gegenwart längst dargetan hat, fiktiv. Das Denken von Widersprechendem scheint der Sonderung vorauszugehen. Genetisch stellt die Logik sich dar als Versuch zur Integration und festen Ordnung des ursprünglich Vieldeutigen, als entscheidender Schritt der Entmythologisierung58. Der Satz vom Widerspruch ist eine Art Tabu, verhängt übers Diffuse. Seine absolute Autorität, auf der Husserl insistiert, entstammt gerade der Tabuierung, also der Verdrängung übermächtiger Gegentendenzen. Er hat, als »Denkgesetz«, ein Verbot zum Inhalt: denke nicht zerstreut, laß dich nicht ablenken durch unartikulierte Natur, sondern halte die Einheit des Gemeinten fest wie einen Besitz. Kraft der Logik entringt sich das Subjekt der Verfallenheit ans Amorphe, Unbeständige, Vieldeutige, indem es der Erfahrung sich selbst, die Identität des sich am Leben erhaltenden Menschen als Form aufprägt und an Aussagen über die Natur nur soviel gelten läßt, wie von der Identität jener Formen einzufangen ist. Solcher Interpretation der Logik wäre die Geltung, Rationalität selbst, nicht länger irrational, kein unbegreifliches und bloß hinzunehmendes An sich, sondern die über alles Dasein mächtige Forderung ans Subjekt, nicht in Natur zurückzufallen, nicht zum Tier zu werden und jenes Geringe zu verlieren, wodurch der Mensch, sich selbst perpetuierendes Naturwesen, über Natur und Selbsterhaltung wie immer ohnmächtig doch hinausreicht. Zugleich aber ist die logische Geltung objektiv, indem sie, um Natur beherrschen zu können, dieser sich anmißt. Jede logische Synthesis wird von ihrem Gegenstand erwartet, aber ihre Möglichkeit bleibt abstrakt und wird einzig vom Subjekt aktualisiert. Beide bedürfen einander. Im logischen Absolutismus ist mit Grund angemeldet, daß die Geltung, oberstes Instrument der Naturbeherrschung, in dieser nicht sich erschöpft. Was in der logischen Synthesis von Menschen getan, was zusammengebracht wird, bleibt nicht nur der Mensch, nicht die leere Form von dessen Willkür. Sondern vermöge der Gestalt dessen, worauf die Synthesis sich erstreckt, und was ohne diese sich verflüchtigte, reicht die Synthesis übers bloße Tun hinaus. Urteilen heißt Ordnen und mehr als bloß Ordnen in eins.
Im Gefolge der Tradition behandelt Husserl den Satz vom Widerspruch und den Identitätssatz unabhängig voneinander. Beim letzteren sucht er die Geltung der logischen Sätze zumal von ihrem normativen Charakter abzusondern. »Das Normalgesetz soll die absolute Konstanz der Begriffe als erfüllt voraussetzen? Dann würde das Gesetz also nur Geltung unter der Voraussetzung haben, daß die Ausdrücke allzeit in identischer Bedeutung gebraucht werden, und wo diese Voraussetzung nicht erfüllt ist, verlöre es auch seine Geltung. Dies kann nicht die ernstliche Überzeugung des ausgezeichneten Logikers« – Sigwarts – »sein. Natürlich setzt die empirische Anwendung des Gesetzes voraus, daß die Begriffe, bezw. Sätze, welche als Bedeutungen unserer Ausdrücke fungieren, wirklich dieselben sind, so wie der ideale Umfang des Gesetzes auf alle möglichen Sätzepaare entgegengesetzter Qualität, aber identischer Materie geht. Aber natürlich ist dies keine Voraussetzung der Geltung, als ob diese eine hypothetische wäre, sondern die Voraussetzung möglicher Anwendung auf vorgegebene Einzelfälle. So wie es die Voraussetzung der Anwendung eines Zahlengesetzes ist, daß uns gegebenenfalls eben Zahlen vorliegen, und zwar Zahlen von solcher Bestimmtheit, wie es sie ausdrücklich bezeichnet, so ist es Voraussetzung des logischen Gesetzes, daß uns Sätze vorliegen, und zwar verlangt es ausdrücklich Sätze identischer Materie.