Alban Berg: Violinkonzert
Von den Stücken der zweiten Wiener Schule ist Alban Bergs Violinkonzert sicherlich eines der meist aufgeführten und, wenn man so sagen darf, populärsten. Das hat es seiner Leichtverständlichkeit oder zumindest deren Ruf zu verdanken. Er kann sich auf kompositorische Tatbestände stützen. Die gewählte Reihe hat Berg ausgiebig jene tonalen Einschläge gestattet, an denen es nirgends bei ihm fehlt, und zugleich dafür gesorgt, daß sie mit der Konstruktion verschmolzen. Reiche Formerfahrung bewog den späten Berg, Kongruenz von Verfahrungsweise und Material anzustreben. Der Doppelsinn des Materials, als eines zwölftönigen und zugleich quasi-tonalen – in der Reihe wie im ganzen Werk ist die Gravitation nach B-Dur und g-moll unverkennbar – teilt der Gesamtstruktur sich mit. Die Polyphonie ist vielfach in vertikale Terzenbildungen eingelassen, akkordisch integriert. Dem ist die kompositorische peinture verwandt. Musiksprachlich, der Syntax nach benutzt das Gewebe alle Kategorien der Tradition, wie rückschauend darüber verfügend. Durch eine von der Großarchitektur bis in die kleinsten Einheiten getriebene Artikulation der Form wird der musikalische Sinn jegliches Erscheinenden so unmißverständlich wie nur möglich. Planvolle Deutlichkeit scheint, zusammen mit dem expressiv-programmatischen Charakter des Ganzen, den Zugang auch solchen zu garantieren, die sonst vor der Schönbergschule zurückscheuen. Anstelle der üblichen Vorwürfe produziert das Violinkonzert den einer konservativen Rückwendung.
Keineswegs jedoch sind die Wiedergaben des Werks so unproblematisch, wie die Partitur zunächst erwarten läßt. Die verfügbaren Schallplatten zeigen durchweg, bei keineswegs exzessiven virtuosen Ansprüchen, Unzulänglichkeiten im Detail, die sich bis zur Schwelle des Nonsens summieren. Objektiv unverständlich ist freilich auch die vorherrschende Interpretation der meisten traditionellen Musik. Nur wird sie dort weniger kraß bemerkbar; zeitigt sogar als Allvertrautes häufig den Schein von Verständlichkeit, so wie in der Sprache den Zeitungslesern die Phrase verständlicher dünkt als der streng geprägte Ausdruck. Aber Berg stellt der Wiedergabe Fallen besonderer Art. Um die diffusen Kräfte des neuen Materials und seiner eigenen musikalischen Anschauungsweise zu bändigen, zielt er auf eine kompositorische Überartikulation, hinter der die Interpreten leicht zurückbleiben, wofern sie sie nicht durch Übertreibung ins Absurde verkehren. Die Bergische Spannung zwischen den Polen des Chaotischen und des durchsichtig Gegliederten erschwert es ungemein, das eine zu treffen, ohne das andere zu verraten. Auf dem trüben Mittelweg ist vom Kraftfeld der Komposition wenig mehr zu fühlen.
Man mag das mit Rücksicht auf das Violinkonzert genauer formulieren, indem man seiner Paradoxie sich versichert. Durchweg sollte die wahre Interpretation ausgehen von den antagonistischen Forderungen der Werke; als Problem eines jeden visieren, was die sachgerechte Wiedergabe eigentlich verbietet. Nur in der Erkenntnis ihrer eigenen Unmöglichkeit wird authentische Interpretation überhaupt möglich. An wenig Stücken aber läßt die Aporie so genau sich nennen wie an dem Bergkonzert, das so gemäßigt sich geriert. Auf der einen Seite verfolgt es bis ins Extrem den im ganzen oeuvre Bergs regen Impuls, es solle die Musik gänzlich, ineinandergewachsen, gänzlich in sich vermittelt sein. Ihr Prinzip ist kontrastfeindlich bis zur Empfindlichkeit gegen alles – Noten, Akzente, Motivgestalten, Farben oder was immer es sein mag –, was heraussticht, eine musikalische Allergie gegen Nägel und Nadeln. Die Wagnerische Konzeption vom Komponieren als Kunst des Übergangs ist bei Berg universal entwickelt. Sie hat sämtliche Dimensionen, vor allem auch die motivisch-thematische Arbeit und die Disposition der Klangfarben ergriffen. Dazu führt der tiefe Bergische Hang zum Amorphen; fast möchte man sagen: der musikalische Todestrieb, dem jene Konzeption schon im Tristan verschwistert war. Zugleich jedoch ist sie selber wiederum zum Formprinzip geworden durch die Konsequenz, mit der Berg auf alle vom kompositorischen Ichprinzip diktierte Härte verzichtet, widerstandslos sich dem kompositorischen Gefälle ausliefert. Der geschlossene Klangspiegel etwa, der nichts Zerklüftetes duldet, nicht den jähen Wechsel der Gestalten wie in vielen Stücken von Schönberg und Webern, stellt das Komponierte mit einer Glätte oder Politur dar – das Wort handwerklich und ohne den leisesten abwertenden Nebensinn verstanden –, welche die Auffassung erleichtert. Nicht zuletzt das wird dazu beigetragen haben, Berg bei Freund und Feind das Renommee größerer musikalischer Umgänglichkeit zu verschaffen. Das Violinkonzert ist dieser Tendenz besonders günstig, weil die Anlage der Reihe vorweg die widerborstigen Bestandteile eliminiert, an denen früher bei ihm jene Intention erst sich zu messen hatte. Nicht, als ob Berg den Ansprüchen des Musiklebens sich gefügt hätte. Aber das Konzert, eine Auftragskomposition, mußte in Eile zu Papier gebracht werden. Der sonst außerordentlich mühsam und langsam Schreibende hat vermutlich, in genauer Kenntnis seiner selbst, von vornherein einen rascheren Produktionsprozeß geplant und das Ganze so viel einfacher angelegt, daß es weniger langwieriger Veranstaltungen bedurfte wie dort, wo er unersättlich war in komplexen Überlagerungen und wuchernden Verschlingungen, ohne daß er doch unters Niveau hätte gehen müssen. Eben deswegen jedoch genügte ihm, zur Organisation, nicht die glättende Fügung des sprunglosen Ineinander. Schwerlich ist es bloß psychologisch, sondern nennt einen objektiv in der Komposition angelegten Gehalt und seine Desiderate, daß der Sehnsucht zu verfließen ebenbürtig die Angst des Subjekts sich gesellt, sich zu verlieren. Das Kunstwerk Bergs will beides, das schlechthin Widersprechende, vereinen: sich auflösen und doch ganz seiner selbst mächtig bleiben. Nur mit der äußersten Anstrengung des formenden Vermögens kann er die Idee des Formfeindlichen, wahrhaft Informellen realisieren, ohne daß seine Musik ohnmächtig von jener Idee verschluckt würde; ohne daß das Kunstwerk, welches das Chaos objektiviert, selber ins Chaos versänke. Nicht minder stark als sein Drang hinab war der zur Artikulation; überall will er das Gestaltlose als Gestaltloses gestalten. Vollends in einem Stück, das von sich aus dem differentialen Kontinuum so wenig Widerstände entgegensetzt wie das Violinkonzert, war solche Kontinuität vor Monotonie zu erretten nur, indem Berg sie zugleich in sich so modellierte, daß die höchste Plastizität des in jedem Augenblick Komponierten mit dem lückenlosen Ineinander der Augenblicke sich verband. Alles ist Übergang, und doch muß alles für sich unverzüglich einbekennen, was es ist. Die gesamte Tradition des Gestaltenreichtums, vom Wiener Klassizismus bis Schönberg, findet sich zusammen mit einem kompositorischen Geist, der nicht bloß keine Gestalt als selbstmächtige und vereinzelte stehen läßt, sondern zutiefst gegen jede sich sträubt, jede dem Zero anähnelt. Diese Paradoxie ist identisch mit dem Problem der Aufführung, unmittelbar übersetzbar in Spielanweisungen. Interpretation muß die undurchbrochene Einheit, und zwar in jedem Betracht, stiften, dabei aber doch jedes Detail so treffen, daß es sein eigenes Wesen hat, ohne im mindesten die Totale zu verletzen. Dirigent und Geiger müssen sich in dem Konzert allerorten Rechenschaft davon geben, wie beides zu erreichen ist, und dabei den Bergischen Lösungen des paradoxalen Problems soweit wie nur möglich sich anschmiegen; dazu bedarf es der unermüdlichen Reflexion ebenso auf den Formsinn des je Erscheinenden wie auf seine Vermittlung zu dem, was vorherging und was folgt. Insoweit die Interpretation sich nicht bei der adäquaten Wiedergabe der Gestalten bescheiden kann, sondern diese stets zugleich zu relativieren ist, bereitet das anscheinend einfache Stück mehr Not als vieles von Schönberg und Webern. Nicht nur geht es um die Darstellung melodischer Einzelgestalten oder klanglicher Flächen, sondern vor allem auch um Proportionen wie die besonders diffizile zwischen dem Soloinstrument und dem Orchester. Die Relevanzen schwanken dauernd nach dem kompositorischen Zusammenhang und sind aus ihm abzuleiten. Falsch wäre ebenso das Verfahren – das des Toningenieurs1 –, das dem Soloinstrument schlechterdings den Primat zuerkennt, wie eines, das vom Orchester ausgeht, ohne die wechselnde Wichtigkeit von Orchester und konzertierender Geige zu realisieren.
Die Paradoxie, die Dirigent und Solist in die erscheinende Musik umzusetzen haben, steckt bereits in den motivischen Einheiten selbst. Ehe die Interpreten sich an das Ganze begeben, tun sie gut daran, jene Einheiten wie durchs Mikroskop zu betrachten, um von Anbeginn derart sie zu exponieren, daß sie dann so entwickelt werden können, wie sie es verlangen. Dabei handelt es sich um außerordentlich subtile, nur notdürftig mit Worten zu umschreibende Momente; sind sie aber nicht erkannt, mißrät das Ganze. Exemplifiziert sei das an einem der einprägsamsten Charaktere des Werks, dem zweitaktigen Anfangsmotiv des Allegrettos aus dem ersten Teil. Es ist, durch die Begleitung, tanzhaft und wird sogleich nach alter Weise sequenziert, erst getreu, dann zum Eintakter verkürzt (Takt 104 bis 106, erstes Achtel).
