Zu Ludwig von Fickers Aufsätzen und Reden*
Den Aufsätzen und Reden Ludwig von Fickers eigene Worte voranzustellen, kommt mir nicht recht zu. Ich durfte den im höchsten Alter Verstorbenen nicht mehr selbst kennenlernen, obwohl während der letzten Jahre, dank einer gemeinsamen Freundin, brieflicher Kontakt sich hergestellt hatte. Seine und meine Position – ein recht kruder Begriff – waren weit voneinander entfernt. Fickers Katholizismus, der wie ein selbstverständlicher Äther jeden Satz durchdringt, den er geschrieben hat, ist mit dem, was ich zu denken suche, unvereinbar. Trotzdem fühlte ich zu Ficker so viel Sympathie, daß ich vielleicht keine Grenze überschreite, wenn ich etwas über ihn sage. Sein Name, und der »Brenner«, sind mir seit frühester Jugend vertraut; ich habe gewußt, daß er einer der wenigen Freunde Trakls war, ohne den ich mir meine geistige Existenz nicht vorstellen kann; auch sein Verhältnis zu Karl Kraus war mir gegenwärtig. Vor allem jedoch habe ich in jeder Äußerung von ihm, und in seiner gesamten Haltung, etwas gespürt, auf das ich ansprach, ohne daß dadurch die Gegensätze sich verwischt hätten. Gerade das, eine Gemeinsamkeit von Extremen, die keiner mittleren Toleranz bedarf, ja sie ausschließt, zog mich zu ihm hin. Es läßt sich das kaum auf einen allgemeinen und vagen Begriff von Humanität abdestillieren.
Bemüht, es auszudrücken, erinnere ich mich an eine Formulierung Benjamins über Nietzsches Freund Overbeck: »Solche Männer, in denen man oft nur eine Art wohlmeinender Helfer, wenn nicht gar Interessenvertreter gesehen hat, sind unendlich viel mehr: Repräsentanten einer einsichtsvolleren Nachwelt. Sooft sie auch die primitivste Sorge für jene übernehmen, deren Rang sie ein für alle Mal erkannten, niemals übertreten sie die Schranken, die sie als Stellvertreter zu wahren haben.« Zu diesen Gestalten rechnet Ficker. Er hat mit einer Hellsicht und Unbeirrtheit, die ihresgleichen sucht, Menschen sich ausgewählt, deren Wesen mit dem Bestehenden zusammenstieß und deren Kraft darüber hinauswies; Stärkere und Schwächere in eins. Zu ihren Lebzeiten hat er an ihnen etwas von dem gutgemacht, was das Bestehende, und die Unversöhnlichkeit ihres Naturells mit dessen Spielregeln, ihnen antat. So tief ließ er davon sich leiten, daß er unbekümmert ums eigene Schicksal, vermöge seiner gegenwärtigen Hingabe ans Potential von Zukunft, selbst die Härte und Kälte des Bestehenden auf sich nahm; der Vornehme hat darüber kein Wort verloren. Inspiriert war er von dem, wofür Kraus die Verse fand: »Nichts ist wahr / und möglich, daß sich Anderes ereignet.« Das trug ihn über alle Enge und Armseligkeit, über allen Provinzialismus hinweg. Ein utopischer Impuls lebte in ihm, um so großartiger, als er inmitten einer Ordnung sich regte, die seiner Entfaltung nicht günstig zu sein pflegt, und die er gleichwohl als substantiell empfand. Er hatte die Fähigkeit der Erweiterung inmitten seiner Bestimmtheit. Vieles an dem Protestanten Trakl, in dessen Lyrik die katholische Kulturlandschaft gleichwie nach einer Explosion sich darstellt, muß ihm fremd gewesen sein und vollends die Strenge von Kraus, die kein gestuft Vermittelndes duldet. Aber Ficker hat das ihm Konträre um seiner Wahrheit willen unwillkürlich sich zugeeignet.
Mir wurde das mich selbst erstaunende und tröstliche Glück zuteil, stets wieder nahe Berührung zu Trägern jener Überlieferung zu finden, die ich aus innerem Zwang kündigen mußte. Am Namen Fickers haftet eine der spätesten und eindringlichsten Erfahrungen dieser Art: die eines traditional fühlenden Menschen, der, weil ihm verbindlich ist, was die Tradition an Formen und Normen ihm zuträgt, darüber sich erhebt und in vielem einem erst sich bildenden Besseren reiner hilft als der unverdrossene, seiner selbst sichere Fortschritt. Wenige wüßte ich, in denen Gewesenes und Hoffnung so innig sich durchdrungen hätten; wer will, daß es anders werde, muß wollen, daß es weiter seinesgleichen gebe. Darum ist die Herausgabe seiner Aufsätze und Reden mehr als der Dank an den Selbstvergessenen: ein Stück emphatischer Erinnerung im Zeitalter universalen Erinnerungsverlusts. Er bringt dem gegenwärtigen Bewußtsein ein Moment zu, dessen es erst recht bedarf angesichts der Unwiederbringlichkeit des Vergangenen: aktuell um seiner Unaktualität willen.
Fußnoten
* Vgl. Ludwig von Ficker, Denkzettel und Danksagungen. Aufsätze, Reden. Hrsg. von Franz Seyr. München 1967.