«59 Was Husserl »Voraussetzung« nennt, daß nämlich die Ausdrücke in identischer Bedeutung verwandt würden, ist nichts anderes als der Inhalt des Satzes selbst; wo sie nicht erfüllt ist, verlöre in der Tat ein Gesetz seine Geltung, das ihre bloße Tautologie darstellt. Gewiß ist der Satz der Identität keine »Hypothese«, die verifiziert oder falsifiziert würde, je nachdem ob die Bedeutungen der Ausdrücke festgehalten werden oder nicht. Aber ohne die Konfrontation des Ausdrucks mit identischer oder nichtidentischer »Materie« läßt der Satz der Identität überhaupt nicht sich formulieren. Husserl verschiebt das Problem, indem er die normative Auffassung des Identitätssatzes als dessen Herabwürdigung zur Hypothese angreift. Die Frage ist jedoch nicht, ob er durch den ihm impliziten Verweis auf die Sätze, die ihm unterstehen, relativiert werde, sondern ob er nicht vielmehr ohne solchen Rückverweis zur sinnleeren Aussage verkommt. »Ich verstehe also unter dem Princip der Identität nicht einen ›Grundsatz‹, der als wahr anzuerkennen wäre, sondern eine Forderung, die zu erfüllen oder unerfüllt zu lassen in unserer Willkür steht, ohne deren Erfüllung aber ... der Gegensatz von Wahrheit und Irrtum unserer Behauptungen seinen Sinn verliert. Der vermeintliche logische Grundsatz der Identität nämlich, den man in dem angeblich selbstverständlichen, ›tautologischen‹ Satz ›a ist a‹ zu formulieren pflegt, drückt durchaus nicht eine selbstverständliche und über jeden Zweifel erhabene, unbeweisbare und unerklärbare, letzte und geheimnisvolle Wahrheit aus, sondern die Wahrheit dieses Satzes ist ihrerseits abhängig von der Erfüllung des Identitätsprincips im obigen Sinne, d.h. von der Erfüllung der Forderung des Festhaltens der Bedeutung der Bezeichnungen, und ist eine Folge der Erfüllung dieser Forderung. Wird diese Forderung hinsichtlich des Zeichens a nicht erfüllt, so ist auch der Satz ›a ist a‹ nicht mehr richtig; denn wenn wir in diesem Satz das zweitemal unter a nicht dasselbe verstehen wie das erstemal, so ist das erste a eben nicht das zweite a, d.h. der Satz ›a ist a‹ gilt dann nicht mehr.«60 Der Identitätssatz ist danach kein Sachverhalt, sondern eine Regel, wie zu denken sei, die losgelöst von den Akten, für die sie aufgestellt wird, in der Luft hinge: ihre Bedeutung begreift die Beziehung auf jene Akte ein. Gemeint ist offenbar von Husserl, daß der identische Gebrauch der Termini auf die Seite der Faktizität gehöre und daß unabhängig davon der Identitätssatz eine ideale Geltung »an sich« habe. Aber diese Geltung wäre doch in seiner Bedeutung zu suchen, und er bedeutet nichts, es sei denn, wo tatsächlich Termini gebraucht werden. Übrigens würde bereits die von Husserl unbestrittene, aber bagatellisierte »Voraussetzung des logischen Gesetzes, daß uns Sätze vorliegen«, hinreichen, den logischen Absolutismus zu entkräften, sofern nur all ihre Implikationen verfolgt würden.