Aber dies Motiv ist von den Sequenzmodellen des Wiener Klassizismus in seiner Mikrostruktur grundverschieden. Wohl besteht das Thema aus der im übrigen in der Folge der Töne durch Vorwegnehmen und Nachschlagen frei behandelten Reihe. Der erste Takt enthält ihre zwölf Noten als Grundgestalt, der zweite als Umkehrung. Die innere Motivkonstruktion jedoch verleiht dem Modell eine eigentümliche Statik: obstinat werden die Noten f und g wiederholt, umkreisen das nur akzidentell erscheinende fis als unausdrückliches Zentrum. Daß tatsächlich dies fis oder ges der Zentralton sei, läßt aus dem Zusammenhang sich folgern. In der vorhergehenden Partie, die zugleich Coda des Andantes und Einleitung des Allegrettos ist, bringt von Takt 94 an die Sologeige, die das Sekundmotiv des allegretto-Themas vorbereitet, stets wieder dies fis als kritischen Ton. Es ergänzt sich mit dem d und a des Begleitsystems zum Dominantdreiklang von g-moll, der Tonart, nach der am Ende das Scherzando kadenziert. – Das Motiv, oder richtiger vielleicht: thematische Modell wirkt, als bewegte es sich, trotz des Tanzrhythmus, eigentlich nicht fort; als wäre es eine kurze Melodie und doch wiederum keine, sondern nur ein Ton – wohl das latente ges –, der ausgespart wird, ohne daß das Thema seiner Vormacht gegenüber ganz auf die Welt käme. Obwohl die Zwölftontechnik das Leittonprinzip der Chromatik und damit das harmonisch-melodische Äquivalent des »kleinsten Übergangs« beseitigt hat, nähert sich das Thema dem Nichts, dem nicht Vorhandenen, dem Differential des Einzeltons, den es meint, indem es ihn verschweigt. Während es rhythmisch so sinnfällig definiert ist, daß es das ganze Allegretto trägt, nimmt es in sich sein thematisches Wesen zurück, weigert sich, als Thema sich zu setzen. Der Charakter des hängen Bleibenden, Gehemmten, virtuell sich Negierenden haftet nicht bloß an der Tonfolge der Oberstimmenmelodie. Er wird unterstützt von der Rhythmisierung. Zweimal fallen Schwerpunkte auf f, dann auf a und g; dem eigentlichen Zentralton ges wird nur ein Nebenakzent zugeteilt, als wäre er Nebennote zum f. Bereits die Motivzellen des Wiener Klassizismus hatten etwas Zufälliges und im bedeutenden Sinn Nichtiges: insofern sie die einfachsten, gegenüber der Komposition indifferentesten Grundverhältnisse der Tonalität spiegelten. Bei Berg wird dies Beliebige und dadurch sich selbst Aufhebende des Materials von der freien kompositorischen Struktur hergestellt, von der Konstruktion des Themas an sich. Als geltendes Muster für alles Folgende ist es, und ist doch, indem es sich auf den Ton revoziert, um den es sich ordnet, zugleich nicht. Diese Qualität wird dem imaginativen Lesen kaum zweifelhaft sein. Ihrer Verwirklichung in der Interpretation jedoch widersteht sie zäh eben um ihrer Paradoxie willen. Man sollte denken, es wäre entweder das Thema als Thema zu spielen, also mit einigem Nachdruck für sich aufzustellen, oder aufs Differential hin zu musizieren, also es so unverbindlich zu bringen wie nur möglich. Beides indessen ist falsch: als Thema traditionellen Vortragsstils würde es zu positiv, ragte aus dem Kontinuum heraus; als Differential könnte es seine Modellfunktion in dem recht ausgedehnten Satz nicht erfüllen. Resigniert werden viele Interpreten, wofern sie überhaupt das Problem gewahren, sich damit trösten, so etwas müsse man eben fühlen und nach dem Gefühl wiedergeben, und die Reflexion darüber gehöre in dieselbe Hölle, in welche sie aus Unsicherheit alle Intellektuellen wünschen. Aber auf das sogenannte Gefühl ist in solchen Situationen kein Verlaß; meist zehrt es von der wiederholenden Reproduktion vergangener musikalischer Reaktionsweisen und versäumt dadurch die spezifisch neuen Charaktere, hier den Bergischen Ton, den zu fühlen es gälte. Keine Interpretation dürfte weniger reflektiert sein als die Komposition in sich selbst, der eigenen Beschaffenheit nach und unabhängig vom Bewußtsein des Komponisten, reflektiert ist, wofern sie nicht objektiv hinter der Sache zurückbleiben will. Diese zu erschließen, nicht mechanisch Musik auseinanderzunehmen ist der Zweck von Analyse, und ihrer bedarf die wahre Interpretation. So viel ist wahr an dem Mißtrauen der Musiker gegen die Theorie, daß sie nutzlos wird für ihn und schließlich auch untriftig an sich, wenn sie keine Spielanweisungen gewährt. Sie dürfen nicht von oben her aus der Deutung abgeleitet werden, sondern müssen sich erhärten an technischen Tatbeständen und von ihnen wiederum sich inspirieren lassen. Um also zu finden, wie jene zwei Takte der beiden von Streicher-Pizzicati begleiteten Klarinetten richtig zu spielen sind, darf man nicht von Bergs Komposition weiter zurücktreten, sondern muß ihr dichter noch sich nähern. Nun aber dem Satz als ganzem. Der Rhythmus jener ersten Takte umreißt, was durch spätere thematische Gestalten bekräftigt wird: das Allegretto ist ein Ländlerscherzo, vielleicht der Mahlerischste Satz des tief an Mahler gebundenen Berg. Ländlerhaft ist vorab das Zeitbewußtsein, das den Satz durchatmet; Mahler hoffte gelegentlich, durch die Vorschrift »ja nicht eilen« negativ sich vor motorischem Schwachsinn zu sichern. Tatsächlich ist für ein Allegretto die Metronombezeichnung Achtel = 112 auffallend langsam. Das Thema, und das Grundzeitmaß des gesamten Scherzandos, pulsiert in Achteln, nicht in punktierten Vierteln. Dirigenten, die nicht genau hinschauen, werden unweigerlich fast von der Nervosität tüchtiger Zielstrebigkeit gepackt. Ihnen gegenüber impliziert Bergs Tempovorschrift die Lösung der Frage nach dem Ausgangstempo jener ersten Takte. Latent hat das österreichische Ländlerbewußtsein etwas gegen den ungebrochenen Ablauf der Tanzbewegung. Sie wird gebremst und dadurch die Intensität gesteigert. In der Stauung sublimiert sich Trotz; vielleicht auch lebt darin das Zögern, jenem Leben ganz sich zu überlassen, das der Tanz zelebriert – so als würde skeptisch auf jenes »San mer lustig« des Walzers geantwortet, das in der Welt zu Unrecht fürs Wienerische gilt. Vom bedächtig Zaudernden des Ländlers ist gar nicht so weit zum Gestus jenes Valentin, der tief genug des Weltlaufs inne ist, um in jedem Augenblick bereit zu sein, den Hobel hinzulegen. Solche Bereitschaft muß aus der Interpretation sprechen, durchs gemäßigte Tempo ebenso wie durch eine Geduld des Ausspielens, die lieber verweilt, als zum Nächsten kommt. Das pure Tempo müßte die Negation oder Zurücknahme des Themas vorbereiten. Auch das ist paradox. Gerade dadurch, daß das Thema nicht durchaus als solches fungiert, nicht zum Nächsten treibt, sondern auf sich zurückschaut und sich sinken läßt, nimmt es sich auch zurück. Es erscheint gar nicht mehr so sehr, als hinge das Weitere davon ab; möchte nicht unerbittlich die Musik determinieren. Sobald es so vorgetragen wird, daß es nicht entschlossen weiter will, schränkt es den eigenen Impuls ein und läuft zurück zu jenem einzelnen Ton, der eigentlich, als ein an sich ganz Unbestimmtes, seine Idee bildet. Zugleich ermöglicht dies Zögern, das revozierte Thema wiederum so getreu zu profilieren, vor allem die melancholische Endung so auszuspielen, daß es die Prägnanz gewinnt, die es zur Organisation der Form braucht. Beides aber ist zu verwirklichen nur durch äußerste Diskretion; weder das eine noch das andere Moment darf überwiegen, dem Thema ist eine gewisse Unentschiedenheit zu gönnen, an die dann seine Geschichte anknüpft. Vorzutragen wäre es wie die Stelle der Wienerischen Marschallin Hofmannsthals: »mit einem undefinierbaren Ausdruck: Ich weiß auch nix« und dann: »ganz tonlos: gar nix«. Nichts könnte bestimmter sein als dieser vage Gestus, und er ist der von Bergs Musik. Ein Rest mag daran bleiben, der nicht rein technologisch zu formulieren ist – das idiomatische Residuum. Aber wer jenen Bergischen Ton nicht wahrnimmt, wer ihn nicht bis in die subliminalen Flexionen des Vortrags hinein nachahmt, der sollte wohl ebensowenig ans Bergkonzert sich wagen wie einer, dem der thematische Teppich nicht lebendig wird. Enttäuscht würde, wer die retrospektiven Aspekte Bergs als Erleichterungen begrüßt; in ihnen hat Berg teil an einer historischen Dimension, die über die kompositorischen Tatbestände hinausweist oder nur mit äußerster Anstrengung in diesen zu identifizieren ist. Hört man diese Dimension nicht mit, so wird man vor Berg genau so hilflos sein wie ein traditionalistischer Interpret im Angesicht der Innovationen Schönbergs und Weberns.