Davon wird Husserl abgehalten durch einen horror intellectualis vorm Zufälligen. Kontingenz ist ihm so unerträglich wie der bürgerlichen Frühzeit, deren theoretische Impulse bei ihm am Ende, sublimiert durch jegliche Reflexion, nochmals aufflackern. An Kontingenz hat alle bürgerliche – alle erste – Philosophie vergebens sich abgemüht. Denn eine jegliche versucht ein real in sich antagonistisches Ganzes zu versöhnen. Den Antagonismus bestimmt das philosophische Bewußtsein als den von Subjekt und Objekt. Weil es ihn an sich nicht aufheben kann, trachtet es, ihn für sich fortzuschaffen: durch Reduktion von Sein auf Bewußtsein. Diesem heißt Versöhnung: alles sich gleichmachen, und das ist zugleich der Widerspruch von Versöhnung. Kontingenz aber bleibt das Menetekel der Herrschaft. Diese ist insgeheim stets, wozu sie am Ende offen sich bekennt: totalitär. Was nicht ist wie sie, das schwächste Ungleichnamige, das subsumiert sie als Zufall. Was einem zufällt, darüber hat man keine Gewalt. Die gleichviel an welcher Stelle aufspringende Kontingenz straft die Allherrschaft des Geistes Lügen, seine Identität mit dem Stoff. Sie ist die verstümmelte, abstrakte Gestalt des An sich, von dem das Subjekt alles Kommensurable an sich gerissen hat. Je rücksichtsloser es auf der Identität besteht, je reiner es seine Herrschaft zu befestigen trachtet, um so mehr wächst der Schatten der Nichtidentität an. Die Drohung der Kontingenz wird von dem ihr feindlichen reinen Apriori, das sie beschwichtigen soll, bloß befördert. Der reine Geist, der mit dem Seienden identisch sein will, muß, um der Illusion der Identität, der Indifferenz zwischen Subjekt und Objekt willen sich vollständiger stets auf sich selbst zurücknehmen, mehr stets weglassen. Nämlich alles Faktische. »Es ist nun klar, daß in diesem prägnanten Sinne jede Theorie logisch widersinnig ist, welche die logischen Prinzipien aus irgendwelchen Tatsachen ableitet.«61 Die prima philosophia als Residualtheorie der Wahrheit, die sich stützt auf das, was an unbezweifelbar Gewissem ihr zurückbleibt, hat zum Komplement das ihr widerspenstige Kontingente, das sie doch ausscheiden muß, um den Anspruch der eigenen Reinheit nicht zu gefährden, und je rigoroser der Aprioritätsanspruch sich selber auslegt, desto weniger entspricht diesem Anspruch, desto mehr wird ins Reich des Zufalls hinabgestoßen. Darum schließt die Allherrschaft des Geistes allemal auch dessen Resignation ein. Gleichwohl ist die Unlösbarkeit des »Problems der Kontingenz«, das Nichtaufgehen des Seienden in seiner begrifflichen Bestimmung zugleich Trug. Kontingenz reicht nur soweit, wie Vernunft mit dem Herrschaftsanspruch sich solidarisiert und nichts duldet, was sie nicht einfängt. An der Unauflöslichkeit der Kontingenz kommt der falsche Ansatz der Identitätsphilosophie zutage: daß die Welt nicht als Produkt des Bewußtseins gedacht werden kann. Nur im Verblendungszusammenhang hat die Kontingenz ihre Schrecken; dem Denken, das diesem Zusammenhang entronnen wäre, würde das Kontingente zu dem, woran es sich stillt und worin es erlischt. Husserl aber wird zur Sisyphusarbeit an der Bewältigung der Kontingenz genötigt in dem Augenblick, da die Einheit der bürgerlichen Gesellschaft als eines sich selbst produzierenden und reproduzierenden Systems, wie sie auf der Hegelschen Höhe visiert war, zerbricht. Ihm zufolge gibt es in den »wissenschaftlichen Begründungszusammenhängen«, die das Modell seiner gesamten Philosophie ausmachen, keinen »Zufall«, »sondern Vernunft und Ordnung, und das heißt: regelndes Gesetz«62. Nirgends überträgt er verhängnisvoller als hier eine vorgegebene einzelwissenschaftliche Methode auf das Ganze. Er glaubt, die Skepsis aus den Angeln heben zu können, weil sie die Gesetze leugnet, »welche den Begriff der theoretischen Einsicht wesentlich konstituieren«63, den »konsistenten Sinn«64 von Termini wie Theorie, Wahrheit, Gegenstand, Beschaffenheit. Sie hebe damit sich selbst logisch auf, insofern sie ihrem Inhalt nach Gesetze bestreitet, »ohne welche Theorie überhaupt keinen ›vernünftigen‹ (konsistenten) Sinn hätte«65. Aber es ist nicht ausgemacht, daß, was doch keineswegs vorweg als mathematische Mannigfaltigkeit definiert ist, in sich konsistent sei und der Form der reinen Widerspruchslosigkeit Genüge tue. Nur aus dem mathematischen Ideal des Begründungszusammenhangs wird der Philosophie, die danach sich zu richten habe, der Ausschluß von Kontingenz auferlegt, während sie erst selber darüber zu befinden hätte, ob sie nicht dadurch auf vorkritischen Rationalismus regrediert. Diese Besinnung wird von Husserl nicht mehr vollzogen. Bei ihm werden die zu reinen Formen verdünnten Ideen des Wirklichen nirgendwo mehr Herr. Nirgends gehen sie in es ein, nirgends reflektieren sie es in sich. Die Menschen selber sind demzufolge, als ein Stück Wirklichkeit, der Idee gegenüber kontingent und werden aus dem Paradies der prima philosophia, dem Reich ihrer eigenen Vernunft, verjagt. Hat in der Geschichte der neueren Philosophie die Kontingenz, als Skepsis, die Ideen in ihren Strudel hineingerissen, so verfährt Husserl nun buchstäblich nach dem Diktum, daß, wenn die Fakten der Idee nicht gehorchen, es um so schlimmer für die Fakten sei. Sie werden für nicht philosophiefähig erklärt und ignoriert. Über dem Konkretionsbegriff der neueren anthropologischen Philosophien liegt das ironische Zwielicht, daß die Theorie, welche die »materiale« Wendung inaugurierte, mit dem Formalismus ihrer Idee von Wahrheit weit den Kantischen überbot, gegen den das Schelersche Feldgeschrei ging. Die materialen Wesenheiten, auf welche die Deskription später, tendenziell aber schon bei Husserl selber sich richtete, sind eben von jenem Seienden unerreichbar, zu dem zurückzukehren sie prätendieren, und daher ist alle phänomenologische Konkretion schattenhaft. Die Not der Kontingenz des Faktischen im Idealismus wird von Husserl umgedeutet in die Tugend der Reinheit der Idee. Die Ideen bleiben zurück als caput mortuum des vom Geist verlassenen Lebens.
Die materialen Einzelwissenschaften werden rückhaltlos empiristisch aufgefaßt: »Das Gebiet des Psychischen ist eben ein Teilgebiet der Biologie.« Je höher die Anforderungen an die Apriorität geschraubt werden, um so vollkommener wird Empirie entzaubert, etwa wie der Bürger die Liebe nach dem Schema Heilige oder Dirne einrichtet. In Variation der Kantischen Formel könnte die Lehre der Prolegomena logischer Absolutismus, empirischer Relativismus heißen. Von der intersubjektiven Welt wird darin gehandelt im Stil der Wissenssoziologie: »Nach psychologischen Gesetzen erwächst, auf Grund der im Rohen übereinstimmenden ersten psychischen Kollokationen, die Vorstellung der einen, für uns alle gemeinsamen Welt und der empirisch-blinde Glaube an ihr Dasein. Aber man beachte wohl: diese Welt ist nicht für jeden genau dieselbe, sie ist es nur im großen und ganzen, sie ist es nur so weit, daß die Möglichkeit gemeinsamer Vorstellungen und Handlungen praktisch zureichend gewährleistet ist. Sie ist nicht dieselbe für den gemeinen Mann und den wissenschaftlichen Forscher; jenem ist sie ein Zusammenhang von bloß ungefährer Regelmäßigkeit, durchsetzt von tausend Zufällen, diesem ist sie die von absolut strenger Gesetzlichkeit durchherrschte Natur.