Um nicht die eingehenden kompositorischen Analysen aus Willi Reichs Bergbuch von 1937 und dem von H. F. Redlich zu duplizieren, seien die Probleme so erörtert, wie sie an den typischen Fehlern und Versäumnissen der üblichen Interpretationen, insbesondere der auf Schallplatten festgelegten abzulesen sind; diese werden dann nach dem Maß des Komponierten zu korrigieren versucht. Nirgends werden individuelle Unzulänglichkeiten von Interpreten, erst recht nicht die freilich meist grob entstellenden der Platten moniert; die Mängel entspringen in Schwierigkeiten der Sache, und Bewußtsein von ihnen ist zur richtigen Darstellung gefordert. – Die zehn Einleitungstakte, deren Metronomisierung fast genau der des Schlußadagios entspricht, die aber, wie der ganze erste Satz, Andante überschrieben sind2, stimmen, wie man weiß, das Stück ein. Wer Berg kannte, mag sie als ironisch-makabre Anspielung darauf verstehen, daß er, bei der Auftragskomposition, sich selbst erst in Stimmung bringen mußte. Der Doppelsinn jenes Wortes ist auskomponiert: vom unbeseelten Ausprobieren der leeren Saiten, noch diesseits der eigentlichen Komposition, wird gleitend die volle expressive Intensität erreicht. Berg hat, in der vorsichtigen Introduktion, eine Tendenz verwirklicht, die fünfzehn Jahre nach seinem Tod zur Parole radikalen Fortschritts wurde: die Ausdehnung des Reihenprinzips über die Anordnung der Intervalle hinaus. Die Einleitung bildet eine Reihe vom Ausdruckslosen zum Beseelten – ein Einfall, auf dem, in der Dimension der Klangfarbe, bereits der Anfang des Präludiums der drei Orchesterstücke basiert. Die Introduktion wird verständlich nur, wenn die Wiedergabe davon nicht sich ablenken läßt. Als wären die leeren Saiten der Geige schon zu subjektiv, beginnen die Stimmquinten mit den womöglich noch orgelhafteren Registern von Klarinette und Baßklarinette, die – unhörbar – von der Harfe angefärbt werden. Das Tempo ist aus der Idee des über vier Saiten Streichens zu entwickeln, so gleichsam, wie der Bogen, wenn man ihn ohne viel Absicht aufsetzt, jene berührt. Die erste Phrase der Geige, im Gegensatz zur gängigen Übung, wirklich pianissimo; die vorgeschriebene Steigerung der Stärkegrade ganz allmählich; unter keinen Umständen darf etwa schon in Takt 6 forte erreicht sein. Im Sinn der Stimmidee ist glockenrein zu intonieren, auch die zunehmende Expression darf die Tonqualität nicht im mindesten beeinträchtigen. Portamento wäre unerträglich. Unbedingt muß die Geige ihre halben Takte legato spielen. Berg hat – als Kontrast zum Griffinstrument Klavier – den Streicher-Satz immer als einen über vier Saiten hin konzipiert; man beschädigte die dichte Geschlossenheit der Linien, sobald man durch vernehmbaren Saitenwechsel das Legato irgend unterbräche. Das vor Takt 9 einsetzende un poco ritardando nicht abrupt, sondern kontinuierlich disponiert bis zum Takt 10; dieser erst ist, als Kadenztakt, stark zurückzuhalten. Um nicht, wider Bergs Intention, eine Zäsur zwischen dem ritardando und dem a tempo des Hauptthemas in Takt 11 aufkommen zu lassen, ist es wichtig, daß, nach dem letzten Crescendo auf dem e der Sologeige, deren Abschlußton d sehr diminuiert wird, dieser fugenlos in den Takt 11 gelangt. Von der Sologeige wird in der Introduktion das tour de force verlangt, ihre Emphase nachhaltig zu steigern und doch nicht aus der Stimmidee herauszufallen. Während des ganzen Feldes muß die Harfe unterhalb der Klangoberfläche verbleiben.
Für die Anlage des Andante-Hauptsatzes ist wesentlich etwas, worauf in den Analysen nicht eigens hingewiesen wurde: er ist, Nachhall der Bruckner-Mahler-Tradition, strophisch. Da die strophische Struktur auch im durchführungsähnlichen Mittelteil sich fortsetzt, den sie gliedert, müssen die Stropheneinsätze schon in der Exposition sinnfällig werden; der erste im Solokontrabaß Takt 11, der zweite in den chorischen Celli Takt 21; beide Male, ohne das Grundpiano zu verlassen, mit einem leichten Akzent in der Hauptstimme, der sie als solche einführt, ohne sie doch aufdringlich zu unterstreichen. Notwendig fürs Formverständnis, daß die Einsätze der Sologeige, in der ersten Strophe vier, in der zweiten drei Takte nach dem Strophenanfang, nicht wirken, als wären erst sie die Melodie, sondern als das, als was sie komponiert sind, Nachsätze zu Vordersätzen. Das beste Mittel, ihren Nachsatzcharakter diskret herauszuarbeiten, ist größte rhythmische Strenge. Improvisatorische Freiheit, die entfernteste Erinnerung an die ersten Takte der Sologeige im Beethovenkonzert erweckte den falschen Anschein, hier erst finge es an. Dazu verlockt der melodische Auftritt der Sologeige; setzt sie aber unverrückt den bereits durch die Begleitsynkopen der ersten vier Takte vorbereiteten Achtelrhythmus fort, so glückt die Formimmanenz. Berg hat dafür gesorgt, indem er die Sologeige beide Male um einen Stärkegrad schwächer bezeichnet als die Strophenanfänge der tiefen Streicher; dem ist zu gehorchen. Weiter hilft es dem Fortsetzungscharakter der Soloeinsätze, daß sie melodisch lückenlos an das Vorhergehende anschließen, anstatt daß der Geiger frisch anhebt. Besonderer Aufmerksamkeit bedarf der ein Achtel vor der Sologeige beginnende Kontrapunkt des ersten Horns, von Takt 15 an. Obwohl er als piano, mit der Alternativvorschrift pianissimo, bezeichnet ist, soll er nicht sogleich nach dem Einsatz wieder verschwinden; sonst entsteht in der Nebenstimmenregion durch die Lücke ein gefährliches Gefühl der Ungewißheit über die Linientendenz. Allerdings verwandelt dieser Kontrapunkt in der Komposition sich in eine bloße harmonische Begleitstimme. Diese Verwandlung muß aber selbst von der Interpretation realisiert werden, indem in Takt 18, wo das abschließende gis des Horns nach einer Luftpause sich wiederholt, es noch so weit betont wird, daß man es als den festgehaltenen Zielton empfindet, dann aber graduell so diminuiert, bis es keine melodischen Ansprüche mehr anmeldet. – Im kritischen Restmotiv der Sologeige Takt 18 müssen die beiden weit voneinander entfernt liegenden, aber melodisch zusammengehörenden Töne f und e aufeinander bezogen werden: hier wird das Legato zur Bedingung für die Faßlichkeit des Kontextes. Zugleich ist gerade dies Schlußglied nun so bestimmt als Modell hinzusetzen, daß es haftet, wann immer der Rhythmus wiederkehrt. Zu wachen ist darüber, daß sein Echo in der etwas blassen Baßklarinette in Takt 20 – die Berg weise durch die zwei Klarinetten unterstützt – durchdringt.
Nach der absichtsvoll einfachen Formdisposition beginnt in Takt 38 der Mittelteil. Der ist aber höchst unauffällig im Verlauf der zweiten Strophe vorbereitet. In einem so überaus ökonomisch komponierten Satz wie dem Andante nehmen die geringsten Abweichungen, die unauffälligsten neuen Bildungen sogleich eine Relevanz für die Form an, die ihnen bei gehäuften Mitteln nie zukäme. Dort, wo das Restmotiv und der Anfang der Geigenmelodie ein wenig ausgesponnen werden – die Modelle der zweiten Strophe sind kürzer als die der ersten, und dadurch wird für Verarbeitungen en miniature Raum geschaffen –, intoniert ein Klarinettenkontrapunkt (Takt 30f.) erstmals, durch übergebundene Noten verdeckt, den Rhythmus von Triolen als Keim der Bewegung. Dieser Rhythmus muß, trotz des dolcissimo, unmißverständlich werden. Mit anderen Worten: die Triolenachtel der Klarinette dürfen weder mit den Duolen-Pizzicati der Celli zusammenfallen noch sich verwischen. Zu widerstehen ist auch der Neigung, den Bewegungsimpuls der kleineren rhythmischen Werte zu früh dem Zeitmaß als solchem mitzuteilen, es zu beschleunigen. Die gesamte Partie gehört noch in das ruhige Expositionsfeld, in ihr regt sich etwas, nicht aber das Feld selber. Daß das zwar im Hintergrund gehaltene, jedoch dann folgenreiche Ereignis trotz allem bemerkt werden soll, darauf verweist die Vortragsbezeichnung delicato der Sologeige. Ihr Restmotiv ist so unaufdringlich zu bringen, daß die rhythmische Nuance der Klarinetten nicht dahinter verschwindet. Von Takt 35 an, wo die Sologeige die Triolen übernimmt, sind diese erst recht so exakt von den Duolen zu unterscheiden, daß der Bewegungsimpuls in den Vordergrund gelangt, ohne daß plumpe Beschleunigung die geschlossene Expositionsfläche aufstörte. So einfach die Stelle in der Partitur aussieht, so leicht wird sie in der Aufführung verworren. Sologeige, Kontrafagott und Fagott probieren von Takt 34 an am besten allein miteinander, bis die rhythmischen Proportionen transparent sind.
Der Anfang des Mittelteils Takt 38 knüpft an den einmal statuierten Triolenrhythmus als Rest an. Die Stelle ist gefährdet wie alle Formzäsuren des Werks; der Interpret hat unmittelbar zu wählen zwischen einer agogischen Artikulation, welche das Prinzip des kleinsten Übergangs verletzt, und einem bloßen Ineinander, das die Architektur verschleiert. Das Rallentando in Takt 37 nicht übertreiben; lediglich die thematische Hauptgestalt der Sologeige aus der eigenen Gravitation heraus verebbend. Die Zäsur ist eine minimale Luftpause. Ihre Übertreibung machte das Bindemittel der Motivwiederholung in der Hauptstimme sinnlos. Der flautando-Einsatz der Sologeige Takt 38 markiert kein neues Zeitmaß, sondern läßt nur das alte nach dem Verebben aufleben. Das Gebilde zerbricht, sobald ein Dirigent durch die Tempodisposition für die verschiedenen Hauptgruppen die Architektur überbelichtet.
Die Bezeichnung poco grazioso von Takt 38 an umreißt mehr den Charakter, in dem nun die Triolen vorherrschen, als das Tempo; häufig packt hier bereits die Dirigenten ihre Ungeduld. Unwillkürlich wird der etwas leichtere Fluß der Struktur auch das Tempo affizieren, und dagegen brauchen weder Solist noch Dirigent sich zu sträuben; falsch dagegen wäre es, wenn sie sich gegen Ende der ersten Strophe des Mittelsatzes, vom zweiten Taktteil von 45 an, zu einem Accelerando hinreißen ließen. Das leichte Crescendo in Takt 46 und der fp-Akzent der Bässe und der zweiten Posaune, zusammen mit dem Schlag der großen Trommel (47), reicht aus, um den Einsatz der zweiten Mittelteilstrophe zu pointieren. Auch das poco ritardando von Takt 41 ist kaum mehr als eine flüchtige Flexion; alle Vorbehalte gegen agogische Großaufnahmen gelten doppelt fürs Bergische Kontinuum.
Die zweite Strophe des
Mittelsatzes (47f.), rhythmisch nun im Zeichen von Sechzehnteln,
verlangt einiges von der Klangdisposition. Die Hauptstimme der
Geige, poco forte, wird »schattenhaft« von einem kanonisch
einsetzenden, dann in freien Intervallen den Rhythmus nachahmenden
Kontrapunkt der ersten Flöte und der pizzikierten zweiten Geige
begleitet. Die Nomenklatur will hier wohl etwas anderes als bei
Mahler sagen: daß die Stimme als Schatten der Geigenmelodie wirken
soll. Sie ist, mit dem der Schönbergschule, als
Sekundärstimme bezeichnet, während die Hörner und Posaunen bloß
begleiten; obwohl bei diesen die dynamische Vorschrift piano
lautet, bei dem Flötenkontrapunkt aber pp, ist der letztere
wichtiger und nicht zu decken. Das droht ihm weniger von den
Blechbläsern als von der Sologeige; diese sollte sich mäßigen.
Überhaupt ist sie nicht in der üblichen Weise selbstverständliche
Prinzipalstimme, sondern selbst dort, wo sie vom
autorisiert wird, auf den thematischen Funktionszusammenhang
einzurichten. Weitere dynamische Sorgen bereitet der forte-Einsatz
der ersten Orchestergeigen am Ende des Takts 50. Gar zu gern platzt
er herein, während er, nach Bergs Anweisung, die Sologeige
fortsetzen soll. Die müßte wohl in Takt 50, wo ja jener Kontrapunkt
aufhört, in reales Forte übergehen, und das endende h müßte, wie
der Bogen es will, in den Takt 51 hinüberklingen; das a der
Orchestergeigen aber, »den Solisten fortsetzend«, trägt keinen
Akzent, sondern ist unbetonter Auftakt; die Intensivierung wäre
durch die kleine Trommel zu bewirken. Selbst ihr erster Schlag in
Takt 50 ist bloß mf; in Takt 51 crescendiert sie energisch und
nimmt sogleich wieder ab. Die Sologeige und ihre Fortsetzung in den
Orchestergeigen wären so miteinander allein zu studieren, daß der
Knall vermieden wird. Am Ende der zweiten Strophe bedeutet die
Luftpause dort, wo übergebundene Noten stehen, in den Fagotten und
dem zweiten Horn, eine leichte Dehnung, kein Loch. Sehr dichter
Anschluß ist erheischt: die Triolen des Hauptthemas in den tiefen
Streichern zu Beginn der dritten Strophe bei Takt 54 entsprechen,
kompositorisch und darum auch im Vortrag, genau den etwas
ritardierten Sechzehnteln von Takt 53.
Die dritte Strophe des Mittelteils hat thematisch dieselbe Substanz wie die erste. Das kann verstanden und dadurch der Bau des Mittelteils hörbar werden nur, wenn die Celli tatsächlich, wie Berg notiert, Hauptstimme sind und die Sologeige Nebenstimme, und zwar die ganze Strophe hindurch. Das ist essentiell: der Mittelteil gliedert sich je nach der wechselnden Rolle der Sologeige. Reklamiert diese unterschiedslos die Rechte des Protagonisten, so entfällt eine der Möglichkeiten, zu artikulieren ohne Brutalität gegen das Kontinuum. Die Beziehung der dritten Strophe auf die erste unterstützt man am besten wohl dadurch, daß man auf das Tempo der letzteren bei Takt 38, »un poco grazioso«, zurückgreift, also etwas langsamer wird, als die zweite Strophe war; zu dieser kleinen Modifikation leitet ganz natürlich das poco allargando über. Auch der forte-Einsatz der tiefen Streicher in Takt 54 nicht unvermittelt. Ihn bereiten die Sechzehntel der Bratsche, von denen Berg fortissimo verlangt, vor: ein Crescendo in der Hauptstimme kreuzt sich mit einem Diminuendo des Begleitsystems. Kein Ruck in Takt 54; signalisiert wird das neue Formabschnittchen durch den pianissimo-Beckenschlag und nichts anderes. Die Sologeige von Takt 54 an, mp, beschattet ähnlich die Hauptstimme wie Flöten und Pizzicati zu Beginn der zweiten Strophe; die dynamische Proportion der Stimmen ist zu kontrollieren. Drängt die Sologeige zu sehr sich auf, so kann das Unwahrscheinliche geschehen, daß Takt 57 die freilich gedämpfte, aber mf angeblasene und crescendierte Trompete sich nicht behauptet und der motivische Faden, die Imitation des Triolenmotivs abreißt. Das kleine Ritardando von Takt 57/58 ist diffizil. Zu fühlen ist es als unwillkürliches Auspendeln. Schlägt der Dirigent nur der Vorschrift zuliebe langsamer, so kompromittiert der Unsinn den ganzen weiteren Ablauf. Bei Ritardandi und Accelerandi ist zwischen Übergängen zu neuen Tempofeldern und Nuancen innerhalb eines gegebenen zu differenzieren wie, bei traditioneller Musik, zwischen Modulationen und bloßen Ausweichungen innerhalb einer Tonart. Die unabdingbare, aber tatsächlich überaus selten erfüllte Voraussetzung dafür ist, daß der Dirigent die Temporelationen sich klar und distinkt vorstellt. Sie fließen aus der Vergegenwärtigung der Gesamtstruktur, während im Engpaß des Probierens die Dirigenten schon froh sind, dem sich anzubequemen, was über und in der Partitur steht, ohne daß es von Imagination durchleuchtet wäre. Objektiv sinnvoll wird in musikalischer Interpretation nur, was durch die subjektive Intention des Interpreten hindurchging. Kein Moment, das er nicht in allen Implikationen versteht, sondern bloß auf die Vorschriften hin überwacht, kann von anderen verstanden werden; so bleibt auch Sprachliches, das einer vorliest, ohne es ganz mitzuvollziehen, den Hörern dunkel. Wilhelm Furtwänglers unvergleichliche Eigenschaft war, daß er, was immer seine Mängel gewesen sein mochten, niemals in der Imagination gegenüber dem real Erklingenden erschlaffte. – Dynamisch unangenehm ist der zweite Teil der Strophe, vom Auftakt zu 59 an. Die hohen, von den zweiten Geigen und Bratschen unterstützten Celli sind weiter Hauptstimme, während die Nebenstimme des Solisten, in der günstigsten Lage weit über dem Orchester, ebenfalls als molto forte bezeichnet ist. In solchen Situationen muß die Interpretation dem Satz ein wenig beispringen; es empfiehlt sich, ohne Begleitsystem die Hauptstimmenmelodie und die der Sologeige so lange allein miteinander zu üben, bis die richtige Proportion gerät. Allenfalls kann die Sologeige dazu etwas beitragen, indem sie jeweils nur die Phrasenanfänge: das g in Takt 58, das e in Takt 60, das dis in Takt 61 hervorhebt, sonst aber dynamisch nachgibt, freilich nicht auf den Viertelnoten f und h diminuiert. Das Accelerando in Takt 61 hat etwas Rezitativisches; der identische Akkord veranlaßt hier von selbst die Drängung, während ihn Berg an der analogen Stelle des zweiten Teils (Takt 60) agogisch im Gegensinn auslegt.