«66 Solcher Relativismus ist alles eher als Aufklärung. Im Gedanken an die »absolut strenge Gesetzlichkeit« macht er es sich allzuleicht mit den »tausend Zufällen«, die gar keine sind. Für den Forscher ist der Zufall der peinliche Rest, der am Boden seiner Begriffe sich absetzt, für den »gemeinen Mann«, dessen Namen Husserl ohne Zögern über die Lippen bringt, das, was ihm zustößt und wogegen er wehrlos ist. Der Forscher bildet sich ein, der Welt das Gesetz vorzuschreiben; der »gemeine Mann« muß jenem Gesetz praktisch gehorchen. Dafür kann er nichts, und es mag ihn mit Recht zufällig bedünken, aber daß die Welt aus solchen besteht, die dergleichen Zufällen ausgeliefert sind, und anderen, die sich, wenn sie schon nicht das Gesetz machen, an dessen Existenz trösten können, ist kein Zufall, sondern selber das Gesetz der realen Gesellschaft. Keine Philosophie, welche die »Weltvorstellung« erwägt, dürfte darüber sich hinwegsetzen. Husserl jedoch eröffnet die Preisgabe der Empirie nicht die ungeschmälerte Einsicht in dergleichen Zusammenhänge, sondern er wiederholt achselzuckend das ausgelaugte Vorurteil, es käme alles auf den Standpunkt an. Mit der Erkenntnis des Faktischen wird es nicht so genau genommen, weil sie ohnehin mit dem Mal der Zufälligkeit behaftet bleibe. Die Wirklichkeit wird Objekt des bloßen Meinens. Kein bündiges Kriterium soll an sie heranreichen. Diese Bescheidenheit ist falsch wie ihr Komplement, die Hybris des Absoluten. Husserl überschätzt die Zufälligkeit des Bewußtseinslebens nicht minder als umgekehrt das Ansichsein der Denkgesetze. Die abstrakte Reflexion darauf, daß alles Faktische »auch anders sein könnte«, betrügt über die allgemeinen Bestimmungen, denen unterliegt, daß es nicht anders ist.
Die Preisgabe der Welt als des Inbegriffs solcher kontingenten Faktizität impliziert bereits den Widerspruch der beiden maßgebenden Motive von Husserls Philosophie, des phänomenologischen und des eidetischen. Der Ausschluß des Mundanen führt nach dem altgewohnten Cartesianischen Schema auf das Ich, dessen Bewußtseinsinhalte, als unmittelbar gewiß, schlechterdings hinzunehmen sein sollen. Aber das Ich, das die Einheit des Denkens konstituiert, gehört selbst eben der Welt an, die um der Reinheit der logischen Denkformen willen ausgeschlossen werden soll. Darüber reflektiert Husserl: »Es gäbe also keine Welt an sich, sondern nur eine Welt für uns oder für irgendeine andere zufällige Spezies von Wesen. Das wird nun manchem trefflich passen; aber bedenklich mag er wohl werden, wenn wir darauf aufmerksam machen, daß zur Welt auch das Ich und seine Bewußtseinsinhalte gehören. Auch das ›Ich bin‹ und ›Ich erlebe dies und jenes‹ wäre eventuell falsch; gesetzt nämlich, daß ich so konstituiert wäre, diese Sätze auf Grund meiner spezifischen Konstitution verneinen zu müssen. Und es gäbe nicht bloß für diesen oder jenen, sondern schlechthin keine Welt, wenn keine in der Welt faktische Spezies urteilender Wesen so glücklich konstituiert wäre, eine Welt (und darunter sich selbst) anerkennen zu müssen.