Die letzte Strophe des Mittelteils, beginnend Takt 63, hat in der Hauptstimme dieselben Töne wie die zweite. Plausibel darum, daß deren Tempo, fließende Viertel, wieder erreicht wird. Der Solopart hier ist, trotz der Grundstärke f und schließlich sogar ff, nicht einmal mehr Nebenstimme sondern Begleitung, während das Horn, mf, die Hauptmelodie spielt. In den Aufführungen passiert meist Unheil: einerseits wird das an sich keineswegs besonders starke Horn so übertönt, daß die Melodie verschwindet, die Kardinalsünde schlechthin; andererseits werden Figurationen der Geige, die funktionell verwandten aus den allbekannten Violinkonzerten nachgebildet sind, aber diese durch ihren umkreisenden Duktus in die Bergische Sprache einschmelzen, viel zu relevant; belastet die Interpretation ein der Struktur nach Subsidiäres, so überfordert sie es und verurteilt es zum musikalisch Dummen konventioneller Kadenzen; dagegen gerade wehrte sich Berg, indem er zwar die traditionellen Kategorien der konzertanten Setzweise konservierte, aber strukturell zum Sprechen brachte. Wollten die Interpreten in dieser Strophe sich auf die dynamischen Vorschriften herausreden, so wären sie daran zu erinnern, daß diese sich hier wohl auf die Spielweise, nicht aber auf die objektiven Klangverhältnisse beziehen. Der übervorsichtige Berg mochte fürchten, ein mf geblasenes Horn sei immer noch stärker als eine forte-Geige auf der g-Saite. Vom Einsatz der Trompete in Takt 70 an kann die Dynamik nicht mehr viel anrichten, vorausgesetzt, daß diese forte-Stimme nicht grell von der Hornmelodie absticht, die darum von Takt 67 an nicht diminuieren darf. Um so empfindlicher dafür die zweite Strophenhälfte. Die vier Takte von 77 an, mit denen zur Reprise zurückgeleitet wird, »molto più tranquillo«, sind das Scharnier des ganzen Satzes, höchst solistisch und aufgelöst, frei im Charakter, dennoch aber so weit dem Tempo immanent, daß sie ihrer Aufgabe, ins Anfangszeitmaß überzugehen, gerecht werden können. Zunächst müssen sie ihr eigenes, viel langsameres Zeitmaß überzeugend erreichen; der Einsatz des Restmotivs in der Posaune Takt 77 muß deren Hauptstimme aus den beiden vorhergehenden Takten unmittelbar fortsetzen. Um den Übergang zu gestalten, ist wohl das Calmando über dem letzten Achtel von Takt 74 etwas zu spät geschrieben; wer hier sklavisch der Vorschrift gehorcht, handelt dem Formsinn entgegen. Der Schlüssel ist die hohe Trompetenstimme von Takt 73 an. Während sie im schwungvollen Tempo anfängt, hat sie in sich selber den Charakter des Verströmenden, Ausatmenden. Ihn muß der Dirigent nachzeichnen, indem er das Instrument bis auf das fis hin, das ihm die Soloposaune abnimmt, sich ausspielen läßt. Horcht hier die Trompete ihrer eigenen Melodie nach, so bereitet sie zugleich das Ritardando vor, das sich dann nicht zu überhasten braucht, sondern unmerklich vollziehen kann. Der delicato-Einsatz in Takt 77 ist die Mündung des Ritardandos, kein jäh verändertes Tempo. Die Achtel verlangsamen sich stetig bis zu diesem Restmotiv hin: dann erscheint es als deren rhythmische Fortsetzung. Die Streichersoli der Episode können kaum zart und leise genug gespielt werden; die Synkopen äußerst exakt, damit nicht Auflösung in Konfusion ausarte; die Streichervierundsechzigstel, bei aller Ruhe der Ausführung, genau mit den Synkopen, erst der Solobratsche, dann der zweiten Hälfte der ersten Geigen zusammenfallend, in Takt 80 in der zweiten Hälfte der ersten Geigen deutlich nach der dritten Zählzeit der Sologeige nachschlagend. Fraglos sind die vier kritischen Takte von 77 bis 80, sowohl wegen der Rhythmik wie wegen der Klangverhältnisse, herauszugreifen und vorzuprobieren; ebenso notwendig jedoch, sie dann dem verrinnenden Ganzen sprunglos zu integrieren. Bei den verbleibenden drei Takten bis zur Reprise bereitet den Solisten die allmähliche Augmentation von Vorschlägen in ausgespielte Noten viel Mühe; sie verläuft parallel zum Calando. Auf ihr ist zu bestehen, weil sonst der Weg zu den sehr langsamen Sechzehnteln hin unübersichtlich wird, die ihrerseits für die Form unentbehrlich sind, weil ihr Endwert derselbe ist wie der der Achtel der verkürzten Reprise von Takt 84 an. Die Verlangsamung führt hier zum Verhältnis 2:1; und damit, im real Erklingenden, zur Identität der Zählzeiten. Wird das genau berücksichtigt, so ist die rhythmische Kontinuität gewahrt; unbeirrbar hat der Dirigent darauf zu bestehen, daß tatsächlich am Schluß des sehr langen stufenweisen Ritardandos die Achtel = 56 sind. Sonst erfolgt die Reprise mit einem Ruck, der den Überleitungscharakter des Komponierten Lügen straft.
Die verkürzte und das Allegretto präludierende Reprise selbst ist einfach und wirft wenig Interpretationsfragen auf. Die begleitenden mezzoforte-Akkorde der Streicher und der Harfe in Takt 91 und 92 klingen, wenn man so sagen darf, zu gut. Die Setzweise und der nonige Charakter der liegenden Harmonie verleihen ihnen eine Sonorität, die schwerlich gewollt war. Sie sind zu dämpfen, wofern sie nicht aus dem Gesamtklang des Feldes herausfallen sollen. Entgegenzuwirken ist einer Versuchung, die das epilogische Wesen der zweiten, auf die Einleitung rekurrierenden Strophe unwillkürlich zeitigt: die Achtelbewegung zu hemmen. Da sie ohne Riß, in vollkommener Identität der Einheiten, in das Allegretto übergeht, ist, falls die gesamte Reprise verlangsamt sein sollte, unmerklich zu drängen, zumal in den beiden letzten Takten. Eine der Pointen der Form als ganzer ist die unmerkliche Verwandlung des Hauptrhythmus des Andantes in den begleitenden des Scherzandos. Sie darf nicht verloren gehen.
In der Exposition des
Allegrettos ist der dynamische Wechsel der Sequenzen: mp, p und
zweimaliges mf zu realisieren, nicht dagegen das Schlußglied von
Takt 105 zurückzuhalten; die Tendenz zum Bremsen muß in dem ganzen
Thema sich durchsetzen; beschränkte sie sich bloß auf ein
Motivglied, so würde vergröbert. In Takt 107 heißt die zweite Note
der Unterstimme der Sologeige dis, nicht wie im Klavierauszug und
der mir vorliegenden alten Partiturabschrift d. – Alle Analytiker
heben hervor, daß das Allegretto aus drei Hauptgestalten gefügt
sei, dem motivisch knappen Ländlerthema des Anfangs, dem
»wienerisch« überschriebenen in Takt 110 und dem
»rustico«-Charakter in Takt 114. Die Vortragsbezeichnung
»wienerisch« heißt technisch: zufahren, immer die Auftakte, nicht
die guten Taktteile betonen, und: die Terzen auskosten, also in
Takt 110 die zweiten Geigen nicht schwächer als die ersten;
tatsächlich steht bei Berg das
über beiden. Aufmerksam jedoch ist darauf zu machen, daß die drei
Gestalten nicht mechanisch eine nach der anderen sich folgen. Die
Takte 112 und 113, die zwischen der zweiten und der dritten stehen,
werden, als wären sie eine Interpolation, den Interpreten vielfach
zum Stein des Anstoßes. Man wird mit ihnen fertig, indem man die
Nebenstimme der Bratschen und der Celli und dann die der Fagotte
schon so plastisch bringt, daß der Motivzusammenhang, wenn sie in
Takt 111 zur Hauptstimme wird, über allem Zweifel steht. Weiter muß
in der zweiten Hälfte von Takt 112 die Sologeige ihre in
Doppelgriffen gesetzte Stimme so spielen, daß sie ebenfalls als
Imitation jenes Motivs erkennbar wird, ganz auf die höheren Noten
hin musiziert. Im folgenden Takt soll zwar die Sologeige
phrasieren; ein Ritardando aber würde die formbildende Konsequenz
jenes Motivs aufhalten und damit Konfusion stiften. Die Sologeige
macht ihre Luftpause, während die Hauptstimme der Klarinette im
Tempo fortfährt. Verstanden werden müssen die beiden Zwischentakte
als rudimentäre Verarbeitung des Kontrapunkts zum wienerischen
Motiv. Das Ritardando in dem korrespondierenden Reprisentakt 119
legitimiert keine Analogieschlüsse; in der Reprise sind die
Formverhältnisse darum mit der Exposition nicht vergleichbar, weil
nun, aus gutem Grund, das wienerische Thema ausgespart wird.
Takt 117 beginnt ein zweistrophiges, ruhiges Feld; die Ruhe ist bereits von der Komposition gestiftet, durch liegende Akkorde und längere Notenwerte. Die Bezeichnung a tempo (ma tranquillo) ist genau zu nehmen; im Tempo spielen und die neue Gestalt lediglich charakterisieren, nicht das Feld verschleppen. Vorsicht mit dem, was der Geiger für eine schöne Stelle hält und wovon er sich nicht trennen will.
Der Formsinn der folgenden Partie von Takt 126 an konfrontiert die Interpreten mit einer Aufgabe, die nur mit hellstem Bewußtsein zu bewältigen ist. In dem Feld wird bis zum tempo primo des Takts 132 die wienerische Gestalt liquidiert. Diese Liquidation muß sinnfällig werden, weil um ihretwillen jene Gestalt im weiteren Verlauf des Satzes und auch in der Reprise verschwindet. Bergs Formgefühl sagt ihm, daß man nicht einen musikalischen Stoff in nichts auflösen und dann wiederbringen kann, als wäre nichts geschehen. Bei der Liquidation verwendet Berg sein altes Lieblingsmittel, jeweils die letzte Note des Motivs wegzulassen. Zugleich jedoch greift er auf die Sequenzidee zurück, die den ganzen Satz dem Tanz annähert; jede Stufe der Motivverkürzung im Orchester wird von der Sologeige imitiert. Durch die Überschneidung der Einsätze wird der Verlust je eines Tons leicht verdeckt; ist er aber nicht evident, so wird auch die spätere Absenz des sehr einprägsamen Motivs grundlos. Am besten wird man sich aus der Affäre ziehen, indem man, auch wo Diminuendi geschrieben sind, wie in dem an sich schon etwas matt instrumentierten Modell der Flöten und Oboen in Takt 126, verhindert, daß die Phrasenendung, die beiden letzten Achtel des Takts, fallengelassen werden; nur relativ auf dies Modell wird die Subtraktion einsichtig. Die Imitation der Geige in Takt 127, piano bezeichnet, darf gegenüber dem Bläsereinsatz nicht zu stark sein. Wenn dann in Takt 128 die Hauptstimme wieder in die Holzbläser wandert, muß die Geige so rasch diminuieren, daß jene hervortreten; ebenso in den folgenden Takten. Erst beim Ende der Liquidation und der Anspielung auf den rustico-Charakter in Takt 130 hat die Sologeige den unbestrittenen Primat. Das Rubato dieser Takte darf nicht die Rückkunft des Hauptthemas in Takt 132 zum Schleppen verurteilen; da dies Thema den äußerst vielgliedrigen Satz nach Art eines Rondorefrains bindet, muß es überall sein ursprüngliches Tempo behalten.
Das erste Trio von Takt 137 an ist wohl nicht nur più energico, sondern auch chronometrisch etwas flotter, schon um der Proportion zu dem dann wesentlich langsameren zweiten Trio willen: das viel ausführlichere Vorbild der Tempodisposition ist das Scherzo der Neunten Symphonie von Mahler. In Takt 140 prophezeit zum ersten Mal der schneidende Einsatz der Blechbläser die Katastrophe des zweiten Teils; es ist, als verdrängte diese Gestalt die wienerische. Selbstverständlich absorbiert sie sogleich alle Aufmerksamkeit. Das mit dem Auftakt a zu 141 beginnende Schlußglied der ersten Geigen jedoch ist überaus thematisch: es ertönt auf dem Höhepunkt des ersten Trios in der Sologeige Takt 147/8. Darum muß es, trotz des Blechmotivs, schon beim ersten Mal unüberhörbar sein. Im weiteren Verlauf bietet das erste Trio insbesondere Probleme des metrischen Aufbaus und zwar in der Gliederung des Blechthemas. Von der zweiten Hälfte des Takts 150 an bis vorm fünften Taktteil von 151 schießt eine metrische Einheit zusammen. Wird einfach durchdirigiert, ohne daß die wechselnden Metren der Phrasen herausmodelliert wären, die jeweils nach den übergebundenen Akkorden beginnen, so wird der Verlauf der sehr voll gesetzten und von einer äußerst expressiven Geigenstimme überwölbten Partie, vollends in Takt 150/1, obskur. Auch das Calando vollzieht sich stufenweise, nach dem Maß jener Gruppen3. Das Schlußglied der Sologeige, ihre Unterstimme in Takt 154, antizipiert das Thema des zweiten Trios und muß die Brücke zum Meno mosso schlagen, unmißverständlich, doch nicht mit vulgärem Nachdruck.
Im zweiten Trio ist die Blässe der Flöte in der Mittellage vorgestellt und sollte nicht überschminkt werden; die Farbe ist ausinstrumentiert in den Triangelschlägen und den Harfenflageoletts. Dagegen sind die begleitenden Streicher, auch ihre kurzen Crescendi, so im Zaum zu halten, daß sie von der Flötenmelodie nicht ablenken; keine Überakzentuierung des fis der Bratschen und der Harfe. Ebenso ist in Takt 158 darauf zu merken, daß weder die melodieführende Trompete noch das Begleitsystem das Grundpiano überschreite. Der liberamente überschriebene Takt 161 darf nicht Opfer der unfreiwilligen Komik der Goetheschen Brautnacht werden: »Denn deine Kühnheit wird zur Pflicht.« Glaubt der Interpret sich verpflichtet, mit einem Mal durchzugehen; forciert er die Freiheit, so verspottet er das Gemeinte. Das Bergische Idiom legt nahe, von dem zuvor statuierten Rhythmus auszugehen, natürlich zu drängen, nach dem hohen als eine minimale Zäsur zu machen, auf dem Schlußglied stehen zu bleiben und dann ins Haupttempo des zweiten Trios zurückzukehren; indessen ist das vielleicht zu rationalistisch; nur experimentierende Selbstkritik wird das Richtige finden. Besser auf jeden Fall, gar nicht rubato zu spielen, als einen Dialekt zu affektieren, dessen man nicht mächtig ist. Übrigens ist der achttönige Begleitakkord der Streicher, dem instrumentalen Partiturbild nach das Einfachste des gesamten Werks, gleichwohl nicht primitiv hingeschrieben wie im älteren Recitativo accompagnato. Eine bestimmte metallene Klangqualität ist aufs genaueste ausgehört; der Dirigent wird sie erkennen, sobald sie sich bildet.
Im wiederkehrenden ersten Trio4 ist darauf zu achten, daß das aus Takt 40 bekannte Schlußmotiv, das dem Verlauf der letzten drei Takte der kleinen Reprise zugrunde liegt, plastisch genug wird; von Takt 171 an in der Baßklarinette und den beiden Fagotten klingt es leicht zu schwach. Die Entwicklung der Hauptreprise vom Dreiachteltakt an, nach dem Rondorefrain von Takt 172ff., ist zu schützen vor Indifferenz. Der Einförmigkeit der Walzerbegleitung arbeitet man entgegen durchs Espressivo im Pianissimo. Die Partitur verrät Bergs Furcht, die erste Flöte allein wirke zu ausdruckslos; unbedenklich ist sie durch die zweite zu verdoppeln. Trotz der Geradtaktigkeit hat der Dirigent die Chance rhythmischer Modifikation. Sie steckt in den Überbindungen; schon in Takt 179 müßte das fis der Flöten, innerhalb des Phrasierungsbogens, frisch kommen, dann in Takt 180 die abermals mit fis einsetzende Figur, Erbin jenes Einsatzes, so intensiv gebracht werden, daß sie der Sologeige in Takt 182 als Modell dient. Diese darf dynamisch nicht so weit darüber hinausgehen, daß der Zusammenhang mit jenem Modell überhört wird. Erreicht Takt 187 die Sologeige ihr Forte, crescendiert zwar das Orchester, ist aber selbst forte erst im folgenden Takt.
Die weitere, stark variierte Reprise5 führt die Motive der Scherzo-Exposition durch, die dort noch keine Konsequenz hatten. Sie ist sehr reich an Tempomodifikationen, so als würde mit dem einmal Gesetzten nun improvisatorisch gespielt. Durchweg aber bleiben sie dem Hauptzeitmaß immanent; zumal das un poco allargando vor Takt 200. Wird gar in Takt 203 ritardiert, während es eher unmerklich vorwärts geht, so stockt der Satz: die reichere agogische Gliederung will ihn verdichten, wie ein abwechslungsreicher Weg kürzer dünkt. Die letzte Reprise des Hauptthemas in Takt 208 verwendet andere Melodietöne als seine charakteristischen; um so prägnanter will darum der Rhythmus, um so treuer das Haupttempo angeschlagen werden. Die vorhergehende Steigerung mündet nicht in jene Reprise. Die Luftpause ist formkonstruktiv: wirklich ein Neubeginn, die Dynamik um wenigstens einen Grad abgeschwächt. Das Kärntnerlied im Horn dringt, nach Bergs ausdrücklichem Willen, allmählich durch. Im allgemeinen jedoch hört man den Auftakt des Horns und dann seinen Takt 214 gar nicht; unvorbereitet beherrscht es den Takt 125. Dem ist dadurch zu begegnen, daß das piano einsetzende Horn in Takt 214 zu crescendieren beginnt, während gleichzeitig das Orchester diminuiert; die Hauptstimme der Sologeige forte nur auf ihrem höchsten Ton f, Takt 124; dann schwächt sie sich sofort ab und schafft dem Horn Klangraum. Den Übergang zur Pastorale hat Webern als erhebliche Verlangsamung gelesen. Nur dann wohl ist das über zwölf Takte sich erstreckende Animando vernünftig auszuführen, da ja die Coda, in der es terminiert, nur als quasi Stretta bezeichnet ist: beschleunigtes Haupttempo zwar, aber doch Haupttempo. Intrikat ist in der Stretta die Klangdisposition der Blechbläser, deren dreistimmige Einsätze sich kreuzen. Gegen die schneidenden Trompeten und die Schwere von Posaunen und Tuba fallen die Hörner ab, wofern man nicht die Stärken sofort ausgleicht: die Hörner fortissimo anblasen, die anderen Blechinstrumente nötigenfalls mäßigen. Beim Schluß, etwa von Takt 250 an, das Tempo in der Hand behalten, so daß das Ende ohne Gewaltsamkeit stentato wirkt. Ist die ganze Stretta nach Takt 245 sehr in Schwung gekommen, so mag man getrost bei der Kadenz Takt 252 etwas ritardieren, dem Nachdruck des Definitiven zuliebe.
Der zweite Teil steigert die virtuosen Anforderungen; die interpretativen sind geringer als im ersten. Darum mag Grundsätzliches genügen und dann die Erörterung von ein paar kritischen Einzelheiten. Der erste Satz des Teils, die auskomponierte Kadenz, ist in weitem Maß aus den Spielweisen des Soloinstruments entwickelt; darum ebenso wie wegen des offenbaren programmatischen Vorwurfs schwer zu verfehlen. Berg hat die Riesenkadenz in eine dreiteilige Architektur gebannt, weit sinnfälliger sie durchkonstruiert als die wilde des Kammerkonzerts. Zu realisieren ist die Einheit des Improvisatorischen und des Konstruktiven. Dafür enthält das Komponierte die Faustregel: improvisatorisch ist die Solostimme, fest gefügt meist der Orchesterpart. Prinzipiell spielt das Orchester einigermaßen streng, symphonisch, die Geige frei; etwa so, wie zeitgenössische Berichte es von Chopin melden, dessen linke Hand im Tempo geblieben sei, während die rechte rubato darüber sich erging; auch die Reminiszenz an die Praxis des Jazz braucht man nicht zu scheuen. Daß dabei Solist und Orchester nicht aneinander vorbei oder gegeneinander musizieren, läßt sich bewerkstelligen, indem der Solist, der minutiös bezeichneten Phrasierung folgend, auf rhythmische Zielpunkte hinspielt, wo man jeweils genau zusammensein muß, dazwischen aber seinem Impuls so weit sich überläßt, wie es nur möglich ist, also wo nicht etwa die Gestalt der Orchesterkontrapunkte auch von ihm buchstäbliche Beachtung der Zählzeiten verlangt. Die Einwürfe des Orchesters in Takt 7 sind thematisch und wiederholen sich dreimal, bis sie von Takt 13 an sich auflösen; also nicht zufällige Schläge einer Rezitativbegleitung sondern so präzis, daß die ganze Gruppe bis zum Stropheneinsatz vor Takt 15 als in sich symmetrische Form sich konstituiert. Insbesondere die Hörnerakkorde in Takt 13 unter der Solostimme nicht vag. Ebenso ist die Stimme des Saxophons und der Klarinetten von Takt 15 an thematisch. Der Solist soll, nach Bergs Vorschrift, die Bläser durchlassen; leicht verwischt sich die Phrasenendung Takt 16/7.