«67 Die Absurdität kommt jedoch einzig dadurch zustande, daß ein Glied der Argumentationsreihe isoliert und am bereits vorgegebenen logischen Absolutismus gemessen wird. Gewiß wären die logischen Grundsätze nicht »falsch«, wenn die Menschengattung ausstürbe. Wohl jedoch wären sie ohne den Begriff eines Denkens, für das sie gelten, weder falsch noch richtig: es könnte von ihnen überhaupt nicht die Rede sein. Denken aber erheischt ein Subjekt, und aus dessen Begriff läßt ein wie immer auch geartetes faktisches Substrat sich nicht austreiben. Die von Husserl als »artiges Spiel« verhöhnte Möglichkeit – »aus der Welt entwickelt sich der Mensch, aus dem Menschen die Welt; Gott schafft den Menschen, und der Mensch schafft Gott«68 – kann nur einem starr-polaren, im Hegelschen Sinn abstrakten Denken schreckvoll erscheinen. Sie bietet einen zwar kruden und naturalistischen, aber keineswegs unsinnigen Einsatz für dialektisches Denken, welches Mensch und Welt nicht als feindliche Brüder hinstellt, deren einer gegenüber dem anderen das Recht der Erstgeburt um jeden Preis zu behaupten hat, sondern sie als wechselseitig sich produzierende und auseinandertretende Momente des Ganzen entwickelt. Husserls Haß gegen die Skepsis wie gegen die von ihm mit dieser verwechselte Dialektik drückt eine Bewußtseinslage aus, in der die Verzweiflung über den Verlust der statischen Konzeption von Wahrheit alle Theorien brandmarkt, die jenen Verlust bezeugen, anstatt daß darüber reflektiert würde, ob im Verlust selbst nicht ein Defekt des traditionellen Wahrheitsbegriffs zutage kommt. Denn aller Relativismus zehrt von der Konsequenz des Absolutismus. Indem der je einzelnen und beschränkten Erkenntnis aufgebürdet wird, sie müsse schlechterdings und unabhängig von jeder weiteren Bestimmung gelten, wird eine jegliche mühelos der eigenen Relativität überführt. Reine Subjektivität und reine Objektivität sind die obersten solcher isolierten und darum inkonsistenten Bestimmungen. Daß Erkenntnis ausschließend aufs Subjekt oder aufs Objekt soll reduziert werden können, erhebt die Isolierbarkeit, das Zerlegen, zum Gesetz der Wahrheit. Das ganz Isolierte ist die bloße Identität, die in nichts über sich hinausweist, und die integrale Reduktion aufs Subjekt oder aufs Objekt verkörpert das Ideal solcher Identität. Die Unwahrheit des Relativismus ist nichts anderes, als daß er auf der an sich richtigen negativen Bestimmung alles Einzelnen beharrt, anstatt von ihr weiterzugehen. In diesem Bestehen auf dem Schein ist er so absolutistisch wie der Absolutismus: ist die Erkenntnis nicht unbedingt, so soll sie sogleich hinfällig sein. Es wird, mit einem Gestus, der nicht umsonst an das biphasische Denken mancher Psychotiker gemahnt, zweiwertig, nach dem Schema Alles oder Nichts geurteilt. Husserl versteht sich nur allzu gut mit den von ihm erkorenen Gegnern. Beide haben unablässig gegeneinander, als »Standpunktphilosophen«, wie Husserl69 gleich Hegel sie ablehnt. Recht: er, indem er den Gegnern demonstriert, daß ihre Wahrheitskriterien Wahrheit selbst auflösen; jene, indem sie ihn daran mahnen, daß Wahrheit, die jenen Kriterien sich entzieht, ein Hirngespinst sei. Seine Kritik ist aber darum ohne Gewalt, weil das Anderssein-Können der Faktizität eine bloße Möglichkeit darstellt, während in der so und nicht anders beschaffenen Verfahrungsweise des Denkens die Notwendigkeit, einem Objekt gerecht zu werden, und damit ein Moment von Objektivität selber sich niedergeschlagen hat. Der Begriff von Objektivität, dem der logische Absolutismus die Welt zum Opfer bringt, kann nicht verzichten auf den Begriff, an dem Objektivität überhaupt ihr Modell hat, den eines Objekts, der Welt.