Die Hauptschwierigkeiten fürs Zusammenspielen bietet der mit Takt 23 beginnende Abschnitt molto ritmico. Ihn hat Berg – seltene Ausnahme in seinem oeuvre – über einem eintaktigen rhythmischen Modell errichtet, das nach der Idee unverrückbar starrer Drohung obstinat sich wiederholt. Formal wird dies Überdeutliche vom anderen Extrem, der monologisch phantasierenden Geige, balanciert. Auf dem Papier sieht der Rhythmus simpel genug aus. In der Aufführungspraxis schwankt immer wieder der letzte, um ein Sechzehntel nachschlagende Akkord. In den Fortsetzungen klappt er vielfach schon auf 3 vor oder verspätet sich um ein Sechzehntel und kommt aufs letzte Achtel. Der Rhythmus ist dem Orchester zunächst zu demonstrieren, dann peinlich darauf zu merken, daß er sich nicht allmählich aufweicht, zumal wenn ihn von Takt 35 an die Sologeige intoniert. Die Verpflichtung der Geige, auf Eckpunkte hin nach dem Maß der Phrasierungszeichen – Berg schreibt häufig Luftpausen – zu musizieren, bezieht sich auf den Anfang des Feldes; den ersten Taktteil der Geige, im Gegensatz zum Orchester, bis zu Takt 35, mit Ausnahme von Takt 32, niemals akzentuieren. Die Betonungen fallen vielmehr auf die kritischen Noten jeder Phrase, unabhängig von der Takteinteilung. Von Takt 35 an der Solist so exakt wie das Orchester zuvor; improvisatorisch ist nun eher die Begleitstimme der Baßklarinette, der Fagotte und gegebenenfalls der Verstärkung von Saxophon und Klarinette6. Aber eine Orchesterstimme kann und soll nicht ebenso rubato gespielt werden wie die eines Violino principale. Immerhin läßt sich das Improvisierende wenigstens andeuten, indem man die längeren Noten aushält, die Sechzehntel acceleriert. Die Antizipation des Choralanfangs Takt 43 trotz des col legno verständlich; ebenso das anschließende Zitat des zweiten Trios aus dem ersten Teil, von Takt 44 an. Das ist nicht ganz leicht, denn die Geige spielt weiter poco marcato den thematischen Hauptrhythmus, und die Triomelodie der ersten Flöte hat mit der zweiten Stimme der Oboe zu kämpfen; diese und die Geige sind dennoch der Flötenstimme unterzuordnen. Das poco Scherzando der drei Takte von 54 an so wenig outrieren, wie das Liberamente im ersten Teil; die orgelähnliche Episode calmando tranquillo nicht schon am Anfang von Takt 61 adagio, sondern so weit das Haupttempo nachfühlend, daß man in das folgende Accelerando ohne viel Umstände wieder hineinkommt.
Die Sektion von Takt 64 bis 95 ist eine Kadenz in der Kadenz, deren innerste Zelle. Die Pizzicati, mit denen die Sologeige ihre eigene arco-Melodie von Takt 68 an begleitet, sehr rhythmisch, so mühsam es auch ist; die ganze Stelle hat etwas Tickendes, als zählte eine Uhr mit, das darf nicht versäumt werden. Ebenso die Pizzicati in Takt 71 nachschlagend als klare Synkopen.
Über den vierstimmigen Kanon von Takt 78 an, das zentrale Stück der Kadenz, könnte man stundenlang brüten. Voll befriedigend, will sagen, so, daß man die Imitationen wirklich wahrnimmt, kann ihn die Sologeige kaum vortragen. Aber es wäre Berg nicht fremd, wenn er gerade das Gequälte, die Grenze des eben noch Ausführbaren Streifende gewünscht hätte, so wie eine Notiz in der Partitur einmal von einer absichtlich exponierten Orchesterstimme spricht; in anderen Zusammenhängen äußerte sich Berg in solchem Geist. In der Komposition konzedierte er allerdings die Alternative einer Aufteilung des Kanons zwischen dem Solisten und einer Solobratsche. Offenbar schwankte er selber, im Namen von Hoffnung wider die Hoffnung, zwischen der Idee, an der Wendestelle des Konzertante ins Absurde zu steigern, und dem Mahlerischen Primat der kompositorischen Deutlichkeit. Heute gebührt doch vielleicht dem letzteren der Vorzug und darum der duettierenden Notlösung. Der Schluß der Sektion ist von höchst seltsamem, inspiriertem Ton: Koketterie am Rande des Abgrunds, wie wenn der Tanz den Tod beschwichtigen wollte, den er zugleich fühlt; bei diesen Takten bedarf es aller Phantasie. Takt 90 wieder sehr rhythmisch, damit nicht der Anschein entsteht, der Solist stimme buchstäblich sein Instrument; Takt 91 das Arpeggio der Klarinetten so leicht wie überhaupt nur möglich; der Solist wartet, bis die Klarinettenterz klar sich gebildet hat, ehe er weitergeht; auch dann ja nicht zu hastig. Vom Ende des Takts 93 an die Rhythmen der Klarinette und der Sologeige genau ineinanderpassen; diese wartet auf jene und umgekehrt, beide aber zögern nicht.
In der drastischen Schlußpartie des Allegros ist allenfalls vor Mißverständnissen zu warnen, wie der Ungeduld des Geigers, wenn er Takt 104 den Hauptrhythmus übernimmt; dann nicht drängen, sondern pesante, also eher innehalten. Wird das letzte Achtel jenes Rhythmus, das einen staccato-Punkt trägt, seinem vollen Wert nach ausgehalten, hilft das bereits gegen Schwankungen. In den allerletzten Takten des Allegros von 134 an darauf achten, daß trotz der tiefen Lage und des tenebroso-Charakters die thematischen Vorgänge distinkt sich mitteilen. Die Bratschenstimme, die mit dem Auftakt zu 135 anhebt, ist auch rhythmisch bereits das getreue Abbild der folgenden Choralmelodie. Danach das Tempo disponieren; beim Ende des großen Ritardandos gleichen die Viertel hier genau den folgenden Halben.
Die Choralvariationen sind
abermals relativ einfach; der Klang ist vorm Dickflüssigen zu
bewahren. Der Satz reizt in seiner Entwicklung ein wenig dazu, daß
man ihn rascher spielt, als er gedacht ist, nämlich trotz der
adagio-Viertel eigentlich in Halben; aber Berg mahnt immer wieder
zum langsamen Zeitmaß. Ergiebig für die Interpretation, daß Bergs
Formgefühl den Dualismus der allegro-Kadenz in gewisser Weise auch
in die gänzlich veränderte Situation der archaisch strengen
Choralvariationen transponiert. Das Cantus firmus-Prinzip ist dem
der entwickelnden Variation der zweiten Wiener Schule einigermaßen
entgegen. Bergs Nervosität hat darauf angesprochen, und er hat nach
seiner Weise das Unvereinbare vereint. Darin muß die Interpretation
ihm folgen. Der Gegensatz der festgefügten Orchesterparts zur
improvisierenden Solostimme in der Kadenz setzt sich fort in dem
zwischen dem »Hauptrhythmus« des Cantus firmus und den
Kontrapunkten, die freilich nun aus der gebundenen Form nicht mehr
ausbrechen. Der wichtigste ist der Trauergesang der Sologeige, der
Takt 164 beginnt, bis zur Episode des Kärntnerlieds. Das
Interpretationsproblem ist von Bach her vertraut. Das Choralthema,
oder wenigstens sein Rhythmus, ist überdeutlich, zumal, faute de
mieux, mehrfach die Posaune es vorträgt. Wie bei einem Fugenthema
darf darum die Aufführung nicht unterstreichen, was von selbst sich
Aufmerksamkeit verschafft, sondern muß sich auf die Kontraste
konzentrieren. Kontrast ist die Formfunktion jenes Klagegesangs der
Sologeige; stets nähern bei Berg dramatisch-expressive und
konstruktive Ideen bis zur Schwelle des Ununterscheidbaren sich
einander. Die Bezeichnung meint also nicht: hervortretend,
sondern erinnert bloß ans Gerüst; die Interpretation gilt dem, was
dagegengesetzt ist. Im Bachchoral selbst alterniert das Adagio in
den von Berg harmonisierten oder vielmehr sogleich
kontrapunktierten Abschnitten mit dem rascheren Tempo der jeweils
in der Bachischen Originalfassung übernommenen Fermaten, als ob die
Komposition dieser Dreiklänge ein wenig sich schämte und
unauffällig über sie hinweg möchte. So ist das auch wiederzugeben,
nicht aus den tonalen Zwischenspielen ein peinlicher Effekt zu
ziehen. Schwierig der Anfang der ersten Variation Takt 158. Hier
müssen die Choralstimmen tatsächlich etwas markiert werden, wegen
des Kanons zwischen den Celli und der Harfe; die gedämpften Hörner
so leise bleiben, daß die Harfenstimme durchdringt. Das schließende
Achtel a der Sologeige in Takt 158 genau mit dem des ersten Horns
koinzidierend. Die Stimme erlischt in ihm; der kleine Notenwert
meint kein punkthaftes Hervortreten sondern das Gegenteil.
Von Takt 170 an nicht accelerando; die Sologeige verstärkt die Spannung, wenn sie im gemessenen Tempo verharrt. Etwas vorwärtsgehen darf man vielleicht beim appassionato bezeichneten Takt 184, um rückwirkend ein Gefühl von Beschleunigung zu bewirken; schon vom Höhepunkt Takt 186 an gewiß nicht weiter drängen. Allenfalls fließt unmerklich hier das Tempo etwas mehr; von dort aus ins Haupttempo zurückmusizieren. Es allzusehr anzutasten, sehen Dirigent und Solist wohl darum sich genötigt, weil der Trauergesang der Sologeige bis 194 ohne jede Pause verläuft. Aber zur Gliederung bedarf es weniger grober Mittel: der aufmerksamsten Phrasierung. Atmen, ohne zu trennen, die Linie jedoch in sich so distinkt, als spräche die Violine. Mit jeder Endung sinkend und dann gleichsam neu anhebend; so schon das zweite Achtel von 166. Die Zäsuren differenzieren nach ihrer formalen Relevanz, nach Versen und Strophen; eine neue beginnt in 170, besonders groß ist der Einschnitt in 176; dann mag der Solist allmählich die Melodie, je mehr sie in Schwung kommt, in Einem vortragen. Sicherlich jenes Appassionato 184 nicht unverbunden. Den Schluß der Kärntnerweise hat Webern, ohne alle Bedenken, äußerst langsam genommen, mit unbeschreiblicher Wirkung. Die Authentizität der Aufführung entscheidet sich danach, ob sie die Probe dieser Stelle besteht, ganz mit ihr überzeugt und den wohlweisen Einwand des Sentimentalen gar nicht erst aufkommen läßt: gerade der asketische Webern setzte in solchen Augenblicken, auch bei Mahler, das schrankenlose Gefühl ein. Die Coda hat dann nochmals ihre Tücken in den einander abnehmenden Einsätzen von Takt 221 an. Die Aufgabe ist doppelt: nicht nur müssen die Instrumente sich Zeit lassen und, wie Berg darüber schreibt, warten, sondern wiederum auch keinen Hiatus erlauben. Deshalb vom Auftakt zu 223 an die Sologeige zusammen mit den Solostreichern bis Takt 227 allein probieren, dann erst mit den Choralstimmen der Bläser. Die sehr exponierten Harmonien von Hörnern, Posaunen und Tuba zum höchsten g der Geige aufs sorgfältigste intonieren; die geringste Trübung würde alles beflecken. Aufmerksam gemacht sei auf die Folge der drei Schläge von Tamtam, freihängendem Becken und Gong, eine unike Klangfarbenmelodie. Sie färben den B-Dur-Dreiklang mit der sixte ajoutée derart um, daß den Zuhörern das Behagen an der Verklärung nach dem Tod vergeht. Überhaupt ist in dem Konzert das Schlagzeug, das als Medium eigenen Wesens in der Schönbergschule im allgemeinen zurücktritt, außerordentlich bewußt und erfahren behandelt und verdient liebende Pflege.
Das gibt Anlaß zu ein paar Worten über das Orchester des Werks. Die Besetzung geht kaum über die im Wiener Klassizismus übliche hinaus. Trotzdem ist das Tutti, dank der Bergischen Setzweise, im Allegro zur mächtigsten Expansion fähig: sie sollte die Aufführung nirgends, auch nicht zugunsten des Solisten, eindämmen. Nicht minder erstaunlich jedoch die orchestrale Zartheit im gesamten Andante des Beginns, auch in vielen Episoden des zweiten Teils. Bei solchen Phänomenen wird gern von kammermusikalischer Orchesterbehandlung geplappert. Wie jede abgebrauchte Phrase ist auch diese zugleich falsch. Die Klänge sind viel homogener als die solistischer Ensembles; auffallend, wie sparsam Berg im letzten Stück, das er vollendete, mit entlegeneren Mischungen operiert. Nur ganz wenige Kammerstellen finden sich, wo die Klangtotale nicht vorgeordnet ist, sondern der Klang aus der Simultaneität selbständig geführter Einzelinstrumente und aus der Kombination ihrer timbres aufsteigt. Der Klang ist durchweg, keineswegs bloß im Tutti, ungebrochen, rund, so integriert wie nur die Struktur durch die kleinsten Übergänge. Sein Spezifisches aber hat er daran, daß er trotzdem keinen Augenblick an den neudeutsch-romantischen erinnert. Die klassische Orchesterbesetzung sagt etwas. Als Anton Webern die 1931 wieder entdeckten deutschen Tänze von Schubert instrumentierte, kommentierte er mündlich seine Arbeit: ihm habe etwas wie die Apotheose des klassischen Orchesters vorgeschwebt, an dessen Umfang er sich hielt. Er ergriff dessen typische, schon zu Schuberts Zeit eingeschliffene Möglichkeiten, aber vom Standpunkt des emanzipierten Klangs seiner Epoche her; er machte die überkommene Palette dem feinsten kompositorischen Geäder zunutze. Berg ließ, ein paar Jahre später, ebenfalls vom klassischen Orchester sich leiten, aber nicht mikrologisch, sondern in der Koloristik geräumiger Partien. Gleich dem alten Orchester der zweifachen Bläser – nur die Hörner sind vierfach, und zu den zwei Posaunen fügt er die Tuba hinzu – will die Partitur unmittelbar den geschlossenen Klangspiegel, nur ausnahmsweise die Klangfarbenmelodie. Aber auch Füllungen, vor allem liegende Akkorde in den Mittelstimmen, werden vermieden. Wie die Symphonien des Wiener Klassizismus ist das Konzert real ausinstrumentiert, nirgends erklingt mehr, als erklingt, nichts mahnt mehr an die Klavierpedale, nicht einmal die Hörner. Bei aller Zartheit der piano-Felder, dessen des ersten Andantes und des zweiten Trios, bleibt es ein durchaus chorisches, wenn man will vertikales Orchester; es irisiert mehr in aquarellhaft gepinselten Klangflächen, als daß es sich konturierte mit einander ablösenden Stimmen; die Rücksicht auf den Solisten mag das veranlaßt haben. Dabei wechseln aber doch, in der Sukzession, die Valeurs häufig, wie es bereits die Motivarbeit im Klassizismus vorbereitete, nur viel lockerer. Die Klangeinheiten werden kürzer, dafür aber nie so schroff einander gegenübergestellt wie ehedem Streicher und Bläser und deren Familien. Auch die Verwendung des Streichertuttis ist ökonomisch. Der klassizistische Orchesterklang wird beschworen aus allen späteren Erfahrungen, die Wagnerische inbegriffen, ohne daß die Desintegrationstendenz hervorträte, die parallel ging mit der zunehmenden Integration des Klangs. Die Klangtotale gewinnt dadurch etwas ruhevoll Schimmerndes, nirgends jedoch Impressionistisches. Sie komponiert sich nicht aus Farbreizen sondern allein aus den Sonoritäten der strukturellen Flächen, unmerklich vibrierend durch Harfe und Saxophon, belichtet durchs Schlagzeug, transparent und gleichwohl in sich zusammengefaßt. Unter den Aufgaben einer Interpretation, die den Text verwirklicht, indem sie ihn versteht, ist gewiß nicht die letzte, daß der Dirigent diesen Klang inwendig hört und die Aufführung nach seiner Idee einrichtet, anstatt dem Zusammenspiel zu vertrauen, wie es sich fügt. Ohne solche Imagination wäre jener Klang dem Zufall anheimgegeben.
Fußnoten
1 Vgl. Über die musikalische Verwendung des Radios, S. 394f.
2 Der Widerspruch erklärt sich dadurch, daß die abschließenden Choralvariationen in Halben empfunden sind, der erste Satz aber in Vierteln. Jene Halben wären äußerst langsames Adagio, die Viertel aber sind Andante, keinesfalls zu verschleppen.
3 Bei weiträumiger und metrisch mannigfaltiger Musik höchsten Formniveaus sind metrische Analysen für den Dirigenten conditio sine qua non. Solange er bloß schlägt, anstatt die Phrasen und ihre Längen auseinanderzuhalten, kann nichts Sinnvolles sich realisieren. Webern nahm es damit überaus streng; so hatte er Mahlers Kindertotenlieder nach ihren metrischen Irregularitäten aufs genaueste schematisiert und scheute sich nicht, die Ergebnisse bei den Proben auch dem Orchester zu kommunizieren; seine Aufführung im Frankfurter Rundfunk dürfte nie überboten worden sein. Es kann Dirigenten gar nicht dringend genug empfohlen werden, metrische Aufrisse herzustellen. Beethoven registriert schon in der Bezeichnung des Scherzos der Neunten Symphonie die Notwendigkeit, indem er Zwei- und Dreitakter benennt; unterdessen hat sie sich eminent gesteigert.
4
Ernst Krenek spricht in seiner Analyse der Altenberglieder aus
Reichs Buch von einer »kleinen rührenden Zeichnung« im
Manuskriptentwurf, durch die Berg versuchte, seine Musik vor der
Tücke des Objekts und der Subjekte zu sichern. Nicht minder rührend
ist eine Notiz in der Partitur der Reprise des ersten Trios, die
die Erinnerung an Bergs Person so lange bewahren könnte, wie seine
Musik dauert. Er vermerkt im Part der Sologeige, der als
bezeichnet ist, »Tuba durchlassen«. So sagte das Kind im Zoo:
»Mutti, wir wollen gehen, ich glaube, der große Elefant fürchtet
sich vor mir.«
5 Die rustico-Gestalt von Takt 192 an nötigt zu textkritischen Überlegungen. Sie ist, über vier Takte, als flageolett bezeichnet, ohne daß über die Ausführung des Flageoletts entschieden wäre. Die Notenköpfe sind normal, nicht die eckigen. Man wird daraus ebenso wie aus dem musikalischen Zusammenhang folgern dürfen, daß Berg den realen Klang notierte. Das Pfeifen aberwitziger Höhen, das sonst sich vernehmen läßt, erlaubt nicht einmal mehr das Urteil darüber, ob sich harmonisch ein Sinn ergibt oder nicht. Klingt die Violinstelle, wie sie geschrieben ist, so entspricht das übrigens der analogen Stelle von Takt 114 an. Wie der Geiger die geschriebenen Töne erzielt, ist ihm überlassen.
6 In der alten Partitur Takt 42 hat Webern das e der ersten Posaune auf dem dritten Viertel mit Recht in g korrigiert.